Ermächtigung 5: Wach und in Kontakt wie eine Schwangere

Regula Grünenfelder zu 1 Thess 5,1-6

Auf den Text zu

Brüder, lesen wir im Brief, und Söhne. Frauen überlegen bei solchen Texten: Sind wir mitgemeint bei den Brüdern? Gehören auch wir zu den Söhnen des Tages? Oder vielleicht doch nicht? Die Brüder sind ein Übersetzungsfehler. Adelfoi wird in der androzentrischen Sprache sowohl exklusiv für Brüder als auch generisch für Geschwister verwendet. Und? War die Gemeinde in Thessalonich eine Bruderschaft ohne Frauen und Kinder? Alles, was wir über urchristliche Gemeinden wissen, spricht dagegen. Also wäre in den Bibeln, aus denen wir vorlesen und die wir verschenken, adelfoi korrekt mit Geschwister zu übersetzen.

Anders steht es mit den Söhnen. «Söhne» sind nicht «Söhne und Töchter» oder «Kinder», dafür gibt es spezifische Begriffe. «Söhne Israels» und vergleichbare Bezeichnungen sprechen Frauen und Mädchen nicht mit wie die adelfoi-Geschwister, sie meinen sie (bloss) mit. Eine ausdrückliche Erwähnung auch der Mitgemeinten ist aus pastoralen Gründen unbedingt angezeigt.

Mit dem Text unterwegs

Die Belehrung über die Zeiten und Fristen bis zum Tag des Herrn folgt direkt auf die Tröstung der Gemeindeglieder, die um ihre Verstorbenen trauern (vgl. Lesung vom vergangenen Sonntag). Die Autoren fügen ihrem Trost eine Information bei, die ­ wie sie selber schreiben ­ gar nicht nötig wäre. Das bedeutet: In der Sache gibt es keinen Klärungsbedarf. Wahrscheinlich kommt es hier nicht auf ein neues und richtiges Wissen über die Zeiten bis zum Ende an, sondern auf die Bestärkung dessen, was in der Gemeinde schon lebt, durch die Trauer aber vielleicht gefährdet ist.

Mit dem Trost ist es offensichtlich nicht getan. Die Lebenden brauchen noch etwas anderes. Sie können nicht einfach auf den Moment warten, wo sie endlich wieder mit ihren Lieben in Christus vereinigt sind. Sie müssen ihre eigene Aufgabe, ihre Rolle für die Zwischenzeit finden. Die Briefschreiber unterstützen sie mit der Ermutigung zur Achtsamkeit für das konkrete Leben.

Dazu verweben sie drei apokalyptische Motive: Erstens die unbekannte Zeit und Stunde des «Tages des Herrn», zweitens den Gegensatz von Licht und Finsternis und drittens die Geburtswehe. Die «Fristen und Zeiten», mit denen der Abschnitt beginnt, sprechen die Zeitspanne vor dem Ende an, die den Hinterbliebenen noch bleibt oder, im Trauerprozess gesehen, noch zugemutet wird.

Das Besondere an der restlichen Zeit ist die Ungewissheit über den Zeitpunkt des Endes. Der Tag des Herrn kommt gewiss, aber wie ein Dieb in der Nacht. Diese unheimliche Gefahrensituation ist ein verbreitetes neutestamentliches Kürzel für die Unvorhersehbarkeit des jüngsten Tages.

Mit dem Tag des Herrn, im Ersten Testament erstmals bei Amos zu lesen, ist nicht zu spassen, darauf kann man nicht einfach ruhig warten. Dieser Tag des Gerichtes wirft seine Schatten voraus, denn es ist ein Tag ohne Licht, ein Tag voll Finsternis (Amos 5,18­20).

Der Tag setzt den normalen Alltagen eine Grenze. Gefährlich wird er, wenn die Menschen den Schatten in den Alltagen nicht wahrnehmen wollen und sich Frieden und Sicherheit einreden. Die Anspielung auf ein Schlagwort der Pax Romana liegt nahe: pax et securitas. Mit diesem Frieden ist nicht der Schalom gemeint, sondern Ruhe und Ordnung in den bestehenden Verhältnissen.

Die prophetische Kritik an der sorglosen Ruhe, die bestehende Unrechtsverhältnisse ganz in Ordnung findet, zieht sich durch beide Testamente. Falschpropheten, die «Heil, Heil» schreien (Jer 6,14), werden der Strafe ebenso wenig entgehen wie gleichgültige Leute, die den Menschen in den Tagen Noahs und Lots gleichen (Mt 24,37­39, Lk 17,26­30). Das Wissen um das Nichtwissen stachelt zur Wachsamkeit an.

