Bob Dylan spielt Hamlet: Was ist faul in den Vereinigten Staaten?

Auf seinem neuen Album glänzt Bob Dylan mit durchwegs neuen Songs. «Rough and Rowdy Ways» ist ein Meisterwerk, das die Konflikte der amerikanischen Gegenwart aufgreift.

Bob Dylan vereint viele Gegensätze in seiner Musik. Das hat seine Verächter oft irritiert. Papst Benedikt XVI. zum Beispiel erinnerte sich kurz nach Amtsantritt an eine Meinungsverschiedenheit mit seinem «geliebten Vorgänger» Karol Wojtyla, Papst Johannes Paul II. Medienbewusst wie immer, hatte dieser es gewagt, den «Protestsänger» Bob Dylan zu einem eucharistischen Kongress in Bologna einzuladen. Das war im September 1997, und Dylan nahm die Einladung gerne an, um das Comeback-Album «Time Out of Mind» effektvoll zu promoten.

Das Resultat war für beide Seiten erfreulich. Schlagzeilen und Titelseiten in der halben Weltpresse, der Papst und der «Gegenpapst aus der Gegenkultur» zusammen auf derselben Bühne. Bei dieser Gelegenheit kommentierte Wojtyla auch den Dylan-Klassiker «Blowin’ in the Wind». Auf all die besorgten Fragen wusste er eine konkrete Antwort: «C’è una sola via!»

Kein falscher Prophet

War das eine Sternstunde oder der Tiefpunkt zweier Karrieren? Ratzinger, der nüchterne Deutsche, blieb misstrauisch, er warnte den polnischen Charismatiker vor diesem «falschen Propheten» und kam, selber Papst geworden, ausdrücklich auf seine Bedenken zurück. «Ich war skeptisch und bin es in gewisser Weise heute noch, ob es wirklich richtig war, diese Art von ‹Propheten› auftreten zu lassen», vermerkte er zehn Jahre später säuerlich.

Jetzt zeigt sich auch Dylan als Elefant mit gutem Gedächtnis. Erst heute, mit seinem neuen Album, antwortet er Ratzinger – von Papst zu Papst, sozusagen: «I ain’t no false prophet. I just know what I know», singt er in «False Prophet». Die Musik ist direkt beim legendären Blueser Billy «The Kid» Emerson abgekupfert. Den Satz aber, den hätten biblische Propheten wie Jeremias oder Amos genauso trotzig formulieren können: Ich bin kein falscher Prophet – ich weiss, was ich weiss!

Aber wenn er schon kein falscher Prophet ist, so ist er vielleicht ein Rufer in der Wüste. Ende März schon hatte sich Dylan mit der epischen Ballade «Murder Most Foul» als ein neuer Hamlet inszeniert. War das Stück Vorbote eines neuen Albums?, fragte man sich gleich. Dylan spielte die Erwartungen herunter: «Das ist ein unveröffentlichter Song, den wir vor einer Weile aufgenommen haben.» Und geradezu grossväterlich mahnte er: «Stay safe, stay observant and may God be with you!»

Mit 17 Minuten ist «Murder Most Foul», mit Piano und Streichern ungewöhnlich instrumentiert, der längste Song in Dylans Gesamtwerk. Der Text, der eigentlich wie ein dramatisches Rezitativ daherkommt, ist so dicht und anspielungsreich, dass sich daraus ein Kompendium von Verschwörungstheorien und fünfzig Jahren Pop-Kultur zusammenstellen liesse. Vor allem aber kommt Bob Dylan hier 57 Jahre nach der Ermordung John F. Kennedys nochmals eindringlich auf dieses amerikanische Drama zu reden.

Der Barde selber gibt gleichsam den empörten Prinzen, der mit seinem Lied zu bedenken gibt, was faul sein könnte im Staate. Bei Shakespeare wird Hamlets heiliger Zorn durch den Mord an seinem Vater entfacht. Dylan greift nun den Präsidentenmord von 1963 auf, um diesen als Trauma seiner Jugend, aber auch als Trauma der amerikanischen Pop-Kultur auszulegen. Auf den politischen Schock folgte damals ein kulturelles Vakuum, in dem sich dann die «Beatlemania» breitmachte. Die Briten haben damals ja auch Dylan zu seiner stilistischen Wende vom Folk zum Rock inspiriert.

Ein tröstender Song

Wann «Murder Most Foul» wohl entstanden ist? Man könnte sich vorstellen, dass Dylan ihn direkt im Anschluss an die Titelnummer von «Tempest» (2012) geschrieben hat (seinem letzten Album mit Eigenkompositionen). In jener gleichfalls epischen, von Shakespeare inspirierten Ballade besang er die Katastrophe der «Titanic» als eine schicksalshafte Zeitenwende. Aber nein, seine Stimme ist unterdessen eine andere. In der Zwischenzeit hat sich der Sänger lange mit dem Repertoire seines geheimen Vorbilds Frank Sinatra beschäftigt und dabei neu singen gelernt. Er tönt sorgfältiger, weniger rotzig.

