Gedanken zum Sonntag: Keine Gnade im Versagen?

Zum Sonntag, 19. November 2017 – 33. Sonntag im Jahreskreis

Keine Gnade im Versagen?

Ingrid Grave*

Der Chef ist auf Reisen. Drei Sachverwalter haben währenddessen mit einer bestimmten Geldsumme gewinnbringend zu wirtschaften. Dem ersten gelingt’s, dem zweiten gelingt’s, der dritte hat Angst: Was, wenn die Investitionen nichts einbringen? Der Chef will schwarze Zahlen sehen. Die Angst lässt den dritten Sachverwalter das anvertraute Geld in den Tresor legen. Im Ursprungstext der Geschichte heisst es: Er vergrub das Geld. In der damaligen Währung waren es Talente. Und wo findet sich der Text? In der Bibel (Mt 25, 14 – 30).

Die Diener – so werden sie im Text bezeichnet – beginnen unmittelbar nach der Abreise des Herrn mit dem Geld zu wirtschaften. Die beiden ersten schaffen es, die ihnen anvertraute Summe zu verdoppeln. Klar, dass der Herr bei seiner Rückkehr zufrieden ist und den einen wie den andern befördert. Für beide ein beträchtlicher Karriereschub.

Ganz anders verfährt der Herr mit dem dritten Diener. Das war vorauszusehen, denn er hat nichts geleistet. Aus Angst vor dem Chef: «Ich weiss, du bist ein Mann, der erntet, wo er nicht gesät hat und der einsammelt, wo er nichts ausstreute.» Es folgt die augenblickliche Entlassung des Dieners: «Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht! Dort hätte es sich nämlich ganz von selbst durch Zinsen vermehren können.» Dasselbe sagte uns vor etlichen Jahren der Werbeslogan einer Schweizer Bank: Bei uns können Sie Ihr Geld einfach arbeiten lassen! Ich meinerseits füge hinzu: Sofern man hat!

Nun, der dritte Diener hatte ja. Allerdings war es nicht sein Geld. Und die Zinsen wären für den Chef ja auch nur etwas Kleingeld gewesen. Angst machte den Diener unfähig, ein Risiko einzugehen. Der Mann passt nicht in das (heutige) Wirtschaftssystem.  So wird er kurzerhand entfernt. In die äusserste Finsternis, wie es wörtlich heisst. Versinkt er in der Dunkelheit einer Depression? Gnadenlos?

Die meisten Leser und Leserinnen lässt dieser Text ratlos zurück. Liegt der zu erwartende erlösende Gedanke zu tief unter der Textschicht vergraben, dass wir ihn nach fast 2000 Jahren nicht mehr finden? Vielleicht. Doch das soll uns nicht entmutigen. Denn Liebe, Barmherzigkeit und Versöhnungsbereitschaft Gottes sind es, die sonst in der Rede Jesu ungezählte Male den Ton angeben. Das darf uns trösten.

*Ingrid Grave ist Dominikanerin in Zürich, wo sie in der Seelsorge und in der Oekumene engagiert ist.

 

 

18. November 2017 | 10:01
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