Angst macht sich breit

In ganz Europa nimmt der Antisemitismus zu. Wie sieht der Alltag für Schweizer jüdischen Glaubens aus? Die Antwort sollte uns beunruhigen.

Ausgerechnet an einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus passierte es. Und ausgerechnet in einem deutschen Parlamentssaal: Während der Rede der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, verlassen zwei Dutzend Abgeordnete der rechtspopulistischen Partei AfD den Saal des bayrischen Landtags, weil sie sich angegriffen fühlen. Seit dem Vorfall vor etwas mehr als einer Woche wird Knobloch von einer Welle von Morddrohungen und Beschimpfungen überflutet. Ein Vorfall von vielen in Deutschland: Der Parteivorsitzende der AfD bezeichnet die Nazi-Zeit jüngst als «Vogelschiss» in der deutschen Geschichte. In Berlin prügelt ein aus Syrien stammender Mann mit dem Gürtel auf zwei Juden ein, die Kippa tragen. Ein Politiker bezeichnet ein Holocaust-Mahnmal als «Denkmal der Schande». Doch in Frankreich ist die Lage für Menschen jüdischen Glaubens noch bedrohlicher: Seit 2003 starben elf Juden in einer Serie von Attentaten, zuletzt im März 2018 eine 85-jährige Holocaust-Überlebende. Das hat Konsequenzen: Seit einigen Jahren verlassen bis zu 6500 Juden pro Jahr das Land Richtung Israel, USA und Kanada. Hauptsache raus aus Europa.

Physische Gewalt und steigende Angst

Und in der Schweiz? Wie steht es hier um den Antisemitismus? Auch hier gibt es Fälle, in denen Judenhass in physische Gewalt umschlägt: Im letzten Frühling lief ein Mann einem jüdisch-orthodoxen Vater und dessen Sohn hinterher und schrie: «Euch schneide ich die Kehle auf.» Im Sommer ging ein anderer mit einem Messer auf eine Gruppe orthodoxer Juden los. Beides auf offener Strasse, mitten in Zürich. In Basel warf ein Täter vier Mal innerhalb weniger Monate Steine in die Fenster einer jüdischen Metzgerei und riss einmal den Buchstaben «J» der Beschriftung «Jüd. Genossenschafts-Metzgerei» runter. Unbekannte demolierten zudem im Dezember das Fenster der Synagoge.

Was macht das mit den Bürgern jüdischen Glaubens in der Schweiz? Wir wollten es genau wissen und haben zahlreiche Gespräche mit jüdischen Menschen geführt. Das Fazit ist beunruhigend.

«In der Schweiz ist der Antisemitismus unterschwellig», sagt Anna Rabin (39), Museumsmitarbeiterin.

«Schweizer sind extrem anständig, und trotzdem haben sie antisemitische Bilder im Kopf», meint Adam Brody (51) Modedesigner.

«Es ist nicht so, dass es jeden Tag passiert, aber ich habe schon ein paar Dutzend Mal schlechte Erfahrungen gemacht», sagt Zev Marilus (37), Zeitungsangestellter.

Ein Grossteil des Judenhasses entleert sich übers Internet. Mit Aussagen wie «Mir müend alli Jude umbringe. Gas-Chammere mit däne». Oder über Social-Media-Apps wie «Jodel», die vor allem von Studenten genutzt wird: «Ich dörf so Witz verzelle, min Grossvater isch imne KZ gstorbe – er isch vom Wachturm gheit.» Medien kennen das Problem. Auch die Blick-Gruppe. Bei Artikeln zu Israel oder dem Judentum gilt auf der Redaktion erhöhte Wachsamkeit. Zuletzt sorgten Artikel über George Soros für Hetzkommentare. Der US-Philantrop jüdischer Herkunft ist ein Feindbild rechtsnationaler Kreise. Postings mit antisemitischem Inhalt werden nicht freigeschaltet.

Eine Befragung des Bundesamts für Statistik zeigt, dass die Schweiz in Sachen Antisemitismus keine Insel in Europa ist. Fünf bis zehn Prozent der Schweizer haben ein klar antisemitisches Weltbild, weitere rund 20 Prozent hegen zwar Vorurteile, äussern diese aber kaum. Genauer kann man Judenhass hierzulande nicht messen. Anders als Frankreich oder Deutschland führt die Schweiz keine offizielle Statistik zu antisemitisch motivierten Straftaten. Die Polizei ist nicht dazu verpflichtet, das Motiv für eine Tat aufzunehmen.

