Dass das Salz nicht schal werde – Das spirituelle Vermächtnis des Petrus Canisius

Rede von Professor Mariano Delgado bei der Feier zur Gründung der neuen Jesuitenprovinz Zentraleuropa in der Kirche Sankt Michael am Dienstag, 27.4.2021.

Liebe Mitglieder und Freunde der Gesellschaft Jesu

Sie haben mich um ein Wort über die Spiritualität des Schutzpatrons der neuen Provinz Zentraleuropa gebeten. Ich tue es sehr gerne, weil ich in dieser Spiritualität auch wichtige Anstösse für die Gegenwart finde. Gemäss der rhetorischen Praxis der Jesuiten in ihren Predigten werde ich mich auf drei Punkte oder Gedanken konzentrieren.

Erster Gedanke

Petrus Canisius, der in den religionspolitischen Ereignissen seiner Zeit und in der Umsetzung der tridentinischen Reform so «aktiv» war, hatte ein zur Mystik und Kontemplation neigendes Naturell. Dies zeigt sich daran, dass er vor dem Eintritt in die Gesellschaft Jesu sich zur Spiritualität der Kartäuser und auch zur mystischen Theologie des Dominikaners Johannes Taulers hingezogen fühlte.

Die Kölner Kartause stand in der Tradition der devotio moderna, d.h. sie war gekennzeichnet durch eine ausgesprochene Christozentrik, durch Herz-Jesu-Frömmigkeit und durch den mystischen Weg nach Innen. Das kam dem jungen Petrus Canisius entgegen, der Gott auf dem augustinischen Weg nach Innen suchte. Bereits sein geistlicher Mentor, Nikolaus van Essche, der aufgrund seiner schlechten Gesundheit nicht Kartäuser werden konnte, machte Canisius mit dieser mystischen Tradition vertraut. Während seiner Studienzeit in Köln wurde Canisius zudem vom Kartäusermystiker Johannes Justus von Landsberg beeinflusst.

Landsberg hatte 1539 geschrieben: Das Herz Jesu ist «die Schatzkammer aller himmlischen Gnaden, das Tor durch das wir Gott nahen und Gott zu uns herabkommt». Wir wissen, dass Canisius eine ausgesprochene Herz-Jesu-Frömmigkeit pflegte, die er in seinen täglichen Gebeten ausdrückte. Vor der Ablegung seiner Gelübde in die Hände des Ignatius wurde ihm am 4. September 1549 in Rom eine mystische Erfahrung zuteil, eine visionäre Schau. In seinem Testament macht er daraus ein Herz-Jesu-Gebet, das an die Sprache Landsbergs angelehnt ist: «Du öffnetest mir damals gewissermassen das Herz Deines so heiligen Leibes, in dessen Inneres schauen zu dürfen ich den Eindruck hatte. Du trugst mir auf, aus diesem Brunnen zu trinken, indem Du mich einludst, aus Deiner Quelle mir Heil schenkendes Wasser zu schöpfen, oh mein Heiland. … Weil ich es wagte, mich Deinem so milden Herzen zu nähern, auf das dort meine tiefsten Sehnsüchte Erfüllung finden, versprachst Du mir daraufhin, meine entblösste Seele mit dem Gewand des Friedens, der Liebe und der Beharrlichkeit zu bedecken. Dies diene der Stärkung meiner Berufung in der Gesellschaft Jesu».

Zweiter Gedanke

Dass Canisius dann doch nicht in die Kölner Kartause, sondern in die neue Gesellschaft Jesu eintrat, das heisst in einen eminent weltzugewandten Orden mit dem Motto «die Welt ist unser Haus», das ist das Verdienst des Pierre Favre, der genauso wie er zur Mystik und zur Herz-Jesu-Verehrung neigte. Canisius sagt in seinem Testament, er habe durch Pierre Favre «die grösste aller Wohltaten, deren ich auf Erden teilhaftig wurde», empfangen. Denn Canisius lernte, wie die Einrichtung der Gesellschaft Jesu «wohl geeignet sei, mich zu einem guten, gottseligen Leben und zum Dienste Gottes anzuleiten», d.h. dass sie ein guter Ort für seine eigene geistige Vervollkommnung in der Nachfolge Jesu wäre. Durch Favre entdeckt Canisius, dass er mit dem ignatianischen «Gott finden in allen Dingen» als Seelsorger auch ein Mystiker in der Einheit von Aktion und Kontemplation sein kann. Favre konnte Canisius für die Gesellschaft Jesu begeistern, weil die frühen Jesuiten auch ein mystisches Grundverständnis hatten – und in den Geistlichen Übungen des Gründers Ignatius von Loyola eine Brücke zur mystischen Tradition der Kirche sahen. Während die mystische Tradition der Kartäuser das individuelle, religiöse Leben mit Nachdruck betont, unterstreicht Ignatius die persönliche spirituelle Erfahrung. Es ist kein Zufall, dass auch Ignatius zu Beginn seiner religiösen Biografie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, Kartäuser zu werden. Es gab eine tiefe Verwandtschaft zwischen dem ignatianischen und dem kartäusischen Geist.