Es mag purer Zufall gewesen sein, dass die Veröffentlichung von «Murder Most Foul» ausgerechnet in die Corona-Zeit fiel. In den USA aber wurde der Song, der in kürzester Zeit die Charts bis zur Spitze emporkletterte, allenthalben als Trost begrüsst und nicht selten als Kommentar zur Pandemie ausgelegt. Einmal mehr wurde Bob Dylan als Symbolfigur und Wortführer in Anspruch genommen. Als hätte er den Amerikanern im Corona-Schock gezeigt, was für ein unzuverlässiger «Vater» jetzt im Weissen Haus sitzt.

Der Sänger und Poet liess es bei dem einen Song aber nicht bewenden. In den folgenden zwei Monaten veröffentlichte er zunächst zwei weitere Titel, «I Contain Multitudes» und «False Prophet». Und jetzt ist ein ganzes Album erschienen: «Rough and Rowdy Ways». Der Titel ist zwar beim legendären «Yodeling Cowboy» Jimmie Rodgers geklaut. Doch das Album bietet keine Cover-Versions, vielmehr verwöhnt es mit sieben neuen Dylan-Songs.

«Rough and Rowdy Ways» ist ein Meisterwerk! Vielleicht das grosse Werk, von dem Dylan einst in «When I Paint My Masterpiece» träumte? Es handelt sich jedenfalls um ein 70-minütiges Repertoire auf höchstem Niveau. Dem Sänger zur Seite stehen der brillante Gitarrist Charlie Sexton sowie eine Rock-Begleitband, die jedem Song seinen eigenen Sound verleiht. «My Own Version of You» klingt wie eine abgründige Chaconne. «I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You» ist eine zärtliche Doo-Wop-Ballade mit Background-Vocals. Und das bluesige «Crossing the Rubicon» oder «Mother of Muses», eine Ode an Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, offenbaren Dylans Affinität zur griechisch-römischen Antike.

«Rough and Rowdy Ways» ist zwar geprägt von politischen Untertönen und historischen Anspielungen. Aber Dylan zeigt sich zuweilen auch von einer unbeschwerten Seite. «I Contain Multitudes» zum Beispiel macht dem Nobelpreisträger auf spielerische Art alle Ehre. Den Titel hat er von Amerikas grossem Dichter Walt Whitman übernommen. Abermals jagen sich historische, literarische und musikalische Reminiszenzen: von Edgar Allan Poe über Anne Frank und Indiana Jones bis hin zu «them British bad boys, The Rolling Stones». Nicht zu vergessen Beethovens Sonaten und Chopins «Préludes».

Der Song erweist sich als verschmitztes Jonglieren mit Reimen, Insider-Jokes und doppelbödigen Einsichten, die Dylan einmal mehr als Meister der Vermischung von Hoch- und Pop-Kultur ausweisen. Dabei beweist er mitunter auch Freude am Naheliegenden und Banalen. Nicht anders als jeder andere Humorist tut er manches, wie Morgensterns Wiesel, «um des Reimes willen».

Die Kritik feiert das neue Album euphorisch und erkennt in Bob Dylan den subtilen Zeitdiagnostiker. «Rough and Rowdy Ways» sei «a record we need right now», heisst es in der Dubliner «Hot Press». Und der «Rolling Stone» schreibt: «his most timely album ever». Dylan wird dabei vor allem als Mahner der Stunde verstanden.

Passt diese Rolle aber? Tatsächlich lässt der Mord an George Floyd in Dylans Heimatstaat Minnesota an jene rassistischen Verbrechen denken, die der Singer-Songwriter schon länger in seinen Songs thematisiert – von Medgar Evers über George Jackson bis hin zu den gelynchten schwarzen Zirkusarbeitern, die er 1965 in «Desolation Row» besang.

Und wenn Bob Dylan den «Mordfall Kennedy» gerade jetzt nochmals aufgegriffen hat, ist das gewiss kein Zufall. Sieht er im dramatischen Ereignis den Anfang einer anhaltenden amerikanischen Tragödie? Ist Donald Trump für Dylan eine Galionsfigur des Niedergangs? Tatsächlich scheint er den amtierenden Präsidenten direkt anzusprechen in Zeilen wie «You greedy old wolf, I’ll put a price on your head».

Gegenwärtige Vergangenheit

Also doch ein falscher Prophet? Nein, Dylan ist vielschichtig. Im Interview mit der «New York Times» wies er jüngst darauf hin, dass er das amerikanische Schicksal in den neuen Songs weit in die Vergangenheit zurückverfolge – um etwa auch an das berüchtigte «Sand Creek Massacre» von 1864 zu erinnern, als die US-Armee Hunderte von friedlichen Cheyenne- und Arapahoe-Indianern tötete.

Wie heisst es bei William Faulkner: «Das Vergangene ist nie tot. Es ist nicht einmal vergangen.» Und so erfüllt Amerikas Hamlet einmal mehr das Gebot des Eingedenkens. Denn wir verstehen die Gegenwart nicht, ohne die Vergangenheit zu kennen. Schon oft hat Bob Dylan auf diese Weise benannt, was faul ist im Staate. Mit seinen 79 Jahren gelingt ihm dies so eindrücklich wie selten zuvor.

Neue Zürcher Zeitung
19. Juni 2020 | 14:49