Gedenktag des Christuszeugen Stephanus

Der zweite Weihnachtstag provoziert. Alle Bilder von Frieden auf der Erde sind wie weggefegt. Kein Bild passt zu diesem Gedenktag. Man nehme einen Bilder-Rahmen und lege hinein ein leeres weisses Blatt. So lässt sich an markantem Ort im Kirchenraum präsentiert annähernd der Strom idyllischer Weihnachtsbilder unterbrechen. Wie ins kalte Wasser gestossen mag man sich dabei fühlen. Denn kaum aus festlichen Stunden aufgetaucht, trauen wir unseren Augen und Ohren nicht, wenn an diesem Tag (bereits wieder) der erwachsene Jesus zu Wort kommt: «Nehmt euch in acht vor den Menschen! Man wird euch ausliefern an Gerichte… Wegen mir werdet ihr… meine Zeugen … sein.». (Mt 10,17f.)[1] Die Festtags-Freude an der Krippe ist auf Anhieb wie weg, jedes Bild davon wie blankgefegt. Wird man vom christlichen Zeugnis je ein neues Bild zustande bringen? Im Kontrast dazu im Kirchenraum hingelegt stolpern alle über Steinhaufen als Zeichen des Vermächtnisses des gesteinigten Stephanus.

In kurzen Strichen malte Wilhelm Bruners zum Stefanitag sein Bild von der Szene, in die Stephanus geriet: «als sie / ihr geschrei / erhoben / hielten sie / sich die / ohren zu // als sie / den einen / zur stadt / hinaustrieben / hielten sie / wie ein mann / zusammen // als sie die ersten / steine / warfen / legten sie / die weißen / kleider ab / als sie / ihn trafen / schlossen sie / die augen // er öffnete / die augen / weit / und sah / den himmel / offen // auch / für sie»[2] Macht die Wahrheit dieses zweiten Weihnachtsages nicht fassungslos – wenn uns vom drastischen Lebensende des Stephanus erzählt wird? Dies ist keine Schönwetter-Botschaft, wenn hier einer merkwürdig ausflippt, aus seinem Rahmen fällt, den Himmel offen sieht und mit seinem Leben bezahlen muss. Wird uns hier die Weihnachtszeit versalzen?

Stephanus und sein Zeugnis helfen mir, vom Salz der Botschaft über Jesus aus Nazareth zu schmecken. Diese ist in Kap. 6, 7 und 81ff. der Apostelgeschichte überliefert und vergeht einem nicht wie zartschmelzende Schokolade auf der Zunge. Das Zeugnis, das Stephanus für Jesus gab, war getragen von einer Gnade und Kraft, die später noch in jedem Getauften wirken wird, wie sie in Maria wirkte, die voll der Gnade war. Wie Jesus stiess dann der Zeuge Stephanus auf Widerstand und wurde aus dem Weg geräumt. Das ist ein erster Zugang zu diesem Ersten Märtyrer – und jenen, die bis in unsere Zeit das Martyrium erlitten haben.

Der Sinn eines Martyriums ist uns wenig mehr zugänglich. Selbst Dietrich Bonhoeffer, den man unterdessen als ein Märtyrer unserer Zeit sieht, liebte das eigene Leben fast masslos. Dass wir uns bewegte Lebens-Geschichten erzählen lassen oder sie gar in Romanen lesen, gehört auch zur Wahrheit unserer Zeit und ist ein zweiter Zugang zum Festtag heute. Über unsere Zeit wird man in wenigen Jahren Romane lesen können. Wie das war mit dem Leben dieser von weltweiter Pandemie geprägter Tage, wie das war mit den Leuten, die sich an Weihnachten zum Fest trafen. Und wie das kurz danach war, als sich der eine oder andere in seiner Haut nicht mehr so wohl fühlte, weil ihm auffiel, wie am Rand der Städte mehr Menschen als bisher Zuflucht suchten oder am Weihnachtsfest wegen einer warmen Suppe anklopften, weil auch für sie der Lebenshorizont offen und ein würdiges Leben möglich sein wollte. Wie und Woran sich Menschen an die Gegenwart erinnern werden? Wohl mehr an die Mondlandungen und weiteren Missionen ins Weltall als an die Lebenshingabe von Christ*innen.

