43/2002 | |
INHALT |
Theologie in Luzern |
Ich beginne mit einer Definition von Philosophie und Theologie, welche
das Gemeinsame zwischen den beiden Disziplinen betont. Philosophie und Theologie
sind ein Rechenschaftsablegen. Philosophie ist wesentlich charakterisiert
durch die Tätigkeit des Sokrates (470399 v. Chr.). Sokrates aber
verstand seine Tätigkeit als ein Rechenschaftsablegen (lo¢gon
dido¢nai) über entscheidende Begriffe, die wir verwenden. Bei
Sokrates waren es insbesondere moralische Begriffe, wie zum Beispiel Tapferkeit,
Gerechtigkeit, Tugend im Allgemeinen; diese Begriffsanalyse wurde schnell
auch auf weitere Begriffe ausgedehnt. Pointiert liesse sich sagen: Vorsokratische
Philosophen sind Philosophen, die von Sokrates nicht beeinflusst sind; fast
alle Philosophen nachher sind von Sokrates beeinflusst.
Im ersten Petrusbrief dagegen lesen wir:
«... den Herrn Christus haltet heilig in euren Herzen, allezeit bereit
zur Antwort gegen jeden, der von euch Rechenschaft (lo¢gon) fordert
über die Hoffnung, die in euch ist» (1 Petr 3,15; Übersetzung
der Zürcher Bibel, mit kleinen Veränderungen des Verfassers).
Theologie und Philosophie sind so eine Form von Rechenschaftsablegung, Philosophie
über Grundbegriffe im Allgemeinen, wozu auch der Gottesbegriff gehört,
Theologie über Grundbegriffe, wie sie aus der Bibel hervorgehen, wie
zum Beispiel Schöpfung, Trinität, Inkarnation, Gnade und Erlösung.
Formen dieser Rechenschaftsablegung sind Erläuterung und Begründung.
Insoweit Theologie und Philosophie nicht nur Meinungen, sondern logisch
korrekte Begründungen für richtige Meinungen, das heisst eben
Wissen, mitzuteilen versuchen, können sie auch den Anspruch erheben,
Wissenschaften zu sein.
Freilich ergibt sich hier auch ein fundamentaler Unterschied zwischen
Theologie und Philosophie, nämlich ein unterschiedliches Verhältnis
zur Autorität. Für die Philosophie ist die einzige Autorität
das Argument, und sie hat sich von ihm dorthin führen zu lassen, wohin
sein «zwangloser Zwang» (Jürgen Habermas) uns bringt, wie
das bereits Sokrates paradigmatisch formuliert hat: «Denn ich weiss
es [ob Dichtung Mimesis sein soll oder nicht] selbst noch nicht, sondern
wohin uns, dem Winde vergleichbar, die Rede treibt, dahin müssen wir
gehen» (Rep. 394d). Ausser diesem «zwanglosen Zwang» des
besseren Argumentes akzeptiert die Philosophie keine Autorität. Die
Philosophie hat insofern auch eine offene Zukunft. So weiss ein Philosoph
jetzt noch nicht, was er in Zukunft weiss. Die katholische Theologie nimmt
zusätzlich zwei weitere Autoritäten an, nämlich einerseits
die Bibel und andererseits das römische Lehramt, die beide auf Grund
ihres letztlich göttlichen Ursprungs grundsätzlich ebenfalls Anspruch
auf Wahrheit erheben, auch wenn diese Wahrheit durch die Vernunft weder
eingesehen noch erschlossen werden kann. Ein Argument gehört also in
die Theologie, wenn eine seiner Prämissen in der biblischen Offenbarung
oder im Lehramt gründet. Ein Argument gehört in die Philosophie,
wenn keine seiner Prämissen aus der biblischen Offenbarung oder dem
Lehramt abgeleitet ist. Nun ist es möglich, dass die Konklusion eines
theologischen Argumentes den Prämissen oder der Konklusion eines philosophischen
widerspricht. So zum Beispiel widerspricht die theologische Proposition,
dass die Welt aus Nichts geschaffen wurde, der philosophischen Prämisse,
dass aus nichts nichts entsteht. Welche der beiden Propositionen gilt nun,
die philosophische oder die theologische? Der Theologe muss konsequenterweise
das erstere annehmen, da eine Aussage, die sich auf einen göttlichen
Ursprung berufen kann, einen höheren Anspruch auf Wahrheit erheben
kann als eine Aussage, die sich nur auf ein menschliches Argument zu stützen
vermag. Denn eine menschliche Prämisse kann unwahr und ein menschliches
Argument ungültig sein, ein göttliches dagegen nicht.
