Die Sondernummer von Charlie Hebdo ein Jahr nach den Angriffen auf das Satiremagazin

Das Vermächtnis der Ermordeten

«Zwei vermummte Idioten können nicht kaputt machen, was unser Lebenswerk ist», gibt sich der Cartoonist und Charlie-Hebdo-Chef Riss kämpferisch. Die Zeilen stammen von seinem im Leitartikel der Sondernummer zum ersten Jahrestags des Attentats vom 7. Januar 2015, bei dem zwölf Menschen von islamistischen Terroristen ermordet worden waren. Die beiden Täter sind tot, das Satireblatt hat überlebt – und beweist es mit einer Spezialausgabe. Das war Charlie Hebdo sich selber und vor allem jenen elf Mitarbeitern, die vor einem Jahr ermordet wurden, eigentlich auch schuldig. Entsprechend frech und provozierend fällt denn die Ausgabe zu diesem traurigen Jahrestag aus.

Von Rudolf Balmer, Paris

Die Absicht ist klar: Es geht darum, zu zeigen, dass erstens Charlie Hebdo weiterlebt und zweitens sich weder vom mörderischen islamistischen Terror einschüchtern noch von den gut gemeinten Ratschlägen zur Mässigung bis zur Selbstverleugnung oder Selbstzensur beeinflussen lässt.

Gewohnt exzessiv spöttisch

Schon ein erster Blick in diese gestern erschienene Ausgabe reicht, um zu sehen, dass da dieselben Themen in der gewohnt exzessiv spöttischen Weise behandelt werden: Frankreichs Politik und deren Akteure, die Spiesser und die Reaktionären, Sex und Gewalt; vor allem aber alles, was nach Religion aussieht oder riecht. Das Lästern über religiöse Moralvorstellungen bleibt – oft vorsätzlich bis jenseits der Grenzen des guten Geschmacks – ein Lieblingsthema der Charlie-Macher.

Das hat sich auch mit dem Tod des früheren Redaktionsleiters Stéphane Charbonnier (Charb) nicht geändert. Das jetzige Team, das sich als Gruppe von «Überlebenden» definiert, fühlt sich diesem Vermächtnis verpflichtet. In der Mitte des aktuellen Sonderhefts sind entsprechende bisher unveröffentlichte Karikaturen der Terroropfer Charb, Cabu, Wolinski, Tignous und Honoré abgebildet. Ein wesentlicher Teil davon sind dem Thema Terrorismus, Fanatismus gewidmet, andere verteilen Seitenhiebe an den Vatikan wegen Pädophilie oder der Haltung zur Homosexualität.

Das Attentat und deren Auftrag­geber werden nicht nur zeichnerisch thematisiert. In einem langen Text wird minutiös der Ablauf des Attentats vom 7. Januar 2015 an der Rue Nicolas Appert mit einigen der breiteren Öffentlichkeit zum Teil noch unbekannten Details geschildert. Viele haben seither über diesen hinterhältigen Angriff auf die Pressefreiheit geschrieben, doch die subjektive Version der Direktbetroffenen war weniger bekannt. Auch die weniger prominenten Opfer der anderen Anschläge vor einem Jahr, namentlich ein Hauswart, zwei Polizisten und die vier Toten im Geschäft «Hyper Casher», werden gewürdigt. Insgesamt 17 Menschen sind vom 7. bis 9. Januar 2015 unter den Kugeln der Terroristen gestorben. Dieser Tage gedenkt Frankreich ihrer mit zahlreichen Veranstaltungen.

Titelblatt gibt den Ton an

Das Lachen ist deswegen den Zeichnern und Autoren von Charlie Hebdo nicht vergangen, es tönt höchstens in dieser Nummer aber etwas bitter oder vielleicht auch rachsüchtig aus den Karikaturen, in denen die Islamisten verhöhnt werden. Schon das Titelblatt gibt den Ton an. Darauf ist eine Art Gottvater mit weissem Bart und einem Dreieinigkeitssymbol über dem Kopf zu sehen, der gehässig dreinschaut und in einem blutverschmierten Gewand und mit einer umgehängten Kalaschnikow davonrennt. Anklagend schreibt der (neue) Chefredaktor Riss dazu: «Ein Jahr später: Der Mörder ist noch auf freiem Fuss.»