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) zählte 2017 39 Verstösse, doch es melden sich längst nicht alle, die auf der Strasse beschimpft werden. «Die Dunkelziffer ist hoch», sagt SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner.

Für Schweizer Juden ist Hass Teil des Alltags

Zev Marilus geht in traditionell jüdisch- orthodoxer Kleidung mit Hut und Mantel zur Synagoge, er erlebt immer wieder, dass jemand das Autofenster herunterkurbelt und «Saujude» ruft. «Wissen Sie, in Zürich wächst man damit auf, das ist normal», sagt er. Schlaflose Nächte bereitete ihm ein lokaler Politiker, der ihm am Telefon lauter antisemitische Vorurteile an den Kopf geworfen hatte. Zuletzt merkte er noch an, dass man die Juden nicht umsonst schon im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt habe.

Adam Brody kam vor 22 Jahren von Israel in die Schweiz, hat ein eigenes Atelier für Kleiderdesign, seine zwei Kinder gehen in eine reguläre Schweizer Schule, und er trägt keine Kippa. Einmal mähte er am Samstag den Rasen, und eine Nachbarin ging auf ihn zu, um sich zu erkundigen, ob Brody auch wirklich am Shabat arbeiten dürfe. Ab und zu sagen Kunden zu ihm, dass die Juden ja genug verdienen würden. Ähnliches bekommen auch seine Söhne von Schulkollegen zu hören. «Dabei schufte ich wie jeder andere auch», sagt er und schüttelt die Erinnerung gleich wieder ab.

«Anders gehts nicht», sagt Anna Rabin. «Man muss ja weiterleben.» Sie ist jüdisch-orthodox, kam 2004 aus Deutschland in die Schweiz, hat seit zwei Monaten den Schweizer Pass und lebt mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern in Basel. Einmal schubste eine Frau Anna Rabins Mann auf dem Trottoir herum, ein anderes Mal baute sich ein Mann vor ihr auf und brüllte ihr «Juda» ins Ohr. Sie hat ihre Lehren daraus gezogen: Möglichst nicht mehr auffallen. Damit sie keine Angriffsfläche bietet. Deshalb zuckt sie zusammen, wenn ihre Kinder im Sommer in der Migros nach einer koscheren Glace fragen.

All diese Vorfälle fanden nie Eintrag im Antisemitismus-Register des SIG. «Gewöhnlich meldet ein jüdischer Mensch keinen Antisemitismus», sagt Zev Marilus. Die ältere Generation noch viel weniger. Sie finden sich damit ab, weil es immer so war. «Antisemitismus zu ertragen, ist der historische jüdische Weg. Das bringt man nicht so einfach aus den Leuten raus», sagt Marilus.

Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israel-Kritik

Am weitesten verbreitet ist Antisemitismus unter Rechtsradikalen. Aber nicht ausschliesslich, wie Daniel Gerson vom Institut für Judaistik der Universität Bern sagt: «Heute erscheint Antisemitismus häufig unter dem Deckmantel der Israel-Kritik.» Vergangenes Jahr machten linke Aktivisten an der Uni Bern als falsche israelische Soldaten verkleidet Ausweiskontrollen – um für einen Boykott Israels zu werben.

Gerson gibt zudem zu denken: «Mit der Ablehnung von allem Fremden vergiften auch die rechten Parteien die Atmosphäre und legen so den Boden für Antisemitismus.» Die gleichen Kreise sprächen immer wieder von einem «importierten Antisemitismus», den die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten hierherbrächten. Dabei geht ver gessen: Viele der antisemitischen Angriffe in Deutschland und Frankreich werden von jungen Migranten der zweiten und dritten Generation verübt. «Wenn Flüchtlinge hierherkommen, haben sie andere Sorgen als die Juden.»

Und doch: Bei Schweizer Juden trauen sich immer weniger, ihren Glauben öffentlich auszuweisen. Es gibt jüdische Kindergärten in der Schweiz, die den Eltern empfehlen, ihren Kleinen «unverfängliche Kopfbedeckungen» zu besorgen.

Das passt in den europäischen Trend. Eine kürzlich erschienene Studie zeigt: Neun von zehn Juden fühlen sich in Europa unsicher.