Nun stehen aber in der Bibel viele Aussagen, die zwar Gott zugeschrieben
werden, aber vor der menschlichen Vernunft nicht bestehen können, wie
zum Beispiel, dass die Sonne einen Tag lang über Gibeon stehen geblieben
ist (vgl. Josua 10,1214) oder der Völkermord, den Jahwe Israel
befiehlt (vgl. Deuteronomium 7,16). Dann stellt sich aber die Frage, welche
der biblischen Aussagen tatsächlich einen göttlichen Ursprung
aufweisen und welche nicht, sondern dies nur beanspruchen und historisch
bedingt sind oder Gott für sehr irdische Zwecke missbrauchen. Dies
ist wieder Aufgabe der theologischen Exegese. Jedenfalls scheint sich Gott
nur fragmentarisch in der Bibel zu offenbaren, die einem «Spiegel
in rätselhafter Gestalt» vergleichbar ist (vgl. Paulus, 1 Kor
13,12).
Beide Disziplinen, das heisst Philosophie und Theologie, standen im Verlauf
der Geschichte in einem wechselhaften und manchmal schwierigen Verhältnis
zueinander. Das eine Extrem ist die Trennung von Glauben und Wissen, wonach
der Glaube völlig irrational ist. Der Fachterminus dafür lautet
«Fideismus». Das Stichwort dafür ist das Tertullian (gegen
160 bis nach 220) zugeschriebene: «Ich glaube, weil es absurd ist»
(credo quia absurdum). Tertullians Worte lauten allerdings tatsächlich:
«Es ist glaubhaft, weil es unpassend ist» (credibile est, quia
ineptum est) (De carne Christi, 5.4). Das andere Extrem ist die Vermengung
von Glauben und Wissen. Der Fachterminus dafür ist «Rationalismus»,
wonach auch der Glaubensinhalt rational durchdrungen werden kann. Der Fideismus
unterschätzt die Vernunft, wenn er ihr zu glauben gebietet, weil es
absurd ist; der Rationalismus dagegen überschätzt sie.
Eine mittlere Lösung ist diejenige des Thomas von Aquin (12251274),
auf die Papst Johannes Paul II. (*1920) in seiner Enzyklika «Fides
et Ratio» (1998) unter dem Untertitel «Die bleibende Neuheit
des Denkens des hl. Thomas von Aquin» (§ 43) wieder hingewiesen
hat. Nach Thomas haben wir eine Harmonie von Glauben und Wissen auf Grund
einer klaren Unterscheidung von Philosophie und Theologie. Thomas nimmt
eine doppelte Erkenntnisquelle an: die göttliche Offenbarung als Grundlage
unserer übernatürlichen Glaubenserkenntnis und die Sinneserfahrung
als Grundlage unserer natürlichen Verstandeserkenntnis. Philosophie
und Theologie sind beide autonome Wissenschaften, das heisst sie haben ihre
eigenen Erkenntnisgegenstände und in gewissem Sinne auch
ihre eigenen Methoden. Doch sind sie aufeinander hingeordnet: Der Inhalt
des Glaubens, wie zum Beispiel dass die Welt aus dem Nichts geschaffen wurde,
ist für uns Menschen nicht einsichtig und nötigt deshalb auch
den Verstand nicht zur Zustimmung. Der Verstand bedarf dazu einer besonderen
Bewegung des Willens und vor allem auch der Glaubensgnade: «Da der
Mensch, indem er demjenigen zustimmt, was der Inhalt des Glaubens ist, über
seine Natur erhoben wird, ist es notwendig, dass ihm dies [d.h. das Über-seine-Natur-Erhoben-Werden]
infolge eines übernatürlichen Prinzips innewohnt, welches von
innen dazu bewegt, was eben Gott ist» (Summa Theol. IIII, q.
6, art. 1.c). Ganz anders beim Wissen. Was in seinem Bereich liegt, ist
dem menschlichen Erkenntnisvermögen grundsätzlich zugänglich.
Diese klare Unterscheidung bedeutet aber für Thomas keine Trennung,
da die beiden Bereiche der Inhalt des Glaubens und Wissens ihren
letzten und gemeinsamen Ursprung in Gott haben und deshalb in der Einheit
einer ontischen Wahrheit übereinkommen, die in Gott begründet
ist, die wir aber nur auf zwei voneinander unterschiedene Weisen erkennen
können: Der Mensch steige also durch das natürliche Licht der
Vernunft auf dem Wege über das Geschaffene zur Erkenntnis Gottes empor,
und die göttliche Wahrheit, die über den menschlichen Verstand
hinausgeht, steige in der Offenbarung zu uns herunter (vgl. Summa contra
Gentiles IV,c.1). Wie nämlich die Gnade die Natur voraussetze und vollende,
so setze der Glaube die Vernunft voraus und vollende sie. Das heisst: Die
Vernunft allein hat etwas Unvollendetes in sich. Sie bietet nämlich
keine Erfüllung des natürlichen Verlangens nach Wissen, da Fragen
wie die nach Ursprung und Ziel der Welt und des Menschen die Antwortmöglichkeiten
der Vernunft übersteigen. Deshalb kann Thomas von Aristoteles und zwei
seiner Kommentatoren, Alexander von Aphrodisias (3. Jh. v. Chr.) sowie Ibn-Rushd
bzw. Averroës (11261196), schreiben: «Es ist hierbei genügend
deutlich, in welch grosse Bedrängnis (angustia) ihr hervorragender
Geist geriet» (S.c.G. III, 48).