In seinen Briefen und persönlichen Erinnerungen merkt man bei Canisius einerseits die Treue zur kartäusischen Mystik und andererseits die Begeisterung für die ignatianische Synthese von Aktion und Kontemplation. So etwa betont er in einem langen Schreiben, das er auf Bitten seines Ordensgenerals Claudio Acquaviva verfasste, wie wichtig es für einen Jesuiten ist, «Gott als in allen Dingen gegenwärtig zu sehen und seine Seele nicht nur im Gebet gen Himmel zu erheben, sondern jedes Ding und jede Handlung mit Gott in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise erleben wir nicht weniger Andacht in der Arbeit als in der Kontemplation – wie Ignatius es uns so wunderbar vorgelebt und gelehrt hat». Canisius nahm dabei Bezug auf die Worte Jesu: «Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht» (Joh 15,5).

In der Kölner Studienzeit wurde Canisius auch von der mystischen Theologie des Dominikaners Johannes Tauler geprägt, den er später «einen kostbaren Seelenschatz» nennen wird. Tauler gab den Gottsuchenden diesen Ratschlag: «Lass dich auf dein Nichtsein fallen und ergreife dein Nichtsein und halt dich daran fest und an sonst nichts weiter». Auch dies wird zeitlebens wichtig für Canisius sein: die Erkenntnis seiner Unwürdigkeit und Nichtigkeit vor Gott – verbunden mit dem Vertrauen allein auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit, in die er sich hineinfallen lassen durfte.

Die Prägung Taulers, die natürlich auch mit der ignatianischen Mystik konvergierte, ist bei der zweiten mystischen Gotteserfahrung des Canisius im Juni 1568 in der Kathedrale von Ancona deutlich. Ihm wurde mit einem Mal klar, dass er all seine Absichten und Handlungen «auf das einzig wahre und feste Fundament gründen sollte». Dieses Fundament war aber «die Erkenntnis des eigenen Ich, meiner Armseligkeit und des eigenen Nichts». Nur aus diesem «Abgrund meiner eigenen Nichtigkeit» heraus konnte sich Canisius dann, wie er festhält, doch noch Gott nähern und sich in den «Abgrund Deiner überpreiswürdigen Erhabenheit» hineinfallen lassen. Ein Biograph des Petrus Canisius hat festgestellt, dass sogar die Auswahl der biblischen Zitate in diesem Erfahrungsbericht an eine Predigt Taulers angelehnt ist (Mathias Moosbrugger).

Canisius wird ganz und gar «Jesuit», ja ein «Musterjesuit» in der Verbindung von Aktion und Kontemplation. Aber die Prägung durch die kartäusische Mystik und die mystische Theologie des Johannes Tauler ist auch vorhanden. Sie hilft ihm, «dem Unermüdlichen» (Pierre Emonet), dem «Aktivismus» nicht zu verfallen und ein «Meister des inneren Gebetes» zu werden.

Dritter Gedanke

Canisius wird den jesuitischen Welteinsatz zugunsten der anderen immer wieder mit der intensiven Kontemplation verbinden.  Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Engagement für die anderen und der Perfektionierung der eigenen Nachahmung Jesu durch inneres Beten. Viele Jesuiten der Anfänge dachten auch so, angefangen mit Ignatius, Pierre Favre und Franz von Borja – von Baltasar Alvarez, dem Beichtvater der Teresa von Avila zu schweigen.

Aber unter den Generälen Mercurian und Acquaviva werden zu Lebzeiten des Canisius die Weichen zugunsten der klaren Unterscheidung zwischen der mystischen, kontemplativen Tradition nach Art der «Kartäuser» oder der unbeschuhten Karmeliter und der Gebetsart eines Jesuiten gestellt. In einem Rundbrief vom 8.5.1590 an alle Jesuiten sagte Acquaviva, dass man nicht die Kontemplation geringschätzen oder «den Unseren» verbieten sollte. Aber er verwies darin nachdrücklich auf den Unterschied zwischen der kontemplativen Gebetsart etwa eines Kartäusers oder irgendeines anderen Ordensmanns und einem Mitglied der Gesellschaft Jesu, angefangen mit der verwendeten Zeit. Jener könne solange beten und meditieren, wie er möchte, da er sonst nichts zu tun habe, während dieser an seine apostolische Tätigkeit denken müsse bzw. nicht erlauben könne, dass die Liebe zum Ruhegebet ihn daran hindere, dem Nächsten prompt zur Hilfe zu eilen; weil die Mitglieder der Gesellschaft Jesu zum Wohle des Apostolats das Ruhegebet unterbrechen sollten, wünschte sich der selige Ignatius, «dass die Unseren in jedem Ort und in jeder Tätigkeit den Geist zu Gott mittels häufiger Seufzer erheben und dass sie ihn immer präsent hielten» – etwa im Sinne des Gott-finden-in-allen-Dingen. Acquaviva hat damit die Gebetsart der Gesellschaft Jesu klar formuliert, zugleich aber die Kontemplation in den Dienst des apostolischen Eifers gestellt.