In diesen zweiten Weihnachtstag passt die Geschichte vom Bilder-Rahmen, der dem einen Jungen so viel bedeutete: Ein Jugendlicher wurde in der Weihnachtszeit von seinem Lehrer gefragt: «Was möchtest du am liebsten zu Weihnachten haben?» Der Jugendliche dachte an das eingerahmte Bild mit der Fotografie seines Vaters, an dem er so hing und der nun nicht mehr da war. Dann sagt er leise: «Ich möchte, dass mein Vater aus dem Rahmen heraustritt und wieder bei uns ist!» Diese Begebenheit verdeutlicht, was uns zugemutet wird: Jesus und Stephanus haben in unterschiedlicher Weise erfahren, sich vor Gott und Menschen verloren zu fühlen, gar von Gott verlassen. Darum ist in jeder Weihnachtszeit ein Stephanstag sinnvoll, da er uns herausfordert, uns ein Bild vom Leben des Kindes auszumalen, das am äussersten Rand der Welt geboren wurde und schliesslich den Märtyrer-Tod am Kreuz sterben musste. Und sei’s um den Preis, dass die Bilder, die wir uns von Weihnachten machen, erschüttert werden. Gott tritt in der Menschwerdung selber aus dem Rahmen, wirbt um uns, öffnet sich dem vollen Leben bis in die letzte Verlorenheit.

Als sich Saulus – der spätere Paulus – im Ausnahmezustand von Jerusalem befand, waren die Ampeln auf Rot gestellt! Stephanus war begnadet und wirkte «voll charismatischer Kraft» «bedeutende Wunderzeichen im Volk». Als einer der sieben neuen Leute, welche die Apostel in ihren Aufgaben unterstützten, fiel er zuerst nicht sonderlich auf. Was dann religiöse Scharfmacher an Stephanus im Tiefsten störend und unerhört fanden, war seine Haltung gegenüber dem Tempel. Sie mussten hören, wie er die Worte des Propheten Jesaja wiederholte: «Gott, der Höchste, wohnt nicht in Häusern, die von Menschenhand gemacht sind.» (Jes 66,1) Das war eine Behauptung zu viel. Damit unterstrich Stephanus die Haltung Jesu, der den Geist Gottes nicht in Tempel und Paläste einsperren, vielmehr die Herzen der Menschen erreichen und mit der Kraft seiner Auferstehung erhellen und aufbauen wollte.

Der ersten Geburt des Kindes an Weihnachten folgt die zweite Geburt in die Kraft der Auferstehung jedes Menschen, dem die Gnade geschenkt ist, den Himmel offen zu sehen. Daraufhin lebte der Erste Märtyrer, davon liess sich später der Verfolger Saulus überzeugen, der zum Völkerapostel Paulus wurde. Die Gegenwart Gottes will seither im menschlichen Leben gefeiert werden, weniger in steinernen Tempeln und Palästen als mehr im menschlichen Zusammenwirken. Und darum macht es Sinn, Steinen die Härte zu nehmen, sie zu bemalen, mit ihnen neue Bilder zu kreieren, statt mit Steinen Missbrauch und Gewalt anzurichten und dabei die Augen zu schliessen, um alles zu verdrängen, was wir Menschen an Leid anderen antun können. Denn «als sie / ihn trafen / schlossen sie / die augen // er öffnete / die augen / weit / und sah / den himmel / offen // auch /für sie».

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser

1 Bibelzitate lt. Klaus Berger / Christiane Nord: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Frankfurt a.M./Leipzig 1999.

2 Vgl. Impulse bei Hermann Trost: Die zweite Weihnachtsbotschaft. Das Vermächtnis des Gesteinigten. Gott wird Mensch – damit der Mensch göttlich wird. In: Publik-Forum 19. Dezember 1997, 28-30.

Gastbeitrag
26. Dezember 2020 | 15:34