«Mich würde es nicht wundern, wenn in Basel einmal ein Tram in die Luft gejagt würde», sagt Anna Rabin.

«Wenn ich heute zur Synagoge gehe, schaue ich mich mehr um als früher und wechsle öfter das Trottoir», sagt Zev Marilus.

«Wer antisemitische Aussagen im Netz macht oder dort droht, wird das später vielleicht auf der Strasse tun», sagt Jonathan Kreutner vom SIG. Ihn alarmiert, dass früher anonym gehetzt wurde. «Heute wird so etwas oft mit dem richtigen Namen gepostet.»

Bis zu sieben Millionen für die Sicherheit

Mit der Angst steigt das Sicherheitsbedürfnis. Kaum eine jüdische Institution in der Schweiz, kaum ein Fest, das nicht durch Sicherheitsleute oder Kameras überwacht wird. Das kostet landesweit zwischen sechs bis sieben Millionen Franken pro Jahr. Alleine in Zürich sind es 1,5 Millionen, in Basel 800 000 Franken. Bislang schultert die jüdische Gemeinschaft alles alleine. Das soll sich ändern. Im Dezember hat der Kanton Basel-Stadt beschlossen, 750 000 Franken an die Sicherheitskosten der dortigen Gemeinde zu zahlen. Und vor wenigen Tagen gab der Bundesrat bekannt, dass er bis zu 500 000 Franken für den Schutz von Minderheiten aufwenden will. Der Druck auf andere Kantone steigt.

Hoffentlich kommt die Reaktion nicht zu spät.

Wohin Antisemitismus führen kann, zeigte die Stiftung Gamaraal. Sie würdigte im Rahmen einer Ausstellung mit Videos, Texten und Porträts einige der letzten der rund 450 Holocaustüberlebenden in der Schweiz. Genau sie sind nun besorgt über den wachsenden Antisemitismus und fühlen sich heute an die Zeit von 1930 erinnert, wie sie in Gesprächen mit Stiftungspräsidentin Anita Winter immer wieder sagen. «Überlebende diskutieren derzeit untereinander, ob sie das Land verlassen sollen.»

«Schweizer sind extrem anständig, und trotzdem haben sie antisemitische Bilder im Kopf» Adam Brody in seinem Schneideratelier in Zürich.

«Mich würde es nicht wundern, wenn in Basel einmal ein Tram in die Luft gejagt würde»: Anna Rabin im jüdischen Museum der Schweiz in Basel.

«Wenn ich heute zur Synagoge gehe, schaue ich mich mehr um als früher» Zev Marilus in der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft Zürich.

Judenhass So äussert er sich in der Schweiz

Antisemitische Schmierereien in einer Wohnung, dessen Vermieter jüdischen Glaubens ist (links), und Hetzereien in den sozialen Medien, die öfter als Israel-Kritik getarnt wird.

Dieser jüdischen Metzgerei in Basel warf ein Mann in den letzten Monaten vier Mal die Scheiben ein. Quelle: Schweizerischer Israelitische Gemeindebund (SIG)

Schweizer Juden wollen möglichst nicht auffallen

Geschichte des Antisemitismus in der Schweiz

In der Schweiz kam es ab dem 13. Jahrhundert in weiten Landesteilen zu Vertreibungen und Gewalt gegen Juden. Diese gingen auf Wuchervorwürfe und Legenden wie Hostienschändung und Ritualmorde zurück. Ab dem 16. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet der heutigen Schweiz nur noch wenige Juden. 1737 schränkte die eidgenössische Tagsatzung das Niederlassungsrecht auf die beiden Aargauer Dörfer Endingen und Lengnau ein.

In der Helvetischen Republik verbesserte sich der rechtliche Status für Juden, doch erst die Teilrevision der Bundesverfassung 1866 sicherte ihnen die vollen Bürgerrechte zu. Trotzdem hatte antisemitisches Gedankengut weiterhin einen starken Einfluss auf die Politik des Bundesstaats. Sie führte unter anderem zum Schächtverbot 1893.

Während des Zweiten Weltkriegs betrieb die offizielle Schweiz eine in Teilen antisemitische Politik, in dem sie der Kennzeichnung jüdischer Personen mit dem J-Stempel zustimmte und jüdische Flüchtlinge an der Grenze zurückwies.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz.

Sonntagsblick
3. Februar 2019 | 09:26