11/2003

INHALT

Leitartikel

Theologie als Begegnung mit Christus

von Basil Studer

 

In der vor zwei Jahren zu Ehren von Theodor Schneider veröffentlichten Festschrift «Ökumene vor neuen Zeiten» findet sich auch der Beitrag «Ökumenische Spiritualität. Biographische Notizen» von Ulrich Wilckens. Im zweiten Abschnitt über die Gegenwart Gottes in der Heiligen Schrift erzählt der Verfasser, wie er die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges erlebte. Als ich, schreibt er, beim Nahen der amerikanischen Panzer von der Angst gepackt wurde, «hörte ich in meinem selbstausgeschaufelten Erdloch beim Lesen in einem winzigen Neuen Testament auf einmal die lebendige Stimme Christi, die aus dem gedruckten Text zu mir sprach, so persönlich gütig und mit einer so überlegenen Autorität, wie ich noch nie einen Menschen zu mir hatte reden hören: ÐIn der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt besiegtð (Joh 16,33)»<1>. Wilckens konnte diese Erfahrung nie mehr vergessen. Aber er war bei weitem nicht der erste, der aus der Bibel die Stimme Christi hörte. Auch Antonius hatte in der Kirche bei der Lesung des Evangeliums den Anruf des Herrn vernommen<2>. Als Augustinus das tolle, lege der Kinderstimme hörte, erinnerte er sich der Vita des Antonius, griff zur Bibel und fand dort die Worte, die seinem letzten Widerstand ein Ende machten: «Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten»<3>.
Die Stimme Christi kam indes nicht nur bei Menschen an, die vor der Entscheidung ihres Lebens standen. Sie lässt sich von allen vernehmen, die in seinem Namen versammelt sind, um miteinander die Heilige Schrift zu lesen und zu hören. Gläubige Menschen erfahren, wie Leo der Grosse mehr als einmal erklärt, im Gottesdienst bei der Lesung des Evangeliums die Gegenwart Christi. Sie hören jetzt ­ hodie ­ seine Worte, wie sie einst seine Jünger gehört haben. Dieses Erlebnis der Gleichzeitigkeit mit Jesus, dem einzig wahren Lehrer, wird vorzüglich jenen zuteil, die es sich für eine gewisse Zeit oder vielleicht für ihr ganzes Leben zur Aufgabe machen, die Bibel kennen zu lernen und sich mit ihr auf der wissenschaftlichen Ebene auseinander zu setzen. Gerade für die Theologen und Theologinnen gilt das Wort des Augustinus: Christus loquitur de Christo. Um die Geltung dieses theologischen Programmes aufzuzuzeigen, braucht man nicht weit auszuholen. Es genügt, auf ein paar treffende Beispiele hinzuweisen. Ich selbst möchte dazu drei Bibelkenner anführen, die mir besonders lieb sind: Origenes, Hieronymus und Augustinus.

«Wer die Bibel nicht kennt, kennt Christus nicht»