Auffällig ist nun das dritte Bild, das die Finsternis des Herrentages illustrieren soll. Das Verderben wird plötzlich hereinbrechen wie die Wehen über eine Schwangere. Die Zeit vor dem Ende wird in frühjüdischen und christlichen Texten oft als Geburtssituation beschrieben: Die Schmerzen sind so gross wie Geburtsschmerzen, doch wie bei der Geburt ist ein Ende abzusehen, ein Kind wird zur Welt kommen, eine neue Zeit wird geboren. Die messianische Geburt nimmt nicht irgendeine Geburt zum Vorbild, sondern spezifisch eine anstrengende, schmerzhafte mit glücklichem Ausgang.

Das Besondere an diesem Text ist das Überraschungsmoment. Ja, natürlich, können Mütter und Hebammen berichten, eine bevorstehende Geburt sensibilisiert für das Ende der gewohnten Abläufe und das neue Leben. Doch die Geburtsstunde war und ist nicht ganz so unbekannt wie dies der Text (und mit ihm viele Kommentare) suggeriert. Ausgerechnet die Zeichen ihres Nahens zwingen zur Aufmerksamkeit ­ wie eben auch Zeichen die Endzeit ankündigen.

Wird eine Frau von den Wehen überrascht wie von einem Dieb in der Nacht, dann handelt es sich um eine besondere Situation, beispielsweise eine durch tiefstes Erschrecken ausgelöste Sturzgeburt (vgl 1 Sam 4,19).

Der passende Vergleich für die gespannte Zeit der Erwartung des Tages des Herrn ist aber die «normale» Geburt. Die folgenden Verse versuchen nämlich genau das zu vermitteln, was die Absender mit dem Bild einer gut begleiteten, innerlich wachen Geburt hätten zeigen können: Wer aufmerksam ist, wird von den Wehen nicht unvorbereitet überfallen, wird ­ gespannt, vielleicht angstvoll ­ vom Geburtstag her leben. Während der Wehen wird dann zu erfahren sein, dass es zwar kein Entrinnen, aber einen Durchgang ins Leben gibt.

Von der «normalen» Geburt weiss die Bibel nur wenig zu berichten. Dass es sie aber damals auch gegeben hat, ist nicht nur an den mutigen Hebammen Schifra und Pua abzulesen, sondern steht ebenso hinter den vielen biblischen Genealogien. Die drei Männer könnten ihre «Brüder» also auch auffordern: Lebt in Kontakt und wach wie eine Schwangere, damit euch der Geburtstag, der Tag des Herrn, nicht überrascht wie ein Dieb in der Nacht!

Wie Hebammen sprechen die Absender ihren Geschwistern die nötige Zuversicht zu: «Ihr seid schon Töchter und Söhne des Lichtes und des Tages. Wir gehören nicht zur Finsternis.» Es ist uns geschenkt, lebendig und achtsam zu sein. Wir können an uns die Geburtszeichen schon ablesen.

Über den Text hinaus

Das apokalyptische Gebärmotiv orientiert sich an einer Geburt, die eine Frau aufmerksam erwartet und unter Schmerzen und Angst, aber in Kontakt mit sich und mit dem unvorstellbar Neuen erlebt. Gebären war und ist gefährlich.

Unvorhersehbar ist der Geburtsverlauf, ebenso das neue Kind und die neuen Beziehungen, die plötzlich entstehen. Mit gutem Grund also werden Gebärmotive apokalyptisch verwendet. Eine Geburt ­ wenn sie nicht durch den erschreckten Blick von aussen auf die einzelne Wehe reduziert wird ­ motiviert zur endzeitlichen Wachsamkeit und Nüchternheit. Welches Bild könnte Verunsicherte und Trauernde besser helfen, ihre Aufmerksamkeit dem Leben zuzuwenden?

Literatur: Luzia Sutter Rehmann, Geh ­ Frage die Gebärerin. Feministisch-befreiungstheologische Untersuchungen zum Gebärmotiv in der Apokalyptik, Gütersloh 1995.


Er-lesen
4,13­18 und 5,1­6 im Zusammenhang lesen. Gespräch über den Zusammenhang der beiden Texte.

Er-hellen
Motive im Text sammeln, ersttestamentliche Bezüge aufzeigen, nachlesen. Mit Farben Bildgebrauch im Text markieren. Argumentationslinie aufzeigen. Problem der androzentrischen Sprache besprechen. Wie formuliere ich in eigenen Worten, in einem eigenen Bild die Ermächtigung, die in diesen Versen ausgesprochen wird?

Er-leben
Übung der Achtsamkeit in der Gruppe oder am Anfang des Gottesdienstes (Leibwahrnehmung). Frage zur persönlichen Reflexion in dieser Achtsamkeit: Was ist wichtig in meinem Leben? Kann ich meine Priorität leiblich wahrnehmen?
Mit der Kollekte eine Organisation unterstützen, die Frauen ermächtigt. Z.B. cfd-Frauenstelle für Friedensarbeit (Telefon 01 242 93 07).

BPA und SKZ
10. November 2002 | 00:00