Ehe für alle: ein Gebot säkularen Rechts?

Das Rechtsinstitut der Ehe ist für die existenziell notwendige Zeugung von eigenen Nachkommen eingerichtet und sollte deshalb für die heterosexuelle Partnerschaft reserviert bleiben.
Obwohl das Thema eine wahrhaft existenzielle Tiefe hat, erlag die einschlägige Debatte der Gefahr politischer Vorentschiedenheit. Der Konservative lehnte das neue Rechtsinstitut, die Ehe für alle, von vornherein ab, der Progressive stimmte ihm ebenso a priori zu. Eine gründliche Debatte hingegen erörtert das Für und Wider im hier entscheidenden Zusammenhang einer Säkularisierung des Rechts.

Säkular bedeutet hier jene religiös-weltanschauliche Neutralität, die es nicht etwa erst seit der Epoche der Aufklärung gibt. Bei Recht und Gerechtigkeit denkt bereits Aristoteles so selbstverständlich säkular, dass seine Unterscheidungen etwa von Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit und das Gegensatzpaar von positivem Recht und überpositivem, natürlichem Recht die Jahrhunderte überdauern.

Nicht minder säkular ist das Vorbild eines internationalen Handelsrechts, das römische «ius gentium». Von allen nationalen und religiösen Abhängigkeiten frei, baut es auf der allen Völkern gemeinsamen «fides», dem Vertrauen und der Ehrlichkeit, auf. Ebenfalls säkular sind die bis nach Athen und Rom zurückreichenden Prinzipien der Prozessgerechtigkeit wie das Verbot, Richter in eigener Sache zu sein, das Gebot, auch die andere Seite anzuhören, und die Unschuldsvermutung.

Warum zusätzliches Recht?

Selbst der Dekalog bietet kein Gegenbeispiel. Denn von den zwei Tafeln, auf die die Zehn Gebote geschrieben sind, enthält nur die erste Tafel religiöse Verbindlichkeiten, während die zweite Tafel schon ihr erstes Gebot: «Du sollst Vater und Mutter ehren» mit dem fraglos säkularen Argument: «auf dass es dir wohlergehe auf Erden» begründet. Weil es sich bei den anderen Geboten analog verhält, taugt keineswegs der gesamte Dekalog, wohl aber sein zweiter Teil als Referenz für moralische Überzeugungen säkularer Natur.

Ähnlich säkular gültig ist ein Moralkriterium, das sich in so gut wie allen Kulturen findet, die von einem der sieben Weisen, Thales, die im Alten und im Neuen Testament, im indischen Nationalepos Mahabharata, in chinesischer Lebensweisheit, im Buddhismus und vom grossen muslimischen Denker al-Ghazali vertretene goldene Regel: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.»

Noch wichtiger ist ein systematisches Argument: Wären die Steuerpflicht, das Strafrecht oder Bestimmungen des Vertrags- und Handelsrechts an eine Religion gebunden, so wären sowohl die Mitglieder anderer Religionen als auch Atheisten von den entsprechenden Pflichten befreit. Sie brauchten keine Steuern zu zahlen, dürften sich über strafrechtliche Verbote hinwegsetzen und könnten die geltenden Vertragsformen missachten. Aber weder strenggläubige Christen noch orthodoxe Juden oder fromme Muslime wollen die Andersgläubigen von der Steuerpflicht, dem Strafrecht und anderen Rechtsverbindlichkeiten befreien.

Müsste in diesem Sinn eine Säkularisierung des Eherechts die «Ehe für alle» erlauben? Offensichtlich ist der Ausdruck irreführend, denn gemeint ist weder eine Ehe für Unmündige noch eine zwischen Geschwistern oder zwischen Vater und Tochter bzw. zwischen Mutter und Sohn. Ebenso wenig sollen Polygamie oder Polyandrie zugelassen werden. Zur Diskussion steht lediglich jene Beziehung zwischen homosexuellen Frauen oder Männern, die man unschön «Homo-Ehe» nennt.

Nun sind zwar nicht alle Rechtsordnungen der Welt, aber doch unsere längst so aufgeklärt, dass sie die Homosexualität als Strafdelikt abgeschafft haben. Und mit der «eingetragenen Lebenspartnerschaft» haben homosexuelle Lebenspartner einen rechtlichen Rahmen, der, so scheint es, ein weiteres Recht überflüssig macht. Warum, muss man daher fragen, sollte es zusätzlich das Recht auf eine Ehe geben? In den Worten eines aus christlichem Milieu stammenden homosexuellen Hollywoodschauspielers: «Warum soll ich einen kirchlichen oder staatlichen Segen wollen; das ist doch spiessig.»

