Selbstlos und erzkonservativ

Mutter Teresa, die «Missionarin der Nächstenliebe», wird am Sonntag in Rom heiliggesprochen. Erinnerungen an eine Begegnung in Indien und ihr umstrittenes Wirken. Vor der Haustüre war es bereits dunkel. Die schlichten Holzmöbel drückten unbequem im Rücken, als Mutter Teresa damals im Januar 1996 endlich eine halbe Stunde Zeit fand, um mit ein paar Reportern zu sprechen. Auf den ersten Blick wirkte der «Engel der Armen», wie sie bewundernd genannt wurde, etwas zerstreut. Aber sie entpuppte sich – ein Jahr vor ihrem Tod – schnell als sprühendes Energiebündel samt unerschütterlichem Tatendrang und erzkonservativen Ansichten. «Wir sind hier, um zu helfen. Uns interessiert nicht, warum die Leute arm sind», beschrieb die Gründerin des Ordens ihre Devise und wackelte mit ihrem leicht verkrüppelten dicken Zeh in den Riemensandalen. Kalkutta, schondamalseineMillionen- Metropole im Osten Indiens, stand für das schier unvorstellbare Elend, das einst als Synonym für Südasien galt. Verwaschene und vernachlässigte Fassaden, baufällige Bauten, Zehntausende von Menschen, die nachts auf aus der Kolonialzeit stammenden Fussgängerwegen übernachteten.

St. Galler Tagblatt
1. September 2016 | 08:06