Diese Karikatur genügte, um noch vor dem Erscheinen dieser Grossauflage von mehr als einer Million Exemplare auf dem Internet bereits eine neue Polemik über die Blasphemie von Charlie Hebdo zu entfachen. Neben Muslimen empören sich auch Christen in den sozialen Medien, dass da gegen monotheistische Religionen ein General­verdacht wegen terroristischer Gewalt erhoben wird. Einige fragen sich, ob sie sich getäuscht hätten, als sie sich wie allen anderen vor einem Jahr unter dem Schock des Attentats spontan solidarisch erklärten.

Die christdemokratische Politikerin Christine Boutin beispielsweise meint, diese Angriffe auf die Religion seien bei Charlie Hebdo zur «Obsession» geworden. Sogar der Vatikan hat inzwischen reagiert. Als «penibel» und «den Gläubigen gegenüber respektlos» bezeichnet das offizielle Organ Osservatore Romano die Sonderausgabe, die nicht unwidersprochen bleiben durfte: «Charlie Hebdo versucht, den Glauben zu manipulieren.» In Wirklichkeit aber hätten es die geistigen Autoritäten aller Konfessionen längst als «authentische Blasphemie» verurteilt, wenn jemand im Namen der Religion und Gottes die Gewalt rechtfertigen wolle, kommentiert die Vatikanzeitung.

Vielleicht trägt Charlie Hebdo in dieser Nummer sogar besonders dick auf mit antiklerikalen Zeichnungen. In seinem Leitartikel pocht Riss, der beim Anschlag selber schwer verletzt worden war, in Erwartung solcher Einwände auf das unbeschneidbare Recht der Satire, gegen alle Konventionen zu verstossen. Die Risiken waren ihm und den Mitbegründern stets bekannt.

«Wir haben überlebt!»

Seit den Anfängen habe man bei Charlie Hebdo gewusst, dass mit jeder Nummer die Existenz der Publikation und womöglich auch die der Zeitungsmacher aufs Spiel gesetzt werde: «Ja, viele wünschten unseren Tod. Unter ihnen die vom Koran verblödeten Fanatiker, auch die Frömmler anderer Religionen, die uns in ihre Hölle schicken wollen, weil wir uns erkühnen, über das Religiöse zu lachen.» Und an jedem Jahresende habe er mit seinen Charlie-Kollegen mit freudigem Staunen festgestellt: «Wir haben überlebt!»

Diese Existenzangst war allerdings mehr finanziell gemeint oder (zumindest früher) eine Furcht vor einem Publikationsverbot. Die Lebensgefahr im wörtlichen Sinn habe er und auch Charb zu wenig ernst genommen, gesteht Riss. Man habe etwas unterschätzt: «Ein Fanatiker hat die Ewigkeit als Horizont, und an jenem 7. Januar ist uns diese Ewigkeit auf den Kopf gefallen.»

Man erinnert sich auch, wie damals eine Woche nach dem terroristischen Anschlag trotz allem eine Sondernummer herauskam, und die Leute standen Schlange, um sich ein Exemplar zu ergattern. Das war für viele von ihnen wie eine Form der Solidarität. Es mussten mehrere Millionen gedruckt werden. Dieses Mal herrscht zweifellos weniger Nachfrage, aber dennoch hatten viele ihr Exemplar Tage im Voraus reserviert. Finanziell geht es Charlie Hebdo dank fast 200 000 Abonnenten besser denn je. Statt in Konkurs zu gehen, ist das Magazin über Frankreich hinaus eine Institution und ein Symbol der Pressefreiheit geworden. Darum steuern zum Jahrestag verschiedene internationale Persönlichkeiten wie Taslima Nasreen oder Russell Banks kleinere oder längere Texte bei.

Basler Zeitung
7. Januar 2016 | 09:57