Auswertung des Gutachtens zum sexuellen Missbrauch im Bereich der Erzdiözese München und Freising

Medienmitteilung

Die Kanzlei Westphal/Spilker/Wastl (WSW) hat am 20. Januar 2022 das von ihr im Auftrag des Erzbistums München und Freising angefertigte Gutachten präsentiert. Es ist ein umfangreiches Werk geworden. In der Präsentation wurde von Frau Dr. Westphal angemerkt, dass es unverständlich sei, dass Erzbischof Kardinal Marx das Gutachten nicht persönlich entgegennimmt. Dieser Auffassung von Frau Westphal stimmen wir ausdrücklich zu. Es wurde des Weiteren darauf hingewiesen, dass das vorliegende Gutachten kein rein rechtliches sei, sondern sehr viel weiter gehe. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn der Auftrag dies umfasst. Als problematisch sehen wir allerdings die Tatsache, dass durch Wertungen und Emotionalität Stimmungen erzeugt werden, die auch in die falsche Richtung laufen können. Vielleicht ist deshalb auch an mehreren Stellen des Gutachtens zu lesen, dass die Leserin bzw. der Leser sich ein eigenes Bild machen solle, weil das Gutachten eine Diskussionsgrundlage sei. Ob aber die Vorwegnahme von Wertungen für Betroffene, die sich mit den Tatsachen auseinandersetzen, hilfreich ist oder eher nicht, sei dahingestellt.

Im Gutachten wird ausgesagt, dass das Jahr 2010 von vielen als «Wendepunkt» im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland wahrgenommen wird und dies nicht zuletzt durch das im Jahr 2010 in Auftrag gegebene Gutachten für das Erzbistum München und Freising, welches ebenfalls von der Kanzlei WSW angefertigt wurde. An verschiedenen Stellen des neuen Gutachtens wird auf das damalige Gutachten Bezug genommen, jedoch weiß niemand, was genau drinsteht. Außer einer Kurzfassung in englischer Sprache ist nichts zu lesen. Deshalb fordern wir, dass das Gutachten von 2010 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Wenn gesagt wird, eine Benennung sei keinesfalls als Einladung zu verstehen, in Reaktion auf gewonnene Erkenntnisse nunmehr Einzelpersonen zu attackieren oder sogar an den Pranger zu stellen, dann erscheint die in der Präsentation massiv in den Vordergrund gestellte Falschaussage des emeritierten Papstes Benedikt XVI. schon sehr populistisch zu sein, denn gerade hinsichtlich des Priester X ist doch festzustellen, dass Kardinal Wetter weitaus mehr Fehlverhalten an den Tag gelegt hat.

Nicht zu verstehen ist auch, dass die Kanzlei WSW das Gutachten als Bühne nutzt, um ihr Beleidigtsein wegen des nicht veröffentlichten Gutachtens für das Erzbistum Köln darzustellen, denn wie ist es sonst zu verstehen, dass die unterschiedlichen Auffassungen von WSW und der Kanzlei Gercke, Köln, zur Geschäftsherrenhaftung seitenlang ausgeführt werden. Es ist doch allgemein bekannt, dass es bei 2 Juristen 3 Meinungen gibt. Wenn man also die Geschäftsherrenhaftung als anwendbar für das Verhalten der Kirchenoberen ansieht, dann sollte man das ausführen, aber nicht die Konkurrenz vorführen wollen. Das hat u.E. in einem solchen Gutachten nichts zu suchen und ist dort fehl am Platz.

Was in dem Gutachten deutlich wird, ist der desolate Zustand in der Verwaltung. Die Aktenführung war chaotisch, wie das auch schon durch Gutachten in anderen (Erz)Bistümern festgestellt wurde. Allein eine durchgehende Paginierung war nicht ersichtlich. Deshalb ist eine Digitalisierung der Personalakten unabdingbar und verschiedentlich in Arbeit bzw. abgeschlossen. Damit darf es aber unserer Meinung nach nicht getan sein. Die digitale Aktenführung, die zunächst für das einzelne (Erz)Bistum vorgenommen werden muss, sollte eingebunden werden in ein Netzwerk, welches nicht nur den Bereich der DBK umfasst, was als Nahziel zu sehen ist, sondern irgendwann weltumspannend sein, da die katholische Kirche eine Weltkirche ist. Erst wenn in einem solchen Zentralregister sämtliche Personalakten der in diesem System Tätigen vollständig eingesehen werden können, kann keiner mehr durchschlüpfen, wie das in der Vergangenheit der Fall war, wenn ein im Ausland beschuldigter oder sogar verurteilter Priester nach Deutschland kam und dort in der Seelsorge eingesetzt wurde. Beispiele dazu finden sich im vorliegenden Gutachten.

