Ein Leben mit zwei Gesichtern

Visp. Vor mehr als zehn Jahren hat Marcel Mathis sein Gesicht verloren. Es sei eine Quittung gewesen für frühere Taten. Diese harte Prüfung hat er bestanden und geht heute offen damit um.

8. 4. 2005. Eine Frau wacht in ihrem Bett auf und hört Schreie. Die Wohnung brennt. Ihr Mann brennt. Sie schafft es, ihn mit dem Stubenteppich zu löschen. Knapp und dramatisch erzählt mir heute, mehr als ein Dutzend Jahre später, ein Mann mit Cowboy-Hut die Geschichte. Er zieht an einem Strohhalm, der aus einem Humpen Bier ragt. Sein Gesicht ist dabei verdeckt. Als er wieder aufblickt, ist das Resultat des Wohnungsbrands nicht zu übersehen. Verbrannte Ohren, unzählige Narben, ein lippenloser Mund. Der 49-jährige Marcel Mathis reibt sich die Hände, an deren Fingern mehrere Totenkopfringe stecken.

Lasst die Leute reden

Nach dem Unfall wurde er auf die Intensivstation der Uniklinik Zürich verlegt. Dort lag er zwei Monate lang im Koma. Die ersten Gespräche mit seiner damaligen Frau bleiben ihm bis heute in Erinnerung. Immer wieder sagte sie den Ärzten, dass sie ihm sorgsam beibringen sollten, dass er keine langen Haare mehr hatte. Bereits durch das Tasten mit den Fingern an seinem Gesicht realisierte Mathis, dass sich sein Gesicht stark verändert hatte. Das hätte auch den ersten Blick in den Spiegel entschärft, sagt er heute. «Aus dem Spiegel blickten mir meine Augen aus einem neuen Gesicht entgegen.» Ohne Umschweife erzählt er von dem Unfall, dem langen Koma, dem ersten Erwachen. Er schnippt mit den Fingern und spricht von einem «Totschalter», den der Körper bei einer solchen schweren Verletzung umlege.

Weshalb seine Wohnung an besagtem Tag in Flammen ausbrach, weiss Mathis bis dato nicht. Auch wenn die Versicherung die Gründe herausgefunden hätte, wollte er es nicht erfahren. Der Gedanke, den Brand verhindert haben zu können, würde ihn zu sehr beschäftigen. Trotzdem hörte er schon oft, wie die Leute munkelten, er sei mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen und habe dadurch die Wohnung in Brand gesetzt. Von solchen Meinungen hält er nichts, denn zu Hause habe er nie geraucht. In der Visper Bahnhofstrasse steht Mathis in seinen Cowboystiefeln und seiner Weste aus Leder. Er blickt zu den Gerüstbauern, die mit Hämmern auf kaltes Metall schlagen und sagt: «25 Meter». Dann bläst er den Rauch seiner Zigarette in die Luft. Nebenbei erwähnt er, dass er früher Gerüste gebaut habe, die bis zu 140 Meter in die Höhe ragten. Heute hat er allerdings keine Arbeit. Weshalb, sagt er nicht. «Die Leute denken eh, was sie wollen», sagt Mathis. So wie man ihn schon häufig gefragt habe, was für Country-Musik er denn höre. Da lacht er vehement auf und verneint: «Country-Musik ist überhaupt nicht mein Ding.»

Lernen von anderen

In dem rund achtmonatigen Spitalaufenthalt hatte Mathis zwei Rettungsanker, die ihm Sicherheit gaben: Die Familie und die Musik. Nach dem Unfall konnte er einige Zeit nicht sprechen. Kommuniziert hat er dann mithilfe der Augen, die aus dem Verband rausgeschaut haben. Besonders dann hat ihn die Musik durch den Tag begleitet. Sobald er sich wieder artikulieren konnte, drehte sich gleich einer der ersten Anrufe um die Musik. Seiner Frau, von der er heute getrennt lebt, gab er eine endlose Liste von CDs durch, die sie zu Hause notierte und ihm ans Bett brachte. Im Spital dröhnte seine Lieblingsmusik tagein, tagaus aus den Lautsprechern seiner Stereoanlage, erzählt seine Schwester Sonja Imhof.

«Die Leute sollen mich so nehmen wie ich bin»
Marcel Mathis

«Bis die Krankenschwestern rauchende Ohren hatten» sagt sie, schmunzelt dabei so, dass man es gar durch den Telefonhörer vernehmen kann. Die Stimmung ihres Bruders habe sie bereits gehört, bevor sie die Tür des Zimmers geöffnet habe. Bruder und Schwester pflegen immer noch einen guten Kontakt, die Beziehung ist ihnen wichtig. Noch per Brief bedankte sich Mathis aus dem Spital bei seiner Lieblingsband, die ihn durch diese schwere Zeit gebracht hat. Sein «Lebenselixier» zeigt er mir durch die kleinen Lautsprecher seines Smartphones. Daraus dröhnen verzerrte Gitarren, schnelle Bässe und eine mystische Frauenstimme. Die Band heisst «Epica» und spielt Gothic Metal. «Kommende Woche werde ich die Band in Basel hören», sagt Mathis. «Da drückt dich die Energie beinahe weg, wie eine Powerwolke.»