Als bedeutendstes Werk des Origenes wird gewöhnlich seine Schrift «De Principiis» angesehen. Wie der Meister von Alexandrien im Vorwort dazu ausdrücklich ankündigt, will er darin seine Leser zu Christus führen. «Jene», schreibt er, «die zum Glauben und zur Gewissheit gelangt sind, dass die Gnade und Wahrheit durch Jesus Christus geworden ist und dass Christus nach seinen eigenen Worten die Wahrheit ist, alle diese empfangen die Erkenntnis, die den Menschen dazu beruft, gut und glücklich zu leben, nirgendwo anders her als eben von den Worten und der Lehre Christi»<4>. Dabei spricht Origenes nicht, wie man lange Zeit annahm, im philosophischen Sinn von der Wahrheit. Er versteht «Wahrheit» vielmehr in der Bedeutung, die ihr im Johannes-Evangelium zukommt. Das kann weiter nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass er sich vor oder vielleicht während der Abfassung von «De Principiis» mit dem Anfang des vierten Evangeliums befasst hat. In seinem dogmatischen Hauptwerk hat er also die Wahrheit im Auge, die zum ewigen Leben führt, die Kunde vom Ursprung der Liebe. Wer aus dem Glauben an diese Wahrheit lebt, erkennt in ihr den Sinn des Lebens. Origenes lässt uns damit erahnen, dass nur, wer Jesus Christus ganz persönlich liebt, imstande ist, der ewigen Wahrheit in die Augen zu blicken, die ihn befreit. Wie sehr es ihm bei der Beschäftigung mit der Bibel auf die persönliche Begegnung mit Christus ankommt, bestätigt er in einer Homilie zum Buch Exodus. Darin verweist er seine Gläubigen auf den Auftrag des Herrn, die Talente zu nutzen (Mt 25,27). Sie sollen aus seinen Worten Zins schlagen, in dem sie so leben, wie er es ihnen vorschreibt<5>. Weil er an die Gegenwart des Herrn glaubt, wendet er sich in der gleichen Predigt mit der Bitte an ihn, ihm bei der Erklärung der Schrift zu helfen<6>. Diese Bitte wiederholt er immer wieder<7>. Wie sehr ihm die Liebe zu Christus am Herzen lag, erscheint vielleicht am schönsten am Ende einer Homilie zum Lukas-Evangelium, in der Origenes die Worte erklärte: Als Jesus in der Synagoge von Nazareth seine Erklärung des Jesaja-Textes beendete, waren «aller Augen gespannt auf ihn gerichtet» (Lk 4,20). Er sagt nämlich dazu: «Wie sehr wünschte ich, dass auch unsere Versammlung hier ein solches Zeugnis bekäme. Aller Augen, die der Katechumenen und der Gläubigen, die der Frauen und Männer und Kinder, nicht die Augen des Leibes, sondern der Herzen blicken auf Jesus! Wenn ihr nämlich auf ihn seht, dann wird von seinem Licht und von seinem Schauen auch euer Angesicht erleuchtet sein, und ihr werdet sagen: ÐHoch leuchtet über uns das Licht deines Angesichtes!ð (Ps 4,7)»<8>.

