Gedanken zum Feiertag: Von Babel nach Jerusalem

Gedanken zum Festtag, 15. Mai 2016 – Pfingsten

Von Babel nach Jerusalem

Von Josef Imbach*

Allen Menschen gemeinsam ist, dass sie in vielen Sprachen schweigen können. Manche allerdings besitzen darüber hinaus die Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu sprechen. Aber selbst die reden häufig aneinander vorbei.

Wie es dazu kommt, zeigt uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel (vgl. Genesis, Kapitel 11). Der Anfang klingt durchaus verheissungsvoll: «Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.» Irgendwann aber entschliessen sie sich, eine Stadt und einen Turm zu bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reichen soll. Sie wollen sich «einen Namen machen».

Ein derart gigantisches Projekt erfordert nicht nur ein unglaubliches Organisationstalent, sondern auch eine bis ins Kleinste koordinierte Zusammenarbeit. Je grösser der Bau wird, desto unübersichtlicher wird das Ganze. Und plötzlich geht es nicht mehr nur um den Nachruhm und schon gar nicht mehr ums Gemeinwohl, sondern nur noch um Eigeninteressen. Spätestens jetzt nehmen Meinungsverschiedenheiten und Zwist überhand.

Um die Sprache der Menschen zu verwirren, braucht Gott gar nicht erst zu intervenieren; das erledigt sich sozusagen von selbst, weil jeder und jede nur noch persönliche Vorteile im Auge hat. Die Folgen solch gearteter Sprachverwirrung dauern an, bis heute.

Dass es auch anders geht, zeigt die Schilderung der Pfingstereignisse zu Jerusalem im 2. Kapitel der Apostelgeschichte. Da werden die zum Gebet versammelten Galiläer vom Heiligen Geist erfüllt und beginnen plötzlich «in fremden Sprachen zu reden». Die aus fernen Ländern Stammenden hören sie in ihrer Muttersprache «die Grosstaten Gottes verkünden».

Und das sollen wir glauben? Warum nicht? In Babel führt egoistisches Verhalten zur Sprachverwirrung. In Jerusalem hingegen ist es der Gottesgeist, der sich durch den Mund der Apostel allen verständlich macht. Allerdings bleibt der Inhalt der ekstatischen Rede auffallend allgemein. Zu allgemein? Ja und nein. Es gibt ja auch eine Art von Kommunikation, die wir auf Anhieb verstehen, selbst wenn uns die Sprache der anderen nicht geläufig ist – beispielsweise wenn ein Inder oder eine Afrikanerin uns am Eingang zum Warenhaus den Vortritt lässt und uns dabei zulächelt. Da ereignet sich im Kleinen eben jenes Pfingstwunder, von dem der Verfasser der Apostelgeschichte berichtet.

Solange wir bloss übereinander reden und dabei nur an uns denken, weilen wir noch immer in Babel. Wenn immer wir anderen gegenüber Wohlwollen bekunden, werden sie uns verstehen, auch wenn sie unsere Sprache nicht kennen. Zusammen sind wir dann auf dem Weg nach Jerusalem.

* Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der praktischen Seelsorge tätig.

15. April 2016 | 11:44
Lesezeit: ca. 2 Min.
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