«Die Armen werden in der Schweizer Politik vergessen»

5 Fragen an Hugo Fasel, Direktor von Caritas Schweiz

Vor der Krise mussten sie bereits jeden Franken umdrehen, um über die Runden zu kommen. Und nun treffen sie die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Krise mit voller Wucht. Dennoch bekommen Armutsbetroffene keine oder kaum Hilfe. 2018 übertrug der Bund die Verantwortung für die Prävention und Bekämpfung von Armut ausschliesslich den Kantonen. Ein offensichtlicher Fehler, so das Fazit von Hugo Fasel, Direktor von Caritas Schweiz. Es fehle nicht an effizienten Instrumenten zur Armutsbekämpfung, sondern am politischen Willen, sie zu nutzen.

Diese Krise bringt die Armut ans Tageslicht. Wird das bei den Entscheidungsträgern die Wahrnehmung des Problems verändern? Und bei der Bevölkerung?

Die Krise macht sichtbar, was wir bei der Caritas schon seit 20 Jahren sehen. Und die jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen das klar und deutlich: Trotz des Wirtschaftswachstums und einer historisch tiefen Arbeitslosenquote im Jahr 2018 hat die Armut in der Schweiz nicht abgenommen. 660’000 Menschen sind einkommensarm, davon sind 144’000 Kinder. Die Armutsquote der Kinder stieg damit von 6,9% auf 9,6%. Einelternfamilien, Alleinstehende und Menschen ohne nachobligatorische Bildung sind nach wie vor dem höchsten Armutsrisiko ausgesetzt. Hinzu kommt, dass 133’000 Menschen von Einkommensarmut betroffen sind, obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Ihr Lohn reicht also nicht aus, um ihre Existenz zu sichern. Rund 300’000 Menschen laufen Gefahr, in Armut abzurutschen. Auch in der unteren Mittelklasse werden Lebenssituationen immer prekärer. Familien mit bescheidenem Einkommen kämpfen mit konkreten wirtschaftlichen und sozialen Problemen.

Die Wahrnehmung wird sich ändern, denn die Bilder prägen sich im Gedächtnis ein. Fakt ist, dass es mit unserem Sozialversicherungssystem in seiner jetzigen Ausgestaltung nicht gelingt, der Armut beizukommen. Wir brauchen als zusätzlichen Hebel das Instrument der Direktzahlungen. Die Familienergänzungsleistungen, die in den Kantonen Genf, Tessin, Waadt und Solothurn eingeführt wurden, zeigen, dass solche Direktzahlungen wirksam sind.

In der Zwischenzeit gibt der Bund 60 Milliarden Franken aus, aber nichts für die Ärmsten. Warum?

Weil die Ärmsten schlicht und ergreifend vergessen wurden. Politisch haben sie keine Lobby mit Ausnahme der Caritas. Auf die Politik haben sie wenig Einfluss, weil ein Grossteil der Armutsbetroffenen kein Wahlrecht hat. Die politische Vertretung im Parlament widerspiegelt nicht die Zusammensetzung der Schweizer Bevölkerung.

In der derzeitigen Krisensituation fordert die Caritas eine Direktzahlung von 1000 Franken für jede armutsbetroffene Person. Es gibt Stimmen, die sagen, dass damit leichtfertig Geld verteilt wird.

Das trifft nicht zu. Die Menschen brauchen diese Unterstützung und die Vergabekriterien sind klar definiert: Anspruch auf diese 1000 Franken hätten Menschen mit einem Einkommen, das zum Bezug der AHV-Ergänzungsleistungen berechtigt. Man würde die Menschen ernst nehmen und ihnen die Fähigkeit zusprechen, mit diesen 1000 Franken selbständig umzugehen! Zudem spart ein solches Vorgehen enorm viele Verwaltungskosten ein. Und respektiert die Würde der Menschen, da die Mittel nicht paternalistisch verteilt werden. Ich wünsche mir, dass Menschen, die einen Beitrag für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft geleistet haben, ein Recht auf eine solche Hilfe haben – unabhängig davon, ob es sich um Sans-Papiers handelt oder um Menschen mit geregeltem Aufenthaltsstatus, die trotzdem armutsbetroffen sind. Diese Direktzahlungen kommen in der internationalen Zusammenarbeit bei Katastrophen bereits zum Einsatz. Man verteilt Bargeld und ermöglicht damit den betroffenen Menschen das zu beschaffen, das sie am dringendsten benötigen. Hinzu kommt, dass mit Bargeldhilfe sehr effizient die Wirtschaft unterstützt wird. Denn jeder Franken für die Ärmsten landet meist schon am nächsten Tag wieder im Wirtschaftskreislauf.

2018 hat der Bundesrat dem nationalen Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut die Flügel gestutzt. Warum?

Im April 2018 veröffentlichte der Bundesrat einen Bericht mit den Ergebnissen dieses von 2014 bis 2018 durchgeführten Programms. Er stellte fest, dass es dringlichen Handlungsbedarf gibt. Gleichzeitig wollte er jedoch die für die Bekämpfung der Armut zur Verfügung stehenden Mittel massiv kürzen. Und machte einen Schritt rückwärts, indem er den Kampf gegen die Armut zu einer ausschliesslichen Aufgabe der Kantone erklärte. Das ist ein Mangel an politischem Mut. Heute stellen wir einmal mehr fest, dass dies ein Fehler ist. Die verschiedenen Formen der Armut nehmen rasant zu. Der Bund muss Finanzmittel zur Armutsbekämpfung zur Verfügung stellen und seine Verpflichtungen in einem Rahmengesetz festschreiben. Eine wirksame Armutspolitik braucht eine Strategie mit verbindlichen Zielen und entsprechende Massnahmen sowie die nötigen Mittel, um diese Ziele erreichen zu können.

Gibt es ein Land, das der Schweiz für die Armutsprävention und -bekämpfung als Vorbild dienen könnte?

Nein, kein Land könnte der Schweiz als Vorbild dienen. Dazu sind die Unterschiede zwischen den sozialen Sicherungssystemen zu gross. Die Schweiz muss ihre eigenen Lösungen finden. Die Caritas hat mehrere Instrumente definiert, die zur Beseitigung der Armut beitragen. Wichtige Massnahmen wären Ergänzungsleistungen für Familien, die bereits in vier Kantonen mit Erfolg eingeführt wurden, die Restrukturierung der aktiven Massnahmen in der Arbeitslosenversicherung und vor allem Weiterbildungen für Menschen aller Einkommen, unabhängig von deren Höhe. Auch Direktzahlungen gehören dazu, um das Existenzminimum zu garantieren. Es gibt eine ganze Reihe von wirksamen Massnahmen, aber es fehlt der politische Wille, sie einzusetzen.