Gedanken zum Sonntag: Wir sind alle Prophetinnen

Zum 25. Juni 2017, Sonntag im Jahreskreis, Jer 20,10-13; Röm 5.12-15; Mt 10,26-33.

Wir sind alle Prophetinnen

Thomas Wallimann*

«Der Geist der Wahrheit wird Zeugnis geben für mich, und auch ihr sollt Zeugen sein.» Der Ruf vor dem Evangelium erinnert uns alle daran, Prophetinnen zu sein! Der Text aus dem Matthäus-Evangelium hilft weiter: Wir dürfen alle Zeugen von Gottes Wahrheit sein, weil Gott uns bis auf das letzte Haar auf dem Kopf, ohne Wenn und Aber annimmt.

Was eine prophetische Stimme heute sein kann und worin die Herausforderungen bestehen, zeigen drei Geschichten aus meinem Bekanntenkreis.

«Ich schliesse die Augen und öffne sie, doch was ich sehe, hat wenig mit dem zu tun, was ich höre.» So beschreibt ein Freund seine Erfahrungen mit Gottesdiensten. Er empfindet sie als unecht und geht darum kaum noch hin. Was hier fehlt ist Glaubwürdigkeit. Es reicht nicht zu sagen, was mir wertvoll ist, ich muss es auch leben.

Viele Menschen – so ein anderer Freund – sind von Donald Trump und seiner Direktheit ohne jegliche Verhüllung fasziniert. Da redet einer Klartext! Doch wir wissen, dass seine Direktheit Menschen verletzt, Systeme und Institutionen schädigt. Prophetische Stimme zu sein, heisst, auch die Folgen des eigenen Redens abschätzen, zu wissen, welche Werte auf dem Spiel stehen. Denn – so mein Freund – «Wenn du gehört und verstanden werden willst, kannst du nicht immer einfach die nackte Wahrheit präsentieren. Du musst die Wahrheit in der Form äussern, die Sorge trägt zu den Mitmenschen.»

Schliesslich meinte ein Freund, als wir die heutigen Bibeltexte diskutierten, dass es schon Mut brauche, glaubwürdig und ehrlich zu sprechen. Darum richtet Jeremia in der Lesung die Bitte an Gott, ihm beizustehen.

Prophetische Stimme zu sein, ist also eine echte Kunst und braucht Übung. Es bedeutet, echt zu sein, «eine Linie zu haben» und zu ihr zu stehen zu lernen. Dazu gehört, sich der eigenen Rolle – privat oder öffentlich – bewusst zu sein und die Folgen meiner Botschaft einzubeziehen, dass die Menschen ernst genommen werden. Was ich sage, soll so formuliert sein, dass es gehört und verstanden wird – und doch wahr bleibt.

Damit dies nicht egoistisch, sondern stimmig geschieht, braucht es Zeit zur Besinnung, zur Stille und zum Nachdenken. Diese Verwurzelung in Gott ist der Grund, warum wir uns nicht zu fürchten brauchen.

Darum fordert das Evangelium von uns, unsere prophetische Stimme in die Welt einzubringen – dort, wo wir leben. Es heisst, auf das hinzuweisen, was für uns Christinnen und Christen wesentlich ist im Leben: Der Einsatz für das Wohl wirklich aller Menschen.

Wo sind Sie und wo bist Du dazu gerufen?

*Thomas Wallimann-Sasaki ist Theologe und Sozialethiker. Er ist Präsident a.i. der Nationalkommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz.

24. Juni 2017 | 11:15
Lesezeit: ca. 2 Min.
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