Kriterium der Zeugung

Ein Überbieten der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu einer Ehe greift in eine über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende gewachsene gesellschaftliche Wirklichkeit ein. Das Recht kann durchaus Modifikationen vornehmen. Es kann aber schwerlich leugnen, dass nicht bloss in Europa, sondern in allen bekannten Kulturen eine auf Dauer, Verlässlichkeit und Intimität angelegte Partnerschaft – in den nüchternen Worten Kants die «natürliche Geschlechtsgemeinschaft» vor dem «Gesetz» – dann und nur dann als Ehe gilt, wenn sie zwischen einem Mann und einer Frau besteht.

Der Grund, nicht die eingetragene Partnerschaft, wohl aber die Ehe auf heterosexuelle Partner zu beschränken, liegt auf der Hand: Ausschliesslich die heterosexuelle Beziehung ist über die Bedingungen blosser Partnerschaft, also Dauer, Verlässlichkeit und Intimität, hinaus auf die Zeugung von Nachkommen angelegt. Gewiss, die einzelnen Ehepaare müssen Kinder weder haben können noch wollen. Die Ehe als Rechtsinstitut ist aber auf die für die Menschheit existenziell notwendige Zeugung von Nachkommen angelegt. Diese ist nämlich nicht bloss langfristig für die Fortpflanzung des Menschengeschlechts, sondern schon mittelfristig für jene nächste und übernächste Generation unerlässlich, die die finanzielle Rente, die soziale und die medizinische Altersvorsorge der Eltern- und Grosselterngeneration übernimmt.

Warum also wollten trotzdem gewisse homosexuelle Kreise eine Ehe, dabei keineswegs, wie der universalistische Titel suggeriert, eine «Ehe für alle», sondern das denn doch partikular begrenzte Rechtsinstitut der «Homo-Ehe»? Eine vom Recht abgesicherte Partnerschaft verfolgt über den wichtigen gesellschaftlichen und rechtlichen Faktor hinaus, den auch öffentlichen Respekt, etliche pragmatische Interessen.

Mit gutem Recht will man zum Beispiel eine gegenseitige Verfügung für schwere Erkrankungen oder Unfälle und ein wechselseitiges Sorgerecht vereinbaren dürfen. Diese Interessen lassen sich freilich durch Vollmachten erfüllen. Das trifft allerdings nicht auf zwei weitere Interessen zu, nämlich gegenüber Ehepartnern weder steuerrechtlich noch erb-, noch renten- oder pensionsrechtlich benachteiligt zu sein. Diese und weitere Nachteile sind aber schon durch das Lebenspartnerschaftsgesetz aufgehoben worden. Daher erneut die Frage: Warum soll es mehr, warum soll es eine Ehe geben?

Gleiches gleich, Ungleiches ungleich

Nach einem alten, bis heute unstrittigen Rechtsgrundsatz ist Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln. Auf homosexuelle Partner angewandt, ist von diesem Grundsatz Folgendes geboten: Um in Dauer, Verlässlichkeit und Intimität mitsamt emotionaler Tiefe und sozialem Respekt – nicht zuletzt ohne die angedeuteten rechtlichen Nachteile – miteinander leben zu können, ist ihnen das dafür sachgerechte Rechtsinstitut, die eingetragene Partnerschaft, zu gewähren. Alles andere widerspräche dem so grundlegenden Gleichheitsgebot und dem nicht minder grundlegenden Diskriminierungsverbot.

Wegen der bestehenden Ungleichheit jedoch, dass eine homosexuelle Partnerschaft zwar nicht überall – in Chile zum Beispiel nicht, in Deutschland aber doch – Kinder adoptieren kann, im Gegensatz zur heterosexuellen Partnerschaft aber nicht auf eigene Nachkommenschaft angelegt ist, erscheint dies als zwingend: Das für die Zeugung der eigenen Nachkommenschaft eingerichtete Rechtsinstitut der Ehe ist genau dafür, also für die heterosexuelle Partnerschaft, zu reservieren.

Otfried Höffe ist Professor für Politische Philosophie und Leiter der Forschungsstelle für Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Bei C. H. Beck erschien von ihm «Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens».

Neue Zürcher Zeitung
16. März 2019 | 07:50