Gedanken zum Sonntag: Wissen wir, was wir suchen?

Zum 14. Januar 2018 (Johannesevangelium 1,35-42)

Wissen wir, was wir suchen?

Ingrid Grave*

Machen wir uns allen Ernstes Gedanken darüber, was wir wirklich suchen? Vielleicht nicht jeden Tag, vielleicht ab und zu, ziemlich sicher aber an Schnittstellen des Lebens, nach inneren Zusammenbrüchen und Krisen. Was will, was möchte ich? Was ist meine tiefste Sehnsucht? –

An all das lässt mich der Johannes-Text denken, mit dem ich mich hier auseinandersetzen werde. Auf keinen Fall dürfen wir diesen Bibeltext als historischen Tatsachenbericht verstehen. Für mich ist er eine Komposition, entstanden gegen 100 n.Chr., die uns Wesentliches für unser Leben sagen will.

Johannes der Täufer, in seiner Nähe einige seiner Jünger, steht am Jordan und sieht Jesus des Weges gehen. Da spricht er das Wort aus: Siehe, das Lamm Gottes! Zwei seiner Jünger hören es, und sie folgen Jesus nach. Dieser wendet sich um und fragt: Was sucht ihr? Sie scheinen es nicht sagen zu können, und sie antworten: Wo wohnst du?

Der Verfasser des Textes rührt hier an etwas Grundlegendes in unserem Wesen. Die beiden Jünger – es sind Petrus und sein Bruder Andreas – scheinen zu erfassen, dass dieser Jesus etwas verkörpert und ausstrahlt, wonach sie zutiefst suchen: Das unsterblich Göttliche, das keimhaft in jedem Menschen angelegt ist.

Doch warum dieses Lamm? Jesus, das Lamm Gottes?

Der Verfasser – es ist nicht klar, wer er wirklich war – deutet damit an, dass Jesus schuldlos in der Wehrlosigkeit eines Lammes den Kreuzestod erlitten hat. Damit ist ein Geheimnis unseres Menschseins berührt, das wir allzu gern in unserem Leben verdrängen. Unser Trachten geht nach Erfolg, Ansehen, Anerkennung, Sicherheiten und Machtpositionen, so klein diese in manchem Leben auch sein mögen. In jedem Leben jedoch gibt es auch ein Scheitern, ein Versagen, Demütigung. Wir haben eine zarte, ganz verletzliche Seite. Das Wahre, das Gute in uns, das Göttliche ist verletzlich, aber nicht zerstörbar. Wollen wir wieder ins «volle Leben» gelangen, kann dies nur im Hindurchgehen durch den Schmerz geschehen. Da tut sich wahres Heil auf, reiferes Menschsein, Glück und Sinn.

Die beiden Jünger, die Jesus folgen, scheinen diese Erfüllung des Lebens zu suchen – im Jetzt, aber auch über den Tod hinaus. Das Lamm Gottes stirbt ihn. Tödlich verletzt, aber weiterlebend in seiner Liebe. Dahin geht menschliche Sehnsucht.

*Ingrid Grave ist Dominikanerin in Zürich, wo sie in der Seelsorge engagiert ist.

Schwester Ingrid Grave | © zVg
13. Januar 2018 | 11:52
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