Ich habe den Eindruck, dass Canisius mit dieser starken Zurückweisung des Primats der Kontemplation als Weg für die individuelle Vervollkommnung nicht einverstanden sein konnte. In einem Brief aus der Zeit in Freiburg an einen unbekannten Schweizer Priester, vermutlich an ein Mitglied des Kapitels St. Nikolaus, aber auch gültig für die Jesuiten seiner Zeit, gibt Canisius einige praktische Ratschläge aus seiner eigenen Gebetserfahrung heraus, denn das Schlimmste in der Seelsorge sei, «wenn das Salz der Erde schal werde». Daher solle man das Stundengebet nicht «oberflächlich überfliegen, leichtsinnig und schnell zu Ende führen […] gewohnheitsmässig die vorgeschriebenen Gebete herunterleiern […] Einige hindert eine übermässige Sorge um zeitliche Dinge, andere die Zerstreuung durch die Studien; so besinnen sie sich nur widerwillig auf sich selber und auf den Dienst Gottes und können nicht in Ruhe das Geistliche besorgen». Canisius ermahnt im Grunde, das mündliche Gebet mit dem inneren Beten zu verbinden und der Kontemplation genug Zeit einzuräumen.

Canisius wurde 1925 zum Kirchenlehrer erhoben, 1926 folgte sein Zeitgenosse und Karmelit Johannes vom Kreuz, der in seiner Jugend ebenso Kartäuser werden wollte, bevor die Begegnung mit Teresa von Avila ihn für die Reform des Karmels begeisterte. Er hat den missionarischen Aktivismus seiner Zeit, nicht zuletzt der Jesuiten, kritisch beobachtet, und sich um 1590 dazu ähnlich wie Canisius geäussert: «Diejenigen, die sehr aktiv sind und die Welt mit ihren Predigten und äusseren Werken umfassen wollen, mögen hier bedenken, dass sie der Kirche von grösserem Nutzen wären und Gott viel mehr gefallen würden […], wenn sie zumindest die Hälfte ihrer aktiven Zeit für das Verweilen bei Gott im Gebet benutzten […]. Andernfalls ist alles ein lautes Hämmern, das kaum etwas nützt, manchmal sogar gar nichts und oftmals Schaden anrichtet. Gott bewahre, dass das Salz schal werde (Mt 5,13); denn auch wenn es äusserlich noch wie Salz aussieht, wird es nichts nutzen. Man weiss ja, dass man gute Werke nur mit Gottes Hilfe bewirken kann».

«Gott bewahre, dass das Salz schal werde» – sagten die Kirchenlehrer Petrus Canisius und Johannes vom Kreuz. Dies ist eine sehr aktuelle Botschaft an die heutigen Mitarbeiter im Weinberg des Herrn. Denn dieser Primat der Kontemplation, des NUR GOTT, ist auch im Schatten der heutigen Kirchenkrise bitter nötig, die auch eine Krise der Gotteserfahrung ist.

Ich habe den Eindruck, dass die Jesuiten von heute in Einklang mit den mystischen Anfängen der Gesellschaft Jesu, zu denen auch Canisius gehört, dies deutlich erkannt haben. Aus diesem Grund wünsche ich den Mitgliedern der neuen Provinz Zentraleuropa, dass sie bei aller Aktivität mit dem Weinstock kontemplativ verbunden bleiben, denn getrennt von ihm können wir «nichts vollbringen» (Joh 15,5).

Mariano Delgado, Dekan der Theologischen Fakultät Freiburg

Fribourg, den 27. April 2021, 500. Geburtstag des hl. Petrus Canisius

Empfohelene Literatur

Mathias Moosbrugger, Petrus Canisius. Wanderer zwischen den Welten, Innsbruck 2021.

Pierre Emonet, Petrus Canisius. Der Unermündliche, Würzburg 2021.

Mariano Delgado, Peter Canisius als Seelsorger in Freiburg – Oder: Drei Modernisierungsschübe Ende des 16 Jahrhunderts. In: SZRKG 104 (2010) 289-306.

Universität Fribourg
27. April 2021 | 09:35