Gedanken zum Sonntag: Spucke und Erde

Gedanken zum 26. März 2017 – 4. Fastensonntag (Joh 9,1–41)

Spucke und Erde

Jacqueline Keune*

Mein Freund Urs ist blind. Einmal ist er auf dem Boulevard des Pérolles in Freiburg, in eine Baugrube gefallen, weil die Arbeiter nicht daran gedacht haben, dass jemand das Riesenloch nicht sehen könnte. Und einmal ist er am Bodensee mit seinem Gesicht gegen die Heckklappe eines Lasters geknallt, weil der Chauffeur nicht überlegt hat, dass jemand den Riesenlaster übersehen könnte, den er halb auf dem Trottoir abgestellt hatte. Aber solche Schmerzen sind ja nichts im Vergleich zu diesem lebenslänglichen Schmerz des Blindseins.

Jesus ist mit den Männern und Frauen, die seinetwegen ihr altes Leben verlassen haben, irgendwo unterwegs. Da treffen sie auf einen Mann, der am Strassenrand sitzt und seit Geburt blind ist. Jesus sieht den Blinden. Die Jünger reden über ihn. Dann wollen sie vom Rabbi wissen: «Sag, wer ist schuld, dass er nicht sehen kann? Er selber? Seine Eltern? Irgendwer muss ja schuld sein. Irgendwas muss ja gewesen sein. Irgendeinen Grund hat es, dass er blind ist, denn wir anderen alle sehen ja.»

Jesus hätte zynisch reagieren können: Ja, das Kind hat bestimmt in der Fruchtblase gesündigt, dass es blind zur Welt gekommen ist … Oder er hätte vorwurfsvoll entgegnen können: Reicht es euch nicht, dass da ein Mensch sein Leben lang nicht sehen kann, soll er auch noch daran schuld sein? – Der Darmkrebs hat meine Freundin weniger verletzt als die Mutmassungen ihrer Nächsten, warum sie ihn bekommen hat.

Jesus scheint sich nicht halb so viel für die Frage nach der Schuld und der Vergangenheit zu interessieren wie wir und die Jünger, wenn er ihnen schlicht antwortet: «Ich muss die Aufgaben, die Gott mir gegeben hat, erfüllen … Solange ich in der Welt bin, werde ich für diese Welt das Licht sein.» Und dann spuckt der Sohn Gottes kräftig auf die Erde, rührt mit der Spucke eine Pampe an, streicht sie dem Blinden auf die Augen und lässt ihn die Zukunft schauen.

Wenn Leiden irgendeinen Sinn haben soll, dann der, dass es geheilt oder gelindert wird.

Spucke und Erde – so weit das Auge reicht.

*Jacqueline Keune, 55, ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

25. März 2017 | 12:30
Lesezeit: ca. 1 Min.
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