Gedanken zum Sonntag: Du sollst dir kein Bild machen!

Gedanken zum Sonntag, 15. April 2018 (Lukas 24,35)

Josef Imbach*

Beim Aufräumen stosse ich auf den Text eines Verstorbenen, den seine Angehörigen in der Todesanzeige veröffentlicht haben.

Mein ganzes Leben besteht aus Verdachtsmomenten. Bin ich unschuldig, heisst es, dass ich nur so tue. Bekenne ich mich schuldig, sagt man, ich wolle mich interessant machen. Bin ich traurig, gelte ich als wehleidig. Bin ich lustig, beschuldigt man mich des Ungerührtseins. Bin ich ausgeglichen, deutet man das als Oberflächlichkeit. Gebe ich nicht nach, gelte ich als hartherzig.

Litt der Verfasser unter Verfolgungsängsten? War er depressiv? Mangelte es ihm an einem gesunden Selbstwertgefühl? Mutmassungen sind angesichts der Unkenntnis der Person und der Umstände unangebracht. Tatsache ist, dass manche Menschen Ähnliches empfinden. Sie fühlen sich immer und überall fehl am Platz, weil sie den Vorstellungen anderer nicht entsprechen – oft auch gar nicht entsprechen können. Statt an ihnen herumzumäkeln oder schlecht über sie zu reden, sollten wir den Blick auf uns selber richten. Denn meistens sind wir es, welche andere dazu bringen, sich ständig zu hinterfragen.

Die oben zitierte Todesanzeige erinnert mich an die Episode von den beiden Jüngern, welche sich nach Jesu Kreuzigung auf den Weg nach Emmaus machen. Als der Auferweckte sich zu ihnen gesellt, erkennen sie vorerst ihn nicht. Aber sie vertrauen dem ‹Fremdling› an, was sie beschäftigt: «Wir hatten gehofft, dass Jesus der sei, der Israel erlösen werde …» Wir hatten gehofft! Diese Hoffnung hat sich scheinbar als Illusion erwiesen. Denn dem alttestamentlichen Buch Deuteronomium zufolge galt ein am Kreuz Erhängter als von Gott verflucht (21,22). Also konnte dieser Jesus unmöglich der erwartete Messias sein. Das Bild, das die beiden Jünger sich vom erwarteten Messias gemacht hatten, hat ihren Blick verdunkelt.

Oft hegen wir gegenüber anderen Erwartungen, in denen sich unsere eigenen Wunschträume spiegeln. Und sind unwirsch, wenn sie diese nicht erfüllen. Die damit verbundenen Enttäuschungen können uns helfen, uns von unseren Illusionen zu verabschieden. Genau das trifft auch für die Emmausjünger zu. Erst nachdem sie den Auferweckten zu sich eingeladen haben, erkennen sie ihn beim Brotbrechen. Und kehren nach Jerusalem zurück und erzählen den Aposteln und den um sie Versammelten von ihrem Erweckungserlebnis.

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Glück etwas ist, was einer grossen Enttäuschung vorausgeht. Kann aber nicht auch das Gegenteil zutreffen, nämlich das Glück etwas ist, wenn man eine Enttäuschung verkraftet hat?

* Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der Seelsorge tätig

Josef Imbach | © 2016 Michaela Stoll
14. April 2018 | 12:01
Lesezeit: ca. 2 Min.
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