Im Spital lernten ihn andere Patienten das Staunen. So traf er dort eine Mittzwanzigerin, die sich ihr Bein amputieren lassen musste. Trotzdem strahlte sie den ganzen Tag durch die Klinik und heiterte alle auf. «Solche Begegnungen haben mich sehr motiviert», sagt er. Trotzdem gab es auch schwierige Prüfungen zu meistern. So hätten einige Menschen nach dem Unfall alles liegen gelassen und ihn unterstützt. Andere hingegen gingen auf abrupte Art und Weise auf Distanz, was schmerzte. Um seine beiden Kinder in einem anderen Umfeld aufwachsen zu lassen, wechselte er zusammen mit seiner damaligen Frau den Kanton und zog von Luzern zu seiner Schwester ins Wallis. «Er brauchte einen Neustart», sagt seine Schwester heute, die schon vor dem Unfall im Wallis lebte. In seinem Kollegenkreis habe sich die Spreu vom Weizen nach dem einschneidenden Ereignis bald getrennt. Diejenigen Freunde, die ihn wegen seines Charakters und nicht wegen seines Äusseren respektiert haben, blieben ihm bis heute.

Das Beste daraus machen

Mittlerweile umschreibt Mathis sein Schicksal gar als eine «Lebensbereicherung», die ihm zeige, wie die Menschen ticken. Er nehme nun menschliche Aspekte wahr, die ihm früher nicht bekannt waren.

«Nach jeder Operation musste ich mich an ein neues Gesicht gewöhnen»
Sonja Imhof, Schwester

Und körperlich habe er praktisch keine Einschränkungen mehr. Ausser, dass sein Oberkörper im Sommer die Sonne meide und er alle Getränke durch einen Strohhalm trinken muss. Den erhält er, zumindest wo man ihn kennt, ohne zu fragen. Sein Geruchssinn hingegen habe sich sogar verstärkt. Das realisierte er zum ersten Mal, als er nach dem Spitalaufenthalt sein übliches Parfum ansprühte. Darin nahm er plötzlich eine unausstehliche Duftnote wahr.

Dass er den Kopf nicht in den Sand stecken will, war ihm direkt nach dem Verlassen des Spitals klar. Noch als sein Gesicht und sein gesamter Oberkörper unter dicken Verbänden verborgen waren, mischte er sich unter die Leute. Für ihn war es wie eine zweite Chance:

«Irgendjemand wollte, dass ich hier bleibe. Deshalb gab es für mich nur zwei Optionen: Entweder packe ich die Aufgabe und bin bereit, das Beste aus der Veränderung zu machen, oder ich akzeptiere es nicht und gehe daran zugrunde.»

Eine «Quittung» für frühere Taten sei es gewesen, sagt er. Obwohl er nicht religiös sei, fühle sich sein Schicksal wie eine Warnung und eine Prüfung an, die er zu meistern habe.

Für welche Taten?

«Taten, die man sich nicht auf die Visitenkarte schreibt.»

Doch ist die Welt so berechenbar? Hätten nach diesem Prinzip nicht auch viele andere Leute eine Quittung verdient?

«Ja, aber die sind wahrscheinlich zu wenig ehrlich, um zu erkennen, dass sie einen Klaps verdient hätten», sagt Mathis.

Erinnerungen bleiben

Läuft man mit ihm durch die Visper Strassen, spürt man die vielen Blicke, die er auf sich zieht. Während einige Passanten länger schauen, treffen ihn viele Augenpaare nur kurz und richten sich ruckartig auf den nassen Asphalt. Daran stört er sich längst nicht mehr. Für «rümpfende Nasen» habe er keine Zeit. Lieber als schräge Blicke hätte er, wenn die Leute ihn ansprechen und mit ihm reden. Auch seine Schwester spürt die bohrenden Blicke der Passanten, wenn sie mit ihm unterwegs ist. Heute habe sie sich an das neue Gesicht ihres Bruders gewöhnt. In den Monaten und Jahren nach dem Unfall unterlag sein Gesicht jedoch vielen weiteren Eingriffen: «Nach jeder Operation musste ich mich an ein neues Gesicht gewöhnen», sagt Imhof. Noch immer erinnert sie sich an das Aussehen ihres Bruders vor dem Unfall. Manchmal, wenn er eine gewisse Mimik mache, erkenne sie seine alten Gesichtszüge wieder.

Für Mathis habe die Veränderung seines Gesichts keinen Einfluss auf seine Identität gehabt. So denkt auch seine Schwester: «Auch wenn sich das Äussere verändert hat, ist er immer noch derselbe Mensch», sagt sie, wartet einen Moment und korrigiert dann: «Heute schaut er sein Leben schon ein wenig anders an. Früher liess er sich stärker von Prinzipien leiten.» Dadurch, dass er dem Teufel so knapp ab dem Karren gesprungen sei, habe er Ziele wie arbeiten, Geld verdienen und ein Haus bauen zurückgestellt und pflege seinen Freundeskreis mehr denn je, sagt sie.

Er selbst will auf keinen Fall auf die Tränendrüse drücken und dadurch Mitleid ernten: «Die Leute sollen mich nicht auf meine Verletzung reduzieren.» Immer wieder macht er darauf aufmerksam, dass man von dem Äusseren eines Menschen nicht auf den Charakter schliessen kann. So wie man nicht sagen kann, welche Musik jemand hört, nur weil man seinen Kleidungsstil begutachtet. «Die Leute sollen mich so nehmen wie ich bin.» Als er das kurz vor unserer Verabschiedung sagt, greift er an eine silberne Kette an seinem Unterarm. Darauf sind die Ziffern 8. 4. 2005 zu lesen. «Das Datum meiner zweiten Geburt.»

Walliser Bote
16. Dezember 2017 | 10:10