Josef Imbach, 2016

Gedanken zum Sonntag: Zur Moral von Geschichten

Zum Sonntag: 28. Oktober 2018 (Markusevangelium 10,46-52)

Josef Imbach*

In seiner Kürzestgeschichte «Der hilflose Knabe» berichtet Bertolt Brecht von einem auf der Strasse vor sich hinweinenden Jungen; ein Vorübergehender fragt ihn nach dem Grund seines Kummers. «Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen», sagte der Knabe, «da kam ein Junge und riss mir einen aus der Hand», und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfernung zu sehen war. «Hast du denn nicht um Hilfe geschrien?», fragte der Mann. «Doch», sagte der Junge und schluchzte ein wenig stärker. «Hat dich niemand gehört?», fragte der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. «Nein», schluchzte der Junge. «Kannst du denn nicht lauter schreien?», fragte der Mann. «Nein», sagte der Junge und blickte ihn mit neuer Hoffnung an. Denn der Mann lächelte. «Dann gib auch den her», sagte er, und nahm ihm den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter.

Für den Jungen bedeuten die zwei Groschen ein kleines Vermögen; für den Mann handelt es sich um einen geradezu läppischen Betrag. Beraubt er den Knaben, um ihm zu helfen? Dann wäre sein Vorgehen eine schmerzliche, aber doch nützliche Lehre fürs Leben: Mein lieber Junge, was du brauchst, ist eine ganz besondere Art von Stimmtraining, sonst wirst du stets zu den Opfern gehören …

Wer die Geschichte so versteht, liest sie gegen den Strich. Der Mann ist kein Pädagoge, sondern ein Schuft. Eindeutig geht das aus der einleitenden Warnung hervor, «erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen». Was folgt, zeigt, wohin diese üble Gewohnheit führt: Wer alles schluckt, bleibt ewig ein armer Schlucker.

Gleiches illustriert der Evangelist Markus mit der Geschichte von der Heilung eines blinden Bettlers namens Bartimäus (Markus 10,46-52). Sobald der hört, dass Jesus sich mit seinen Jüngern nähert, wittert er die Chance seines Lebens und beginnt laut zu rufen: Jesus, hab Erbarmen mit mir! Den Umstehenden ist das lästig; sie gebieten dem Schreier zu schweigen. Doch der Unglückliche brüllt nun noch lauter: Hab Erbarmen mit mir! Da befiehlt Jesus, den Mann herzubringen. Und heilt ihn und schickt ihn weg mit den Worten: Geh, dein Glaube hat dir geholfen!

Bartimäus schreit. Und zwar so lange und so laut, bis er erreicht hat, was er wollte. Vergessen wir eines nicht: Schreien ist ein Tätigkeitswort! Und die Folge solchen Tuns? Entgegen der Aufforderung Jesu geht Bartimäus nicht weg, sondern folgt Jesus auf seinem Weg. Dabei wird er noch hören, wie oft und wie laut auch der Mann aus Nazaret seine Stimme erhebt.

 

* Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der Seelsorge tätig.

Josef Imbach, 2016 | © 2016 Michaela Stoll | © Michaela Stoll
27. Oktober 2018 | 09:18
Lesezeit: ca. 2 Min.
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