Jacqueline Keune

Gedanken zum Sonntag: Kritisches Korrektiv

22. April 2018 – 4. Sonntag der Osterzeit (Johannes 10,11–18)

Jacqueline Keune*

An einem offenen Grab eines alten Menschen lese ich manchmal Psalm 23 vor: «Gott ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er leitet mich auf gerechten Pfaden … Wenn Finsternis tief meinen Weg umgibt, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir …» – Und manchmal sehe ich ob der uralten Worte Tränen in den Augen der Kinder und Kindeskinder, obwohl sie doch in ihren Autos Navigationsgeräte haben, ihre Wege mit Google Maps suchen und sich auf ihre Smartphones verlassen.

Das Bildwort vom guten Hirten rührt an meine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach Orientierung. Und es weckt Widerstand in mir gegen Oberhirten, gegen Hirtenbriefe, die mir sagen, wo’s lang geht, gegen kindliche Abhängigkeit, gegen Befehl und Gehorsam und Schäferhunde, die Abweichler in die Herde zurückbellen.

Die evangelischen Christinnen und Christen der Bekennenden Kirche haben sich angesichts des Nationalsozialismus auf die Aussage Jesu berufen: «Ich bin der gute Hirt.» Er ist der einzige Hirte, der alleinige «Führer», auf den für Christinnen und Christen zu hören ist. Das Bild vom guten Hirten mag auch ein kindliches sein – ein kindisches aber ist es so wenig wie ein sentimental-überholtes. Für mich ist und bleibt es ein kritisches Korrektiv gegenüber kirchlichen Leitungsämtern. Denn der, der uns ein guter Hirte sein will, ist nicht irgendeiner, sondern einer, der mit seinem ganzen Sein für ein Mehr an Befreiung, an Gerechtigkeit und Leben eingestanden ist.

Vergessen wir nicht: Die Schafe sind es, die den unglaubwürdigen Hirten entlarven und den glaubwürdigen bestätigen, die bestimmen, welchem sie folgen und welchem sie die Gefolgschaft verweigern.

Lässt sich der Hirte von Menschen oder von Paragraphen in Dienst nehmen, führt er in die Weite und Freiheit oder pfercht er ein, lässt er mit sich reden und mitreden oder entscheidet er allein, sucht er Nähe oder geht er auf Distanz, liebt er auch die schwarzen Schafe und geht er den verlorenen nach oder kann er gut auf sie verzichten?

Die Beglaubigung des wahren, des glaubwürdigen, des guten Hirten fällt nicht vom Himmel, erfolgt nicht von oben, sondern von unten.

* Jacqueline Keune ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

Jacqueline Keune | © zVg
21. April 2018 | 08:58
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