Gracias Mail und der journalistische Quellenschutz

Zürich/Uster ZH, 2.3.17 (kath.ch) Der Autor Daniel Pittet hat in seinem Buch einen Missbrauchsfall öffentlich gemacht. Ausgelöst durch eine Mitteilung von Giuseppe Gracia an ausgewählte Medien wurde darauf in den Medien die Frage nach Verantwortlichkeiten auf Seiten des Kapuzinerordens thematisiert. Nun meldet sich der Journalist und Theologe Erwin Koller zu dieser Auseinandersetzung zu Wort. Er weist in einem Gastbeitrag auf die Grenzen des Quellenschutzes in den Medien hin.

Der journalistische Quellenschutz ist eine Errungenschaft des liberalen Rechtsstaates. Er «ist nicht ein Privileg der Medienschaffenden, sondern liegt im Interesse des Publikums» (so der Presserat). Er dient der möglichst offenen Information in einer freiheitlichen Gesellschaft. Der Name eines Informanten oder einer Informantin wird gegenüber Dritten nicht preisgegeben, gleichgültig, ob es sich um eine Privatperson, einen Arbeitgeber, eine Behörde oder ein Organ der Strafverfolgung handelt. Das Ziel des Quellenschutzes ist einerseits, gesellschaftlich relevante Informationen, die sonst nicht erhältlich sind, von Insiderinnen oder Insidern zu bekommen, und andererseits, diese Informanten zu schützen, damit sie keine Nachteile erleiden, weil sie durch ihre offene Bekanntgabe von Informationen die Interessen Dritter tangieren. Es versteht sich, dass dies ein Mittel der letzten Wahl ist, zu dem erst dann gegriffen werden darf, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

Wie ist es nun aber, wenn unter Berufung auf den Quellenschutz Personen anonym in ein schlechtes Licht gestellt oder gar verunglimpft werden? Weil in diesem Fall die oben genannten Ziele und Bedingungen nicht erfüllt sind, ist ein Quellenschutz nicht gerechtfertigt. Es ist die unerlässliche Aufgabe derer, die das journalistische Handwerk gemäss den Richtlinien der journalistischen Ethik ausüben, einen legitimen von einem ungerechtfertigten Quellenschutz zu unterscheiden. Kein Journalist und keine Journalistin darf sich unhinterfragt auf eine anonyme Quelle berufen. Sonst wären dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Vielmehr muss er oder sie die Quelle kennen, auch wenn sie nicht genannt werden darf. Das war auch in diesem Fall so. Dann aber ist es unabdingbar, dass Quelle und Nachricht analysiert und evaluiert werden, was die verantwortlichen Redaktionen vernachlässigt haben.

Darüber hinaus gilt das publizistische Grundprinzip, dass nur veröffentlicht werden darf, was durch zwei unabhängige Quellen gestützt ist (einzige Ausnahme sind Informationen anerkannter Medienagenturen). Auch eine legitime anonymisierte Information im obgenannten Sinn erfordert also zusätzliche Recherchen und ist erst publikationswürdig, wenn sie von einer anderen Seite bestätigt werden kann.

Im vorliegenden Fall von Giuseppe Gracia ist Folgendes zu bedenken: Erstens handelte es sich beim Informanten, der zu Beginn ausdrücklich namentlich nicht erwähnt werden wollte, um den offiziellen Bistumssprecher. Die verantwortliche Redaktion wäre nur dann überhaupt legitimiert gewesen, ihm Quellenschutz zu gewähren, wenn sein Gewissen ihn gedrängt hätte, Unregelmässigkeiten etwa seines Chefs publik zu machen. Es ging jedoch gar nicht um eine Angelegenheit des Bistums, sondern des Kapuzinerordens.

Zweitens: Der Presserat hält in seinen Grundsätzen fest: «Die Veröffentlichung von Vorwürfen anonymer Informanten ist ohne Quellenangabe zulässig, wenn es ohne Wiedergabe dieser Stimmen kaum möglich wäre, glaubhaft über die Kritik eines Teils der Bevölkerung an einem öffentlich relevanten Projekt zu berichten.» Wollte sich Giuseppe Gracia auf diesen Passus berufen, müsste er glaubhaft machen, dass alle anderen Versuche, in dieser Sache mehr Klarheit zu schaffen, ins Leere liefen. Die breite publizistische Information über den schweren Pädophiliefall eines Kapuzinerbruders beweist jedoch das Gegenteil, und die eingehende Untersuchung, welche die kantonale Untersuchungsrichterin des Kantons Freiburg durchgeführt hat, wurde schon 2008 publiziert. Gracia gibt inzwischen auch unumwunden zu, dass er über keine Fakten, ja- nicht einmal über Indizien verfügt, die nicht bereits öffentlich bekannt sind. Für eine lückenlose Aufklärung war dieses Versteckspiel demnach absolut überflüssig.

Drittens: Wenn die genannten medienethischen Kriterien des Presserates nicht erfüllt sind, muss die zuständige Redaktion ihre Verantwortung wahrnehmen und den Quellenschutz sowie eine Veröffentlichung verweigern. Benützt sie die anonyme Information trotzdem, macht sie sich mitschuldig an der Diskreditierung einer Person und an der Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte. Dasselbe gilt vom Bischof, der sich hinter seinen Sprecher stellt, zumal er wenig glaubwürdig geltend macht, sich für die Missbrauchsopfer einsetzen zu wollen. Der Gemeindeleiterin von Effretikon hatte er 2008 die Missio entzogen (was er rückgängig machen musste),weil sie im Fernsehen genau diese redliche Auseinandersetzung darüber verlangte.

Der 77-jährige Theologe, Journalist und Autor Erwin Koller war von 1979 bis 2002 beim Schweizer Fernsehen als Redaktionsleiter tätig und  anschliessend Lehrbeauftragter für Medienethik an den Universitäten Freiburg/CH und Zürich. Seit 2013 ist er Präsident der «Herbert Haag Stiftung für Freiheit in der Kirche».


2. März 2017 | 12:30
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