Als eines der Ergebnisse des Gutachtens ist auch die auffällig unterschiedliche Behandlung von Tätern zu sehen, denn ein Priester wurde sehr viel milder bestraft als ein Laie, was offensichtlich allein dem Schutz der Institution diente. Der Laie wurde entlassen, dem Priester sagte man beispielsweise, dass man nur sein Bestes wolle. Davon abgesehen standen die Opfer bis 2010 überhaupt nicht im Fokus, sondern nahezu ausschließlich der Schutz der Kirche. Wenn Kardinal Wetter sagt, dass es in der Zeit vor 2010 eben ganz anders war und die Opfer keine Beachtung gefunden haben, sondern erst nach 2010, dann ist das allein schon deshalb unverständlich, weil Kardinal Wetter bereits 2002 einen Kleriker und eine Theologin zu den ersten «offiziellen Ansprechpartnern für Pädophiliefälle» ernannt hat. Ihm war also durchaus die Problematik bewusst, aber warum hat er die Opfer dann nicht im Blick gehabt? Das Gutachten sagt allgemein, dass sich die kirchlichen Verantwortungsträger den Missbrauchstätern, aber auch der Institution selbst und deren jeweiligen Interessen sehr viel enger verbunden fühlten als den Geschädigten und dem Leid. Und Kardinal Marx betont, dass er in erster Linie das Wort Gottes verkündet. Aber welches? Das, was die Kirche geschrieben hat oder das, was Gott vorgegeben hat. Bei letzterem hätte man die Opfer im Blick gehabt und sich um sie gekümmert und nicht nur den eigenen Verein geschützt.

Nach dem Bekanntwerden der Fälle am Canisius-Kolleg schoss die Zahl der gemeldeten Fälle in die Höhe. Kardinal Marx bemühte sich und bot Gespräche mit Betroffenen an. Einige empfanden diese Gespräche als gut und zugewandt, aber manche waren auch enttäuscht, weil Briefe unbeantwortet blieben bzw. er sich aus der Verantwortung gestohlen hat, wenn es um die Versetzung des Priester X in die Tourismusseelsorge nach Bad Tölz ging. Oder wieso wimmelte er 2021 einen Betroffenen ab, der ihn in Garching darauf angesprochen hatte?

Durchgehend ist dem Gutachten zu entnehmen, dass die Organisationsstruktur und damit einhergehend die Verantwortlichkeiten nicht erkennbar waren. Denn wie sonst ist erklärbar, dass nahezu alle von den Gutachtern Befragten angaben, «war nicht zuständig, lag in der Verantwortlichkeit von Herrn Soundso, das wurde immer von dem und dem gemacht» und anderes mehr. Auch «weiß ich nicht, kann mich nicht mehr erinnern» waren häufige Antworten bzw. Ausflüchte. Und das war durch die Bank so. Ein Hin- und Hergeschiebe von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten. Offensichtliche Ausnahme war allenfalls Herr Dr. Beer, der zu Beginn seiner Zeit als Generalvikar zunächst lange Zeit mit dem Aufbau einer klaren Struktur innerhalb des Verwaltungsapparates beschäftigt war und dies durchgeführt hat.

