Der kleine Exodus – Glaubensabfall im Islam

Dem Islam kommen in Österreich immer mehr Anhänger abhanden. Die christlichen Kirchen verdanken dem neuen Phänomen ein Rekordhoch an Erwachsenentaufen. Warum sich Muslime von ihrer Religion abwenden, auch wenn sie sich damit in Lebensgefahr begeben.

Dariusz Schutzki ist einer, der sich um ein leeres Gotteshaus nicht zu sorgen braucht. Der Wiener Bischofsvikar gilt als eine Art Superstar unter den Hirten der Wiener Pfarren, selbst aus anderen Gemeinden strömen Gläubige sonntags in seine Kirche. Und sogar die Jungen finden ihn und seine modernen Gottesdienste richtig cool.

Doch selbst weniger beliebte Seelsorger scharen neuerdings mehr Schäfchen um sich als bisher. Schon letztes Jahr sorgten Massentaufen von dem Säuglingsalter deutlich Entwachsenen in Berliner Schwimmbädern für Schlagzeilen. Nun hat das Phänomen auch Österreich erreicht. 633 Menschen über 14 Jahren empfangen 2017 die Taufe. Ein Rekordhoch verzeichnet die Erzdiözese Wien mit 254 Neu-Gläubigen. Zum Vergleich: 2011 waren es magere 72 Erwachsenentaufen.

Wundersame Schäfchen-Vermehrung

Die wundersame Schäfchen-Vermehrung verdankt die Kirche vor allem Flüchtlingen und Zuwanderern. 80 Prozent sind Muslime, insbesondere aus dem Iran und aus Afghanistan. Doch was bewegt die Muslime dazu, sich dem Christentum zuzuwenden?

Einer der Taufwilligen, der sogenannten Katechumenen, bringt das Faszinosum bei der der feierlichen Zulassungszeremonie in der Erzdiözese Wien auf den Punkt: Im Christentum gebe es keinen Rassismus, Frauen und Männer begegneten einander auf gleicher Höhe, und Christen töteten ihre Feinde nicht. Jene, die vor Krieg, Terror und Islamismus aus ihren Ländern geflohen sind, sind dankbar für die Hilfsangebote der Kirche, die für viele als Erste zur Stelle war.

Schutzki stellt klar: «Wir taufen keine Muslime, sondern jene, die sich in ihrem Herzen schon selbst bekehrt haben.» Und das gehe nicht von heute auf morgen.

Christ werden unter Lebensgefahr

Dass diesen Schritt keiner leichtfertig tut, ist weniger eine Folge der einjährigen Vorbereitungszeit der Täuflinge in den Pfarren, als der möglichen Konsequenzen. Auf den Abfall vom Glauben, die sogenannte Apostasie, die Ridda oder Irtidad, stehen im Islam drakonische Strafen. Drohende Konsequenzen für Apostaten reichen von Repressalien gegen die Familie über das Einfrieren des Vermögens bis hin zur drohenden Todesstrafe.

Der Begriff Apostasie wurzelt eigentlich in der christlichen Tradition, als der Abfall vom Christentum noch mit Exkommunikation geahndet wurde. Heute wird die Bezeichnung eher für den Islam angewendet.

Während im Christentum die Taufe den Eintritt in die Glaubensgemeinschaft markiert, wird man Muslim oder Muslimin qua Geburt, wenn der Vater Muslim ist. Ein Austritt ist in diesem Szenario nicht vorgesehen und de facto gar nicht möglich. Im profanen Leben erfolgt er in Österreich offiziell via Formular bei der Bezirksbehörde. Doch aus nachvollziehbaren Gründen will das kaum jemand öffentlich machen.

Zeichen gegen Extremismus

Auch Abdul K. (Name aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert, Anm.) möchte anonym bleiben. Der Unternehmer mit österreichischer Staatsbürgerschaft ist erst kürzlich aus dem Islam ausgetreten. Er hat dazu eigens eine Erklärung beim Notar aufsetzen lassen. Als Agnostiker wolle er keiner der drei Buchreligionen angehören.