lectio et oratio

Wenn wir uns gegenwärtig halten, wie nahe Hieronymus dem Meister von Alexandrien stand, wundern wir uns nicht, dass auch er die Beschäftigung mit den Heiligen Schriften als Begegnung mit Christus begreift. Tatsächlich stellt er an den Anfang seines Jesaja-Kommentar das programmatische Wort: Ignoratio scripturarum, ignoratio Christi est<9>: «Wer die Bibel nicht kennt, kennt Christus nicht.» Dieses Leitmotiv verbietet uns allein schon, in Hieronymus einen Stubengelehrten zu sehen. Ohne Zweifel kümmerte er sich eingehend um die kritischen Fragen des Textes. Wie Origenes hielt er viel von der veritas hebraica. Er bemühte sich um eine gute lateinische Übersetzung der biblischen Bücher. Er benutzte die damaligen Mittel, um die Texte aus ihrem geschichtlichen Kontext heraus zu erklären. Kurz, die Bibel war für ihn ein Buch, das man wie andere Bücher literarisch und historisch erklären kann. Doch noch mehr sah er in ihr das Wort Gottes. Hieronymus war eben nicht bloss ein Gelehrter, sondern ein Mönch, den es drängte, seine Brüder und seine Schwestern zu Christus hin zu führen. Jeden Samstag predigte er ihnen über einen biblischen Text. Wie viel ihm an der Begegnung mit Christus lag, erscheint am klarsten in der Weise, wie er das Binom von lectio und oratio braucht. Die lectio der Bibel stellt nach seiner Auffassung den Anruf Gottes oder Christi dar. In der oratio hingegen sieht er die Antwort auf den göttlichen Anruf. Mit Origenes entfaltet er die dialogische Sicht zudem im Anschluss an das Hohelied. Wer also die Schrift liest, hört die Stimme des Bräutigams, und wer betet, indem er vor allem die Gebete der Psalmisten sich zu eigen macht, antwortet als Braut des Herrn. Wie ernst es ihm mit diesem Dialog ist, tritt noch eindrücklicher in der Art und Weise hervor, mit der Hieronymus die Bibel und die Eucharistie in engen Zusammenhang bringt. Wie Origenes betrachtet er das in den Heiligen Schriften hinterlegte göttliche Wort mit dem Brot vom Himmel. Andererseits sieht er in der Eucharistie eine Nahrung der Seele. Mit anderen Worten, der Gläubige begegnet Christus im Sakrament der Schrift und im Sakrament des Altares.
Das Leitmotiv Augustins Christus loquitur de Christo steht im 47. Tractatus in Ioannem. Im Blick auf den Abschnitt über den guten Hirten (Joh 10,14­21) umschreibt der Bischof von Hippo die Gegenwart Christi in der Predigt. «Wir haben gesagt», erklärt er, «dass wir durch Christus eine Türe zu euch haben. Warum? Weil wir Christus predigen. Wir predigen Christus und darum treten wir durch die Türe ein. Christus aber predigt Christus, weil er sich selbst predigt, und darum geht der Hirt durch sich selbst ein»<10>. Augustinus kommt immer wieder auf diesen grundlegenden Gedanken zurück. Am eindrücklichsten aber entfaltet er ihn in seiner Rede «De disciplina christiana». Im Anschluss an Jesus Sirach definiert er in der Einleitung die Kirche als domus disciplinae, als Lehrhaus. Um seine These zu entfalten, stellt er vier Fragen. Was wird gelernt? Wozu wird es gelernt? Wer lernt? Von wem lernt man? Die Antwort zur vierten Frage ist ohne Zweifel die wichtigste. Augustinus führt dazu aus: «Wer ist der Lehrer, der da lehrt? Nicht irgendein Mensch, sondern der Apostel. Zweifellos der Apostel und dennoch nicht der Apostel... Christus ist es, der lehrt. Seine Kathedra hat er im Himmel... Seine Schule ist auf Erden, und seine Schule ist sein Leib. Das Haupt lehrt seine Glieder, die Zunge spricht zu den Füssen. Christus ist es, der lehrt. Wir wollen es hören, wollen es fürchten, wollen es tun.»<11> Wenn hier vom Leib Christi die Rede ist, darf das uns nicht dazu führen, Kirche zu abstrakt zu verstehen. Mit der ecclesia ist vielmehr die Gemeinde gemeint, die Lehr- und Lerngemeinschaft der Christen. In dieser Gemeinschaft lernen die Gläubigen. Der Bischof hingegen lehrt an der Stelle Christi. Aber auch er lernt von Christus und ist darum ein Mitschüler der Gläubigen: ein condiscipulus der discipuli Christi. Wie der Hinweis auf das sursum corda nahe legt, geschieht das Lehren und Lernen vor allem im Gottesdienst, in dem alle zusammen das Wort Christi hören und Christus es durch den Mund des Bischofs erklärt. Es ist indes gewiss nicht überzogen zu sagen, dass die domus disciplinae sich in vorzüglicher Weise in jenen verwirklicht, die ihre Verantwortung für das Lehren und Lernen ernst nehmen und darum sich gemeinsam oder einzeln mit den Heiligen Schriften beschäftigen. Mehr als die einfachen Gläubigen suchen sie, im Bibelstudium Christus zu begegnen. Sie lesen und meditieren nicht mehr wie einst in der Schule die Werke der Klassiker, um sich für eine politische Karriere vorzubereiten. Sie schulen ihren Geist vielmehr mit der Schrift, aus der Christus redet. Gerade so werden sie fähig, dessen Stimme auch ihren Gläubigen vernehmbar zu machen.