Den Empfehlungen der Gutachter kann man nur beipflichten. Dazu gehört die Forderung nach Einrichtung einer Ombudsstelle. Des Weiteren sollte Akteneinsicht gewährt werden, indem die Betroffenen ihre Akte einsehen können. Dies sollte aber nicht allein auf das jeweilige Bistum bezogen sein, sondern auch hinsichtlich der Anerkennungsverfahren durch die Kommission bei der DBK, denn die Praxis sieht das z.Zt. nicht vor, weil die Verfahren nach Aktenlage am grünen Tisch entschieden werden und die Betroffenen weder persönlich angehört werden noch Einspruch gegen die Entscheidung einlegen können. Eine Stärkung der Betroffenenbeiräte muss ebenfalls erfolgen. Nicht nur, wie angeführt, sollte ihnen eine maßgebliche Rolle bei allen wichtigen Entwicklungen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufklärung betreffend Fälle sexuellen Missbrauchs zukommen, sondern auch eine beratende Tätigkeit bis hin zur Mitarbeit bei der Erstellung von Missbrauchsgutachten.

Alles in allem erschließt sich nicht immer, welche Statements die Gutachter als glaubwürdig erachten oder eben nicht. Wenn von «überwiegend wahrscheinlich» die Rede ist, dann kann etwas stimmen, muss es aber nicht. Auch die Kritik an der Vorgehensweise von Offizial Wolf, der sich anwaltlich vertreten ließ, ist nicht nachvollziehbar. Jedem steht das Recht zu, sich anwaltlich beraten und/oder vertreten zu lassen, das dürfte einer Rechtsanwaltskanzlei wie WSW auch klar sein. Absolut unverständlich ist die Aussage von WSW, dass die bisher vorgelegten Gutachten in etwa alle zu dem gleichen Ergebnis kommen, wie etwa Schutz der Institution vor Opferfürsorge, fehlende Organisationsstruktur, mangelhafte Aktenführung usw., und deshalb weitere Gutachten verzichtbar seien. Haben denn die Betroffenen in den jeweiligen (Erz)Bistümern kein Recht darauf zu erfahren, wer an der Vertuschung beteiligt war, wie mit den Tätern umgegangen wurde etc.? Will man das alles unaufgeklärt lassen? Würde WSW das auch sagen, wenn man schon den nächsten Auftrag in der Tasche hätte? Ohnehin ist es doch nicht erwiesen, dass «versierte» Gutachter einen klareren Blick auf die Geschehnisse haben als andere. Das trifft, wie im Gutachten zu lesen ist, ja auch auf die Auswahl der psychologischen Gutachter zu, die quasi einen Dauerauftrag haben. Hier wäre ein Wechsel zu anderen Gutachtern angezeigt, warum nicht bei den Kanzleien? Dass WSW eine gewisse Routine entwickelt hat, ist auch an der Verwendung von manchen Textbausteinen im gesamten Gutachten ersichtlich. Und im Hinblick auf Transparenz fehlte es in der Präsentation auch, denn das von Herrn Wastl in die Höhe gehaltene Sitzungsprotokoll vom Januar 1980 wurde inhaltlich nur angesprochen, aber was drinsteht, ist leider nicht öffentlich gezeigt worden. Oder war es nur ein leeres Blatt Papier?

Trotz mancher Kritik bleibt festzuhalten, dass sich das Bild verfestigt, in dem in der Vergangenheit seitens der katholischen Kirche viele schwerwiegende Fehler gemacht wurden hinsichtlich des Umgangs mit sexuellem Missbrauch an Minderjährigen. Dass durch Gutachten wie dieses und verschiedene andere Licht in diese dunkle Vergangenheit gebracht wird und mancher Kirchenfürst, den man fast schon als Heiligen sah, plötzlich gar nicht mehr so heilig erscheint, sondern auch seine Fehler hat, ist richtig und gut. Wenn die Schuldigen, sofern sie noch leben, sich zu ihren Taten bekennen und bereit sind, den hinterlassenen Saustall auszumisten, wie wir das bereits im Frühjahr 2021 in den Medien gefordert haben, dann kann das nur positiv sein. Vogel-Strauß-Politik mit Kopf in den Sand hilft hier nicht weiter. Das Bekenntnis, verbunden mit tätiger Reue und dem Willen zur Wiedergutmachung, das brauchen die Betroffenen, denn endlich werden sie gehört und es wird ihnen geglaubt, nachdem man sie jahrzehntelang nur als lästige Störenfriede gesehen hat.

Peter Brinkmann-Henselder Sprecher Betroffenenbeirat Erzbistum Köln

Gastbeitrag
26. Januar 2022 | 11:25