42/2003

INHALT

Kirche in der Welt

Christsein im Horizont der Weltreligionen

von Christoph Gellner

 

Wie wohl keine Generation vor uns erleben wir heute das Christentum als eine Religion unter vielen Religionen<1>. Fernöstlich-asiatische Spiritualität, die schon immer mit dem Versprechen des völlig Andersartigen lockte, übt auf westliche Gesellschaften eine grössere Faszination aus als je zuvor. War die Beschäftigung mit nichtchristlichen Religionen lange einer relativ schmalen Schicht von Spezialisten der Religionswissenschaft oder der Ethnologie, von Auslandsforschern, Reisenden und Missionaren vorbehalten, so begegnen wir im multikulturellen Alltag vieler unserer Wohnviertel und Schulklassen fremden Kulturen und anderen Religionen nicht mehr nur zeitweilig als Touristen, sondern dauerhaft im eigenen Land. Andere Religionen sind zwar weiterhin fremd, aber wie im Fall des Islam hautnah als Nachbarschaftsreligionen präsent.

Die neue Erlebnissituation religiöser Pluralität

Gerade durch die Präsenz des Islam erleben die meisten Länder Westeuropas gegenwärtig einen dritten Pluralisierungsschub ­ nach der ersten, innerchristlich-konfessionellen Pluralisierung, die im Gefolge der Reformation und der Konfessionskriege die mittelalterliche kirchliche Einheit aufsprengte, und einer zweiten Pluralisierung im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution, die die bis dahin immer noch einheitlich «christliche» Gesellschaft in einen christlich-kirchlich gebundenen und einen säkular-humanistisch ausgerichteten Teil aufspaltete. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnet sich nun ein noch viel weiter gehender Pluralismus der Religionen, ja, ein bislang unbekanntes Ausmass an religiöser Pluralität ab. Ein tief greifender Umbruch, der auf verschiedensten Seiten pluralitätsausblendende Abschottung, Dialogverweigerung und Selbstgetthoisierung hervorruft, antipluralistische Fundamentalismen und aggressive Abwehr.

Religiös sein heisst heute interreligiös sein

Mehr denn je stehen Christinnen und Christen vor der Herausforderung, sich für das Andere, die Anderen zu öffnen. Auch wenn manche dies als tiefe Beunruhigung empfinden: Christsein wird künftig ohne den Blick auf die Weltreligionen immer weniger leb-, ohne die bleibende Religionenvielfalt immer weniger denkbar sein. Religiös sein heisst heute: interreligiös sein<2>. Statt der früheren Verachtung bedarf es heute gegenseitige Wertschätzung, statt der ignoranten Vernachlässigung interessiertes Verstehen. Begegnung und Dialog also, die den spirituellen Reichtum der nichtchristlichen Religionen für das Christsein fruchtbar machen. Liegt darin doch zugleich die Chance, das Eigene neu wahrzunehmen und im Spiegel des Anderen und Fremden tiefer zu verstehen<3>. So gewinnt die Einzigartigkeit Jesu Christi und das unterscheidend Christliche allererst im Vergleich mit den grossen Leitfiguren der anderen Religionen ­ Mose und Muhammad, Buddha und Krishna, Konfuzius und Laotse ­ schärferes Profil. Die Einübung in den Umgang mit religiöser Pluralität bildet daher heute eine Schwerpunktaufgabe religionspädagogisch-theologischer Aus- und Weiterbildung; ist doch Pluralismus- oder Pluralitätsfähigkeit eine derzeit zu Recht häufig genannte neue religiös-theologische Schlüsselkompetenz<4>.

Strukturelle Gemeinsamkeiten

Die Menschheitsgeschichte hat eine schier unübersehbare Vielfalt von Religionen hervorgebracht. Bei allen Unterschieden in Glauben, Lehre und Ritus geben sie alle Antwort auf ähnliche Grundfragen nach dem Woher und Wohin von Welt und Mensch, der Bewältigung von Leid, Schmerz und Schuld, den Massstäben gelingenden Lebens und rechten Handelns: Wer bin ich? Woher kommen wir? Wie leben wir richtig? Wohin gehen wir? So unterschiedlich die Antworten und Deutungen der Religionen im Einzelnen auch ausfallen, bieten sie vielfach ähnliche Heilswege an: Wege aus der Not, dem Leid und der Schuld des Daseins ­ durch ein sinnvolles und verantwortungsbewusstes Handeln in diesem Leben ­ zu einem dauernden, bleibenden, ewigen Heil<5>. So fasst denn auch das 2. Vatikanische Konzil, das für die katholische Kirche eine epochale Wende in der Wahrnehmung nichtchristlicher Religionen brachte und nach jahrhundertelanger Konfrontation einer wertschätzenden Haltung des Dialogs zum Durchbruch verhalf, «vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt»: «Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen des Menschen am tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was ist Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schliesslich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?» (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nr. 1).