magister interior und magister exterior

Wenn Augustinus von Christus, dem einzig wahren Lehrer spricht, liegt über seinen vielfältigen Aussagen zweifelsohne eine starke Spannung. Er liebt es nämlich, zwischen dem magister interior und dem magister exterior zu unterscheiden. Der innere Lehrer erleuchtet unseren Geist. Er ist die ewige Wahrheit, dank deren Gegenwart wir fähig werden, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, ein gültiges Urteil über die Wahrheit einer Aussage zu fällen. Es ist allerdings nicht leicht, das, was Augustinus mit der Erleuchtung des Geistes durch den inneren Lehrer meint, von dem abzugrenzen, was er über die Notwendigkeit der inneren Gnade für die Bekehrung aus dem Glauben lehrt. Beides, das Urteilen über die Wahrheit und der Anfang des Glaubens, hängen von Christus ab. Doch wie das Verhältnis von Erleuchtung und Glaubensgnade auch zu bestimmen ist, Augustinus betrachtet Christus nicht nur als inneren Lehrer. Er sieht in ihm auch den äusseren Lehrer, der die Menschen zum Glauben führt. Immer wieder zitiert er den Vers aus dem Epheserbrief, in dem es heisst: «Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen» (Eph 3,17).<12> In Anlehnung an die Erzählung vom Sturm auf dem See, mahnt er sogar seine Christen, den Glauben in ihnen zu wecken, wie die Jünger den im Boot schlafenden Jesus aufweckten. Aufgrund des Glaubens ist danach Christus im Christen gegenwärtig. Christus in den Herzen ist genauerhin der Glaube an Christus: In wem der Glaube an Christus nicht schläft, in dem wacht Christus. Er lenkt das ganze Leben des gläubigen Christen: Er erleuchtet ihn, schenkt ihm Geduld, macht ihn nicht übermütig im Glück, lässt ihn selbst im Unglück Gott lobpreisen.
Am tiefsten drückt sich Augustinus über die Rolle des äusseren Lehrers in einer Erklärung von 1 Kor 15,23­28 aus, wo von der Unterwerfung aller Dinge durch Christus und ihrer Vollendung in Gott die Rede ist. Laut dieser Exegese bringt Christus den Menschen zum Glauben an seine Gottheit und damit zur Schau der Gottheit des Vaters<13>. Diese Auffassung vom menschgewordenen Christus, der die Menschen zum Glauben an die Dreifaltigkeit führt, liegt auch «De Trinitate», dem theologischsten Werk Augustins, zugrunde. Das kommt vielleicht am klarsten im zweiten Buch zum Ausdruck. Augustinus erläutert dort die Erzählung im Buche Exodus, nach welcher Mose am Gottesberg die göttliche Herrlichkeit nur aus einem Felsspalt von hinten sehen konnte<14>. Die posteriora, von denen der lateinische Text redet, deutet er speziell auf die Auferstehung Christi. Der Wert unseres Glaubens, sagt er, liegt in der Auferstehung Christi. Indem wir daran glauben, blicken wir gleichsam von einem unerschütterlichen Felsen herab. In sicherer Hoffnung erwarten wir die Annahme an Kindes statt, die Erlösung unseres Leibes. Mit anderen, von Augustinus selbst nahe gelegten Worten, indem wir an das Pascha, an den transitus Christi glauben, vollziehen wir unser Pascha, unseren eigenen transitus zum Vater (vgl. trin. II 17,29f. Dazu ep. 55, 1,2). Es ist nicht möglich, hier weiter zu begründen, in welchem Sinn der Glaube an das, was die Schrift vom Leben und vor allem von der Auferstehung Jesu erzählt, die Grundlage des Glaubens an die Dreifaltigkeit und des tieferen Verständnisses dieses Glaubens bildet. Es mag genügen, auf eine Stelle des eben zitierten zweiten Buches «De Trinitate» zu verweisen, an der Augustinus in etwa die Hauptintention seines Werkes zusammenfasst: «Um so sicherer lieben wir das Antlitz Christi, das zu schauen wir verlangen, je mehr wir an seinem Rücken erkennen, wie sehr uns Christus zuerst geliebt hat.»<15> Im Antlitz Christi das Antlitz Gottes schauen, daraufhin sind die fünfzehn Bücher «De Trinitate» orientiert. Doch dazu gehört, dass wir zuerst Jesus Christus lieben, der für uns gelebt hat, gestorben und auferstanden ist.<16>
Als ich vor 47 Jahren anfing, drei Mitbrüder in die Dogmatik einzuführen, legte ich meinem Unterricht die Worte Kardinal Newmans zugrunde: Cor ad cor loquitur. Meine drei Hörer waren von diesem Leitwort sehr angetan. Das ist weiter nicht verwunderlich. Sie waren nicht auf grosse Theorien aus. Sie erwarteten etwas für das Leben. Sie waren offen für ein Wort, das zum Herzen spricht. In den langen Jahren danach, während derer ich im Kameruner Priesterseminar, in S. Anselmo und am Augustinianum in Rom und an manch anderen Orten systematische und historische Theologie dozierte, ging ich mehr und mehr über das Cor ad cor hinaus. Ich kam nach und nach zur Einsicht, dass es sich beim Theologiestudium nicht allein darum handeln kann, das Wort Gottes hinüber zu bringen, es überzeugend zu lehren, wie Augustinus es in «De doctrina christiana» verlangt. Es genügt nicht, Texte der Bibel und der nachapostolischen Tradition zu analysieren und synthetisch zusammenzufassen. Es ist vielmehr die Aufgabe eines Lehrers der Theologie, die Studenten und Studentinnen zu Christus zu führen.

