Josef Imbach, 2016

Gedanken zum Sonntag: Wenn der Gänserich predigt

Zum Sonntag: 30. September 2018 (Jakobusbrief 5,1-6)

Josef Imbach*

«Euer Reichtum verfault und eure Kleider werden von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber verrostet … Aber den, Lohn, den ihr euren Arbeitern vorenthalten habt, schreit zum Himmel, und ihre Rufe dringen zu den Ohren des Herrn» (Jakobus 5,2-4). Wohl richtet der Verfasser des Jakobusbriefes diese Drohrede nicht bloss an die Ausbeuter und Halsabschneider in seiner Gemeinde. Aber gilt sie nicht auch den heutigen mehr oder weniger frommen Christenmenschen? Die Art, wie er seine Leserschaft aufrüttelt, mag uns vielleicht nicht passen.

Gut dazu passt Sören Kierkegaards Warnung vor einer folgenlosen ‹Jesusnachfolge›. Mit beissender Ironie geisselt der dänische Denker eine Frömmigkeit, welche die Gläubigen lähmt, statt sie zu beflügeln: «Stelle dir vor, die Gänse könnten reden. Und dass auch sie ihren Gottesdienst hätten. Jeden Sonntag kämen sie zusammen, und ein Gänserich predigte. Der wesentliche Inhalt der Predigt wäre, zu welch hohem Ziel der Schöpfer die Gans bestimmte. Mithilfe ihrer Flügel könne sie fortfliegen in ferne Gegenden, wo sie eigentlich hingehöre. Denn hier sei sie nur ein Fremdling. Darauf trennte sich die Versammlung, jede watschelte nach ihrer Behausung. Und dann am nächsten Sonntag wieder das Gleiche. Dabei bliebe es. Am Montag dann wüssten sich die Gänse zu erzählen, wie es einer Gans ergangen sei, die Ernst gemacht hatte mit dem Fliegen, und welche Schrecknisse sie aushalten müssen. Freilich: Am Sonntag davon zu reden, das wäre unpassend. Dann würde ja offenbar, dass unser Gottesdienst eigentlich darin besteht, Gott und uns selber zum Narren zu halten, sagten sie untereinander. Auch fänden sich unter den Gänsen einige, die mager würden und leidend aussähen. Von ihnen hiess es unter den Gänsen: Da sieht man, wohin es führt, mit dem Fliegen Ernst machen zu wollen. Weil sie sich im Stillen mit dem Gedanken tragen, fliegen zu wollen, deshalb gedeihen sie nicht, sie haben keine Freude an der Gnade Gottes, wie wir. Deshalb werden wir rund, fett und lecker. Und am nächsten Sonntag gingen sie dann wieder zum Gottesdienst, und der alte Gänserich predigte von den hohen Zielen, zu denen der Schöpfer die Gans bestimmt habe, wozu sie ihre Flügel hätte. Ebenso ist es mit dem Gottesdienst der Christenheit.»

Kierkegaards Anliegen deckt sich durchaus mit dem des Jakobusbriefes. Beide zeigen auf ihre Art, dass der Glaube nicht eine Sache fürs Gemüt ist, sondern dass es mit der Gemütlichkeit ein für allemal vorbei ist, sobald man den Glauben ernst nimmt. Denn wer Jesus nachfolgt auf seinem Weg, darf sich nicht wundern über die Blasen an den Füssen.

* Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der Seelsorge tätig.

Josef Imbach, 2016 | © 2016 Michaela Stoll | © Michaela Stoll
29. September 2018 | 12:12
Lesezeit: ca. 2 Min.
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