Differenz, Positionalität und Dialogbereitschaft

Was allen Menschen gemeinsam ist, hat in den verschiedenen Kulturen und Religionen dennoch seinen eigenen Anfangspunkt und seine eigene Geschichte entwickelt. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten wird man daher das unverwechselbar Besondere einer jeden Religion nicht übersehen oder einebnen dürfen. Religion gibt es nur in den verschiedenen Religionen. Über der Universalität des Religiösen wird man daher das unauswechselbare Eigenprofil, die irreduzible Unterschiedenheit der Religionen nicht vernachlässigen oder gering achten dürfen. Grundsätzlich gesagt: Pluralismus respektiert daher nur, wer Differenz wahrnimmt, aufzuarbeiten und auszuhalten bereit ist<6>. Wer das Anderssein der Religionen, ihre unvereinbaren Gegensätze und einander widerstreitenden Wahrheitsansprüche nicht entschärft oder harmoniesüchtig neutralisiert und vergleichgültigt. Pluralität bedeutet ja nicht einfach das Nebeneinander durchwegs gleich gültiger Standpunkte, meint weder Indifferentismus noch Relativismus. Im Gegenteil wäre gerade darauf hinzuarbeiten, «dass sich diffuse bzw. entscheidungsschwache in Richtung markanter bzw. entscheidungsstarker Pluralität entwickeln kann»<7>, wie der katholische Religionspädagoge Rudolf Englert treffend formuliert. Pluralität besteht dabei auch noch einmal innerhalb jeder der grossen Religionen und zeigt sich, wie im Christentum, keineswegs nur in der Differenz bewusster religiöser Überzeugungen, sondern auch im Bereich des Handelns, des Lebensstils, der religiösen Kommunikationsformen usw.<8>.

Christliche Identität im religiösen Pluralismus

Gemeinsamkeiten stärken, Unterschieden gerecht werden, keine vergleichgültigende, vielmehr eine mit der Entschiedenheit für das Eigene verbundene Pluralität, darum also geht es. Mehr noch als bisher wird dabei die eigene religiöse Identität in pluralistisch-multikulturellen Gesellschaften im Dialog und in der Begegnung mit anderen ausgebildet werden. So eröffnet interreligiöses Lernen nicht nur ein besseres Verstehen der anderen, sondern gerade auch des eigenen Glaubens, indem es die tatsächlichen fundamentals christlicher Identität vertieft, entsprechend dem pointierten Ausspruch des Religionswissenschaftlers Max Müller: Wer nur eine Religion kennt, kennt keine<9>. Die Pluralismusfähigkeit der Kirche und des Christentums wird denn auch entscheidend davon abhängen, in welchem Masse es gelingt, das alternativlos Besondere christlichen Glaubens im Horizont der Weltreligionen offen-argumentativ darzulegen und zugleich Respekt vor dem spirituellen Reichtum der anderen Religionen zu bekunden. Unerlässlich ist daher die theologische Beschäftigung mit nichtchristlichen Religionen im Sinne eines wechselseitigen Kennen- und Verstehenlernens fremder Standpunkte und zugleich der Reflexion, ja, der Überprüfung des eigenen Standpunkts. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Befruchtungen, Konflikten und Verletzungen zwischen den Religionen, mit gewachsenen Stereotypen und Vorurteilsbarrieren sowie die Neuinterpretation der Glaubensgrundlagen für die Gegenwartsherausforderungen<10>. Interreligiöse Dialog- und Gesprächsfähigkeit bedeutet nicht zuletzt: das Eigene gegenüber Aussenstehenden so vermitteln zu können, dass ich selbst verstanden habe, worum es den andersglaubenden Gesprächspartnern geht. So sollten Christen etwa in der Lage sein, Muslimen etwas über den Sinn ihres Bekenntnisses zu Jesus Christus zu sagen, was erst sinnvoll wird, wenn sie selbst eine Vorstellung über das islamische Bekenntnis zur Einheit Gottes haben, aus dem heraus die Kritik an der christlichen Trinitätslehre entwickelt wurde.
Die Frage nach der Stellung der Religionen im Heilsplan Gottes für die Menschheit<11> bildet dabei theologisch wie spirituell eine Schlüsselfrage: Hat Gott möglicherweise mit der Vielfalt der Religionen, die nach menschlichem Ermessen nicht zu verschwinden scheint, etwas vor? Ist sie nicht nur zugelassen, sondern von Gott gewollt? Hängt davon doch entscheidend ab, ob und wieweit die Vielfalt der Religionen, die mit dem Christentum viel an Wahrheit gemeinsam und doch ihre je eigene Wahrheit haben, als Ausdruck von Gottes Willen mit der Menschheit bejaht werden kann. Dabei gehört es zu den bereicherndsten Entdeckungen unserer Zeit, dass wir nicht nur in der Welt des Christentums, sondern auch in anderen Religionen Spuren des vielgestaltigen Wirkens Gottes finden, Strahlen «jener Wahrheit», wie es das 2. Vatikanische Konzil formuliert, «die alle Menschen erleuchtet» (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nr. 2).