Als discipuli in die schola des einzigen magister gehen

Wie grundlegend es ist, in den Hörern und Hörerinnen die Liebe zu Christus zu wecken, erfasste ich schliesslich noch tiefer, als ich begann, mich mit den Schriften des seligen Frowin zu beschäftigen. Dieser begnadete Gottesmann, der in der Mitte des zwölften Jahrhunderts das Kloster Engelberg leitete, begründete nicht nur eines der berühmtesten Scriptorien der Schweiz. Er hinterliess uns auch zwei theologische Schriften: «De laude liberi arbitrii» und die «Explanatio Dominicae orationis». Die zweite, von P. Sigisbert Beck in der «Continuatio medievalis» des «Corpus Christianorum» edierte Schrift, soll die umfangreichste Erklärung des Vaterunsers sein. Darin legt der Verfasser die ersten drei Bitten des Herrengebetes trinitarisch aus. Er bezieht die Heiligung des Namens auf den Vater, das Kommen des Reiches auf den Sohn und die Erfüllung des Willens auf den Heiligen Geist. Besonders beeindruckt mich die Erklärung der zweiten Bitte. Der selige Frowin versteht sie folgendermassen. «Dein Reich komme», besagt nach ihm, das Wort, das alles erschaffen hat und alles erhält, möge zu uns kommen. Diese Bitte geht desto mehr in Erfüllung, je klarer wir erfassen, auf welche Weise das Wort, die Wahrheit des Vaters, in der Schöpfung und in der Vorsehung wirkt und waltet, und je mehr durch diese Einsicht unsere Erkenntnis dem ewigen Worte immer gleichförmiger wird. Frowin vertieft seine Auffassung von der zunehmenden Anpassung unseres Geistes an die ewige Wahrheit, indem er die alte Thematik von der Gottes- und Selbsterkenntnis aufnimmt und zugleich im Blick auf das Hohelied herausstellt, dass allein Gott und sein Lob uns selig machen.
Wir stehen hier ohne Zweifel vor einer einzigartigen trinitarischen Frömmigkeit. Sie ist ganz von Augustinus inspiriert. Dennoch lässt sie uns heute etwas unbefriedigt. Sie kommt uns zu wenig biblisch vor. Sie mag jene anregen, die sich auf die philosophischen Fragen konzentrieren, Christus, die veritas aeterna, im Auge zu behalten. Sie erinnert zum Beispiel daran, wie die dulcia sermonum commercia, wie unser Gesprächsaustausch, uns zu einer tieferen Gotteserkenntnis führen. Aber sie lässt ausser acht, dass die Liebe des himmlischen Vaters auf dem Antlitz Jesu aufgeleuchtet ist und wir in der Liebe zu den von der historia sacra erzählten posteriora dem Ursprung der Liebe näher kommen.