Damit wollte er ein Zeichen setzen: «Der Wahhabismus hat sich seit den 70er Jahren von Saudi-Arabien aus immer stärker durchgesetzt. Dadurch hat sich der Islam radikalisiert und ist 1.400 Jahre zurückgefallen. Man will die Zeit, in der Mohammed gelebt hat, wieder aufleben lassen. Das ist unmöglich in der modernen Welt.» Der Islam, glaubt er, befinde sich auf einem Irrweg. Er wolle dazu beitragen, diesen zu korrigieren.

«Meine Nachkommen sollen wissen, wo ich stehe.» Das sei ihm wichtig, so K. Dass, wer heute den Islam kritisiere, oder sich gar von ihm abwende, gefährlich lebe, davon sei er überzeugt: «Das beweisen prominente Beispiele wie die Fatwa gegen Salman Rushdie.»

«Zentralrat der Ex-Muslime»

Dass Apostasie mit der Todesstrafe geahndet werden soll, schreibt nicht der Koran vor, wohl aber die Hadithliteratur. Die bekannte iranische Dissidentin Mina Ahadi, die einst über Wien nach Köln flüchtete, musste unter Polizeischutz gestellt werden, als sie ihren «Zentralrat der Ex-Muslime» gründete.

Mit ihrer Plattform für bekennende Ex- und Nicht-Muslime rückt sie ins öffentliche Bewusstsein, was weitgehend unbekannt ist: Weit mehr Menschen als wir glauben, die aus islamischen Ursprungsländern zugewandert sind, leben jenen Glauben, den sie qua Geburt erhalten haben, nicht, oder nicht mehr.

Die Bedrohung für Apostaten hat sich durch das Internet nicht gerade verringert. Radikale Islamisten, die sich zur Bestrafung berufen fühlen, sind heute weltweit vernetzt und aktiv.

Ein Fest des Schenkens

Die Kirche wiederum bietet Verfolgten Schutz. Schutzki hört in Flüchtlingsgeschichten immer wieder von Begegnungen mit Christen, die etwas bewegten: «Da geschieht in ihren Herzen etwas, das sie sagen lässt: Ich möchte an den Gott glauben, an den die glauben, die mir begegnet sind. Sie strahlen einen Frieden nach außen, sie sind zu mir nett gewesen. Da fühle ich mich wohl, ich möchte dazugehören, es ergreift mich.»

Der Wiener Bischofsvikar Dariusz Schutzki

Auch den Jüngsten wird bei der spirituellen Herbergssuche geholfen. Als eine provisorische Flüchtlingsunterkunft in der Nähe von Schutzkis Pfarrgemeinde öffnete, leistete die Pfarre akute Soforthilfe, die es nicht bei der Spendensammlung beließ. Schutzki war sofort klar: Er wollte die Kinder mit den schweren Schicksalen in die Kirche einladen.

30 kleine Kinder, allesamt muslimisch, seien zum Nikolofest und zum Adventmarkt gekommen, mit strahlenden Augen und voller Freude hätten sie ihre Nikolo-Packerl entgegengenommen, gemeinsam mit den hiesigen Kindern.

«Das war ein Fest des einander Schenkens», erinnert sich der Vikar. «Die Kinder begegnen einander so grenzenlos, so vorbehaltlos. Die Flüchtlingskinder sind weder hervorgehoben oder stigmatisiert worden, sondern waren ein Teil von denen, die sich beschenken lassen. Sie waren Kinder unter Kindern. Das hat absolut funktioniert.» Ob das eine oder andere Kind in die Kirchengemeinschaft hineinwächst, ist ungewiss.

«Wir haben den besten Chef»

Den neuen Zulauf zur Kirche sieht Vikar Schutzki jedenfalls in alten Werten begründet: «Wir haben den besten Chef, der gesagt hat, ich bleibe bei euch bis zum Ende der Welt. Was soll uns da passieren? Und wir haben die beste Botschaft: Liebt einander und liebt eure Feinde. Geht miteinander im Geist Jesu um. Das ist das Rezept für ein gelungenes Leben. In der Familie, in Beziehungen und auch im Alleinsein.»

Und sein eigenes Erfolgsrezept? Wie macht das der Herr Vikar, dass ihm die Schäfchen so zulaufen? «Wenn du die Freundschaft mit Jesus nach außen strahlst, – das ist schon die ganze Story.» Das nennt man Understatement.

Nadja Sarwat, für religion.ORF.at

ORF.at
25. April 2017 | 14:20