«Hürlimann ist ein Herrensöhnchen»

Johannes Duft, Alt-Stiftsbibliothekar von St. Gallen, ist eine Berühmtheit wider Willen.

Dem Schriftsteller Thomas Hürlimann, seinem Neffen, diente er als literarische Vorlage für eine wenig schmeichelhafte Romanfigur. Die Kränkung sitzt tief.

«Ich habe die Stiftsbibliothek aus dem Dornröschenschlaf erweckt», sagt Johannes Duft ohne falsche Bescheidenheit. Von 1948 bis 1981 stand er ihr vor. Während dieser Zeit wurde sie renoviert, ausgebaut und zu einem Zentrum der mittelalterlichen Forschung in Europa gemacht. «Die Menschen sind grausam, damals wie heute, aber im Mittelalter hatte die Bevölkerung noch einen Glauben», sagt der 88-jährige Mann. Ein paar Schritte von seinem einstigen Wirkungsfeld entfernt wohnt er heute in der Kursana-Residenz über dem lebhaften Betrieb einer grösseren Migrosfiliale. Dort hat er eine Zweizimmerwohnung bezogen, und sie mit seinen schönen alte Möbel ausgestattet. Sakrale Gegenstände sind auch in seinem Schlafzimmer zu bewundern.

Fräulein Stark
Mit ihm ist den ganzen Tag Maria-Theresia Stark. Sie hat eine kleine Wohnung in derselben Residenz. Zu kochen braucht sie nicht mehr; sie isst mit Johannes Duft zusammen im Speisesaal. Die beiden sind gleich alt und nun schon seit 57 Jahren, seit sie bei Duft Haushälterin wurde, unzertrennlich. Sie umsorgt ihn wie eh und je, im Badezimmer hat sie sein imposantes Pyjama an einem Bügel gespannt. «Bis zu unserem 80. Geburtstag siezten wir uns – und noch heute benutzen wir nach alter Gewohnheit das Sie häufiger als das Du.»

Johannes Duft ist betrübt über das Buch, das sein Neffe Thomas Hürlimann, der Sohn seiner Schwester, geschrieben und für dessen Titel er sich sogar des Namens der treuen Gefährtin bedient hat: «Fräulein Stark». Im Roman liegen er und sie «seit längerem im Grab» – aber eigentlich ist klar, wen der bekannte Schriftsteller mit dem Stiftsbibliothekar Katz meint, schliesslich gab es damals nur den einen Stiftsbibliothekar in St. Gallen. Und dieser wehrt sich nun ganz lebendig gegen viele «masslose Verfälschungen» im Buch seines Neffen. Schon kurz nach der Veröffentlichung des Bestsellers hat Duft auf elf Seiten «Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch Fräulein Stark von Thomas Hürlimann» herausgegeben und nennt seinen Neffen ganz unverblümt ein «verwöhntes Herrensöhnchen». Zehn Jahre lang, sagt Johannes Duft, sei Hürlimann auf Kosten seines Vaters – Dufts Schwager – an Universitäten «herumgehangen», ohne sich je zu einem Abschluss zu bequemen. Dufts Groll geht noch weiter: Er ist überzeugt, dass der Gram seines Schwagers über Sohn Thomas zum Tode von Vater Hürlimann beigetragen habe. Thomas Hürlimann hätte seinen Vater, den Bundesrat, – ebenfalls in dichterischer Freiheit – im Roman «Der grosse Kater» unzutreffend und nicht eben vorteilhaft beschrieben.

Der Wissenschaftler
Die Betrübnis über den Neffen hindert Duft aber nicht an seinem Schaffensdrang: Eben erst hat er ein Buch herausgegeben. Es ist sein dreissigstes und letztes, wie er meint, was man ihm aber nicht recht glauben mag. Das Buch heisst «Kostbar ist der Tod». Er habe es seiner schwindenden Lebenskraft abgerungen und widmet es seinen «drei treu besorgten Ärzten». Es sind Geschichten vom Sterben im mittelalterlichen Galluskloster, vom individuellen Tod vor allem, der versöhnlich, einsam, öffentlich und vieles mehr sein kann. Denn, so Duft, «wie jeder Mensch seinen eigenen Tod stirbt, so erlebt auch jeder zuvor sein eigenes Leben. Kostbar wie das eigene Leben ist deshalb auch das eigene Sterben.» Oder, allgemeiner gesagt: Nur das Individuelle kann für sich in Anspruch nehmen, richtig und wahr zu sein.
Immer wieder kommt im Gespräch der Historiker zum Vorschein, der es mit der Wahrheit genau nehmen möchte, sich auf Beweise stützt. Seine Doktorarbeit in Theologie befasste sich mit der sankt-gallisch-schweizerischen Kirchengeschichte. Was Wunder, dass er von dichterischer Freiheit, die sogar noch nächste Familienangehörige verunglimpft, nicht viel hält.

Auf die Frage, ob er das, was gleich auf der ersten Seite des Hürlimann-Buchs zu lesen ist, «Im Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek, und erst an dritter und letzter Stelle stehen wir, Menschen und Dinge», wirklich so gesagt habe, antwortet er: «Nein, für mich kommen zuerst die Menschen.» Dass Gott über allem thront, dazu erübrigt sich für ihn jeglicher Kommentar. Auch auf die weitere Frage geht er ein: Hürlimann schreibt, die Hilfsbibliothekare hätten ihm erzählt, jeden Nachmittag durchleide der Stiftsbibliothekar das Karfreitagsgeschehen auf der Betbank. Er verfluche die Juden, «Oh, ihr Juden, warum habt ihr das getan?» Johannes Duft schüttelt den Kopf. Niemals habe er solches gesagt. Niemals habe er die Juden verflucht. Im Gegenteil, er achte sie sehr, habe wunderbare Freunde unter ihnen.

Dichterische Freiheit
Die ganze dramatische und teilweise tragische Familiensaga der Ahnen von Thomas Hürlimann sei vom Autor erfunden. Auch die Familie von Maria-Theresia Stark habe er tief verletzt, sagt Duft. Der Vater sei nicht «misstrauisch gegen die eigene Brut» gewesen. Nach dem Herztod seiner Frau ersetzte ihm die älteste Tochter Maria-Theresia die Mutter und im Stall einen Knecht. Auf weitere Schulbildung musste das intelligente Mädchen verzichten. Als Vater Stark wieder heiratete, nahm Maria-Theresia Haushaltstellen an und blieb mit der Familie so sehr verbunden, dass sie jeweils Geld von ihrem kargen Lohn heimschickte.

Und weiter im Text mit Berichtigungen: Der Schüler Thomas Hürlimann habe nicht, wie er im Buch so ausführlich und dichterisch frei schreibe, beim Onkel, sondern bei seinen Grosseltern in St. Georgen gewohnt. «In den Sommermonaten beschäftigten wir Schüler wie meinen Neffen mit dem Dienst an den Filzpantoffeln, in welche die Saalbesucher schlüpfen mussten, sowie Studenten für Führungen. Sexuelle Probleme mit dem Blick unter die Weiberröcke hatte keiner ausser dem verklemmten Hürlimann.» Duft fasst zusammen, dass er und Maria-Theresia Stark im Buch von Thomas Hürlimann nur die äussere Fassade seien, hinter welcher der Autor noch nach Jahrzehnten seine völlig belanglose Pubertät zelebrieren könne.

Viele Leser und Leserinnen sehen das anders: «Fräulein Stark» ist ein Bestseller geworden.