Gedanken zum Sonntag: Da steht einer – den kenn ich nicht!

Zum dritten Adventssonntag, 17. Dezember

Da steht einer – den kenn ich nicht!

Ingrid Grave*

Wörtlich im laufenden Text (Johannesevangelium, 1,6–8 und 19–28) heisst es: «Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt.»

Ich stelle mir den Redner vor, der in eine Menschengruppe hinein ein solches Wort spricht. Versetze ich mich dann in die Rolle einer der Angesprochenen, löst das eine leichte Irritation in mir aus. Der Redner unterstellt mir und den anderen eine gewisse Dumpfheit in der Wahrnehmung. Da wird etwas verpasst. Eine aussergewöhnliche Persönlichkeit wird – auch von mir – nicht gesehen. Das ist zwar ein Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte permanent wiederholt, aber will ich zu jenen gehören, die nicht gemerkt haben, was sich da ankündigt?

Abseits des Weltgeschehens vollzieht sich die Geburt Jesu. Von der Öffentlichkeit zunächst in keiner Weise wahrgenommen, tritt dann der Zimmermannssohn mit etwa 30 Jahren als Wanderprediger auf. Er ist es, von dem Johannes der Täufer spricht.
Johannes hat Jesus «entdeckt», er hat ihn erkannt als denjenigen, der die Menschen in ihre eigene Befreiung hineinführen will. Als Täufer und Bussprediger in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, weist Johannes hin auf den Unerkannten: Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt.

Johannes weiss, dass es mehr braucht als einige Korrekturen am Lebensstil einzelner Menschen. Es braucht eine neue Sicht in Bezug auf die Religion. Es braucht eine Wende. Diese Wende wird Jesus einleiten. Nicht die Einhaltung äusserer Vorschriften führt zur Entwicklung der Persönlichkeit, sondern die Entdeckung des eigenen Wesens, und zwar in Verbindung mit der allumfassenden Gottheit, die Jesus seinen wahren Vater nennen wird.

Die Geburt Jesu und sein gewaltsamer Tod liegen zwei Jahrtausende zurück. Mitten im Weihnachtsrummel müsste Johannes wieder aufstehen und sagen: Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt. – Gleichzeitig gab und gibt es wieder und wieder Menschen, die sagen: «Da steht einer, den kenn ich nicht, aber meine Augen können ihn nicht loslassen. Etwas drängt mich, ihn kennen zu lernen.»

Und tief eingesenkt in ihrem eigenen Wesen entdecken sie das, wovon Jesus gesprochen hat, nämlich die liebende Gottheit, die durch uns Menschen in die Welt geboren werden will.

*Ingrid Grave ist Dominikanerin in Zürich, wo sie sich in Seelsorge und Ökumene engagiert

Schwester Ingrid Grave | © zVg
16. Dezember 2017 | 14:04
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