Resonanz auf Gottes Geistwirken

Deutlicher noch als das 2. Vatikanische Konzil haben neuere Äusserungen des Lehramts «die Gegenwart des Heiligen Geistes nicht nur in den einzelnen Menschen guten Willens, sondern auch in der Gesellschaft und Geschichte, den Völkern, den Kulturen und den Religionen ... herausgestellt»<12>. Ausdruck der gerade für Papst Johannes Paul II. so bedeutsamen wirksamen Gegenwart des Geistes Gottes im religiösen Leben und in den religiösen Traditionen der Nichtchristen ist nicht zuletzt der «Welttag des Gebets für den Frieden», zu dem er erstmals 1986 Vertreter der Religionen nach Assisi einlud. Der theologisch und spirituell weiterführendste Ansatz einer christlichen Theologie religiöser Pluralität besteht in der Tat darin, die Religionen als Resonanz auf Gottes Geistwirken zu sehen. So verstanden sind Religionen verschiedene, wenn auch nicht gleiche Wege, auf denen Gott in der Geschichte die Menschen in seinem Wort und in seinem Geist gesucht hat und immer noch sucht<13>. Im interreligiösen Dialog geht es dann um das Lernen und Empfangen von den Geistesgaben, die es bei anderen gibt und die ihnen von demselben Geist zukommen, der auch die Kirche beseelt. Neben dem theologisch-religionswissenschaftlichen Religionsdialog, neben alltags- und praxisbezogenen Verständigungsbemühungen braucht es dazu ganz wesentlich den spirituellen Dialog, der eine neue Erfahrung des Hörens und Lernens im Sinne eines tieferen Verstehens von innen heraus ermöglicht. Im aufmerksamen Hinhören auf das vielgestaltige Wirken Gottes gelangen wir denn auch zu einem volleren Verständnis und einer tieferen Erfahrung der Wahrheit: «Die Fülle der Offenbarung in Christus und ihre Universalität führt die Kirche ja gerade nicht in eine Exklusivität und Selbstgenügsamkeit», formuliert der angesehene Tübinger Theologe Peter Hünermann, «sondern in die Offenheit und in die Begegnung mit dem Geist Gottes in den unterschiedlichen geschichtlichen Religionen und ihren Lebensgestalten.»<14>

 

Der promovierte Theologe Christoph Gellner ist Leiter des Instituts für kirchliche Weiterbildung an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.


Anmerkungen

1 H. Waldenfels, Phänomen Christentum. Eine Weltreligion in der Welt der Religionen, Freiburg i.Br. 1994.

2 «Heute religiös zu sein», formulierte 1995 die 34. Generalkongregation des Jesuitenordens mit Recht, «heisst interreligiös zu sein in dem Sinne, dass in einer von religiösem Pluralismus geprägten Welt eine positive Beziehung mit Gläubigen anderer Religionen unumgänglich ist».

3 St. Leimgruber, Interreligiöses Lernen, München 1995, 135.

4 Vgl. F. Schweitzer u.a., Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Gütersloh/Freiburg i.Br. 2002.

5 H. Küng, Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg, München 1999, 7.

6 K. E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt. Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, bes. 516­522.

7 R. Englert, in: Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, 102.

8 Grundlegend R. Bucher, Pluralität als epochale Herausforderung, in: Handbuch Praktische Theologie, hrsg. v. H. Hasliger, Bd. 1, Mainz 1999, 91­101.

9 Vgl. O. Schumann, Wer nur eine Religion kennt, kennt keine. Das Studium fremder Religionen innerhalb des Theologiestudiums, in: Th. Ahrens (Hrsg.), Zwischen Regionalisierung und Globalisierung, Ammersbek 1997, 218.

10 So J. Lähnemann, Türen öffnen ­ Interreligiöses Lernen als Herausforderung, in: Katechetische Blätter 127 (2002) 398.

11 H. Pottmeyer, Auf dem Weg zu einer Theologie der Religionen, in: R. Göllner (Hrsg.), Das Christentum und die Weltreligionen, Münster 2000, 127­144. Zur Einordung: K.-J. Kuschel (Hrsg.), Christentum und nicht-christliche Religionen. Theologische Modelle im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1994.

12 Internationale Theologenkommission, Das Christentum und die Religionen, 1996, 82.

13 Vgl. B. J. Hilberath, Der Heilige Geist ­ ein Privileg der Kirche?, in: W. Gross (Hrsg.), Das Judentum ­ Eine bleibende Herausforderung christlicher Identität, Mainz 2001, 174­183; H. Kessler, Der universale Jesus Christus und die Religionen. Jenseits von «Dominus Jesus» und Pluralistischer Religionstheologie, in: Tübinger Theologische Quartalschrift 181 (2001) 212­237; H. Waldenfels, Christus und die Religionen, Mainz 2002.

14 P. Hünermann, Theologische Reflexionen zu einem umstrittenen römischen Lehrdokument, in: Was ist heute noch katholisch? Zum Streit um die innere Einheit und Vielfalt der Kirche, hrsg. v. A. Franz, Freiburg i.Br. u.a. 2001, 79.


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