Sozialhilfe: Solidarität statt Willkür

Medienmitteilung

Die Sozialhilfe federt heute zahlreiche Risiken ab, welche von keiner vorgelagerten Versicherung abgedeckt werden. Gleichzeitig ist sie einem erhöhten Druck für Kürzungen ausgesetzt. Anstatt die Sozialhilfe zum Sündenbock für steigende Kosten zu stempeln, braucht es endlich Reformen, welche der Willkür im Sozialsystem einen Riegel schieben und Menschen besser vor Armut schützen. Im soeben erschienenen Sozialalmanach von Caritas Schweiz diskutieren namhafte Expertinnen und Experten die Rolle der Sozialhilfe und wie sie den Herausforderungen begegnen kann.

Das System der sozialen Sicherheit in der Schweiz ist ein Flickwerk. IV, ALV und Sozialhilfe haben sich strukturell weitgehend unterschiedlich und unabhängig voneinander entwickelt. Die Sozialhilfe, die heute die Existenz von 275’000 Menschen in der Schweiz sichert, ist zusätzlich fragmentiert: Je nach Kanton ist sie kommunal, regional, kantonal oder in Mischformen organisiert. Das schafft nicht nur Ungleichheiten für Betroffene, sondern Ungleichheiten innerhalb des Systems. Einige Gemeinden sind übermässig stark von Aufwendungen für die Sozialhilfe belastet, was das Instrument der Sozialhilfe anfällig macht für Polemiken und ihre Akzeptanz schmälert – gerade, wenn kein interkantonaler Lastenausgleich besteht. Mit der föderalistischen Ausgestaltung der Sozialhilfe geht zugleich eine fehlende Verbindlichkeit einher – die Kantone sind es, die über Voraussetzungen, Ausgestaltung und Höhe der Sozialhilfe bestimmen. Auf Verfassungsebene ist sie ungenügend abgestützt.

Realitäten auf dem Arbeitsmarkt werden verkannt

Das öffnet drastischen Kürzungsvorschlägen Tür und Tor und heizt unter den Gemeinden und Kantonen einen Wettbewerb nach unten an. Zwar bestehen Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), an die sich die meisten Kantone halten. Aber wie diverse Vorstösse zu einer Reduktion der Grundbedarfsleistungen zeigen, besteht keine Garantie, dass nicht plötzlich eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird – obschon der Grundbedarf in den vergangenen 20 Jahren bereits mehrfach gesenkt wurde. Die Angriffe auf die Sozialhilfe sind durchdrungen von der Idee, dass sich Arbeit wieder lohnen müsse, statt dass Betroffene dazu verführt würden, auf Kosten des Staates zu leben. Das verkennt nicht nur die Realitäten auf dem Arbeitsmarkt, der gerade Niedrigqualifizierten den Wiedereinstieg oft verunmöglicht, sondern ignoriert auch die Tatsache, dass ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden Kinder sind. Rund ein Viertel aller Sozialhilfebeziehenden sind zudem Working Poor: Menschen, die einen Job haben, aber zu wenig verdienen, um davon leben können.

Neue Armutsrisiken auffangen

Es gilt diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten und stattdessen das System der sozialen Sicherheit so auszugestalten, dass neue Armutsrisiken, die mit dem Wandel der Gesellschaft und der Wirtschaft zu tun haben, adäquat aufgefangen werden. Zu diesen Risiken gehören nicht nur prekäre Arbeitsbedingungen, sondern auch Armut als Folge von Scheidung oder das Risiko, alleinerziehend zu sein. Caritas Schweiz fordert eine gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämpfung, die von Bund, Kantonen, Gemeinden und der Wirtschaft mitgetragen wird und in der die Sozialhilfe eine zentrale Rolle spielt. Dass die Zahl der Armutsbetroffenen in der Schweiz gegenüber dem Vorjahr um zehn Prozent zugenommen hat, ist ein Armutszeugnis und zeigt, wie dringlich eine Sozialhilfe ist, die sich an Solidarität orientiert statt Armutsbetroffene der Willkür aussetzt.

Der soeben erschienene Sozialalmanach von Caritas Schweiz diskutiert deshalb nicht nur mögliche Reformvorschläge und eine bessere Verankerung der Sozialhilfe im System der sozialen Sicherheit. Der Sammelband hat auch zum Ziel, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie stark die Sicht auf das Instrument der Sozialhilfe durchdrungen ist von der Ideologie, das Individuum selbst für das Scheitern verantwortlich zu machen und strukturelle Faktoren wie Herkunft, Vermögensverhältnisse oder soziales Kapital auszublenden. Der rechtspopulistische Diskurs über die Sozialhilfe, der mit Begrifflichkeiten operiert wie «Sozialschmarotzer» oder «soziale Hängematte», hat massgeblichen Anteil daran, dass Armutsbetroffene in der reichen Schweiz immer stärker unter Druck geraten.

Der Sozialalmanach 2020 ist unter dem Titel «Eine Sozialhilfe für die Zukunft» erschienen und kann bestellt werden unter: info@caritas.ch oder www.caritas.ch/shop

Caritas
23. Januar 2020 | 10:24