Wenn die trinitarische Frömmigkeit des seligen Frowin heute nicht mehr alle unsere Erwartungen stillt, dann vor allem deswegen, weil sie wie die Theologie des zwölften Jahrhunderts auf einer nur teilweisen Rezeption der augustinischen Trinitätslehre beruht. Auch in ihr wird die Einheit Gottes zu einseitig hervorgehoben. Frowin bezieht selbst den Namen «Vater» im Herrengebet auf den einen Gott. Ebenso hängt seine trinitarische Frömmigkeit ganz von der in manchem diskutablen psychologischen Trinitätslehre Augustins ab. Gerade darum erweist sie sich als zu wenig biblisch. Es ist ausserdem zuzugeben, dass Augustinus selbst die Eigenart der drei göttlichen Personen, trotz gewisser Ansätze, zu wenig herausgearbeitet hat. Seine Zeit war dazu noch nicht reif dazu. Wenn wir jedoch Augustins personale Perspektive in Anlehnung an Richard von St. Victor, einen Zeitgenossen Frowins, und vor allem mit Hilfe des modernen Personalismus eines Buber weiter entfalten, werden wir die trinitarische Frömmigkeit Frowins tiefer erfassen. Die zweite Bitte des Vaterunsers lautet dann wie folgt: Es komme die Liebe zu uns, die der himmlische Vater in Jesus geoffenbart hat. Jesus zeige uns sein liebendes Antlitz und lasse die Liebe seines Vaters auch auf unserem Antlitz aufleuchten<17>.
Wir klammern uns also nicht an den Buchstaben der historia sacra, die von Christus erzählt. Es ist uns auch nicht genug, die Worte der Heiligen Schriften laut zu lesen, wie das die frühen Christen taten und die Juden es noch immer tun. Wir gehen vielmehr wie die discipuli in die schola des einzigen magister. Dort wollen wir die Stimme Jesu selber hören, wie seine Jünger sie einst vernommen haben. Er selbst soll uns sagen, dass Gott uns liebt. Mit einem Wort, wir bitten ganz im Geist des seligen Frowin: Die Liebe Christi komme zu uns, damit Gott in der Einheit des Heiligen Geistes alles in allem sei.

 

Der Engelberger Benediktiner P. Basil Studer dozierte an verschiedenen Hochschulen systematische und historische Theologie. Durch zahlreiche Veröffentlichungen aus dem Gebiet der antiken christlichen Literatur bekannt, ist er Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Luzern; sein nebenstehender Beitrag gibt den Festvortrag zur Eröffnung des Studienjahres 2002/2003 der Theologischen Schule der Benediktinerabtei Einsiedeln, die mit der Römer Hochschule S. Anselmo affiliiert ist, wieder.


Anmerkungen

1 S.83.

2 Vita Antonii, 2,3 & 3,1.

3 Conf. VIII 12,29f.

4 Princ. I. praef. 1.

5 HEx XIII,1.

6 Ebd.

7 Vgl. z.B. HIer XIX,15.

8 HomLc 32,6: FChr 4/2,327ff.

9 In Is. Prol

10 Io.eu.tr. 47,3: BKV 11,279.

11 Disc. 14.15.

12 Vgl. Gratia Christi, 101f.

13 Diu.qu. 69.

14 Trin. II 16f., mit Ex 33,18­23.

15 Trin. II 17,28: BKV 11,93. Vgl. trin. XV 27,49.

16 Vgl. C. Simonelli, La resurrezione nel De Trinitate di Agostino, Roma 2001, 152.

17 Vgl. oben, Origenes, Hom.Lc, 32,6.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2003