Die Bedrängnis muss sich noch gesteigert haben für Kant (17241804),
der der theoretischen Vernunft ihre Grenzen nachgewiesen hat und die Erkenntnis
eines Endzweckes aus ihrem Bereich systematisch ausgeschlossen hat. Wenn
wir eine Unterscheidung von Gabriel Marcel (18891973) und Noam Chomsky
(*1928) zwischen Problem und Geheimnis aufnehmen, so lässt sich sagen,
dass es einen Bereich von Fragen gibt, die nicht mehr Probleme, sondern
Geheimnisse sind, zum Beispiel die Frage, warum es das Böse gibt. Bei
den Problemen verfügen wir über eine Strategie, sie im Hinblick
auf eine Lösung anzugehen, bei den Geheimnissen aber nicht. So schreibt
G. Marcel: «Während ein echtes Problem einer bestimmten, ihm
angemessenen Technik unterworfen ist, in Abhängigkeit von der es definiert
wird, so übersteigt ein Geheimnis durch Definition jede vorstellbare
Technik» (Etre et Avoir, Journal Métaphysique, Eintrag vom
23. Dezember 1932). Doch ein Geheimnis ist nicht mehr problematisch, sondern
«metaproblematisch», das heisst es steht jenseits eines lösbaren
Problems. Wenn es eine Lösung des Geheimnisses des Bösen gäbe,
so könnten wir Menschen sie wohl nicht einmal verstehen.
Die primäre Aufgabe der Philosophie an einer Theologischen Fakultät
sehe ich darin, solche «Geheimnisse» deutlich zu machen. So
zum Beispiel ist das so genannte Leib-Seele-Problem meines Erachtens ein
Geheimnis, eben das «Leib-Seele-Geheimnis». Analoges gilt vom
Problem der Willensfreiheit und wohl auch vom Problem des Bösen. Damit
wird aber noch keine Abwertung der natürlichen Vernunft vollzogen.
Wir gelangen vielmehr nur mittels der Vernunft an ihre Grenze.
Eine zweite Aufgabe liegt darin, die begrifflichen Grundlagen für das
Verständnis der Dogmatik, der theologischen Ethik und nicht zuletzt
der Kirchengeschichte bereitzustellen, wie zum Beispiel das Verständnis
des Substanzbegriffes, also dessen, was selbständig existiert. Bei
all dem kann es nicht darum gehen, einen vergangenen Stand der Philosophie
zu reproduzieren, sondern beides die sachliche und historische Aufgabe
hat unter Einbeziehung der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu geschehen.
In der Tat trennen uns von Thomas nicht nur siebeneinhalb Jahrhunderte.
Wir leben offensichtlich in einer anderen Welt, die nicht nur durch die
Expansion von Wissenschaft und Technik, sondern auch durch Glaubens- und
Gewissensfreiheit (vgl. Art. 15 der Bundesverfassung) und zumindest in Europa
und Amerika durch eine weitgehende Trennung von Religion und Staat gekennzeichnet
ist. Die Trennung von Religion und Staat hat immer wieder zum Ruf einer
Trennung von Kirche und Staat geführt. In der Schweiz sind für
die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat bekanntlich
die Kantone zuständig (vgl. Art. 72 der Bundesverfassung).
Im Kanton Luzern ist der radikalen Forderung nach einer völligen
Trennung von Kirche und Staat allerdings nie Rechnung getragen worden. Es
besteht vielmehr eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den
drei Landeskirchen, die wohl auch dem Willen der mehrheitlich katholischen
Bevölkerung entspricht. (In Zukunft ist auch vermehrt eine Zusammenarbeit
zwischen dem Staat und Konfessionen, die keinen landeskirchlichen Status
haben, in Erwägung zu ziehen.)
Der Lehrstuhl, den der Verfasser innehat, ist ein Lehrstuhl der Theologischen
Fakultät, der von 1972 bis 1996 von Herrn Prof. Dr. D. Schmidig besetzt,
von 1996 bis 2000 vakant blieb und durch Herrn Prof. J. Disse, jetzt Theologische
Fakultät Fulda, vertreten wurde. Auf den 1. Oktober 2000 wurde der
Unterzeichnende durch Regierungsratsbeschluss zum ordentlichen Professor
gewählt, nachdem er ein Jahr zuvor einem Ruf an die Philosophische
Fakultät der Universität zu Köln folgte (19992000).
Der Standort dieses Lehrstuhls ist gemäss den Berufungsverhandlungen
das Philosophische Seminar der Geisteswissenschaftlichen Fakultät.
Diesem Seminar gehören heute als Professoren Frau Prof. K. Gloy und
Prof. Dr. E. Rudolph, Nachfolger von Herrn Prof. A. Horváth, an.
Der Lehrstuhl, den der Verfasser innehat, ist also einerseits ein Lehrstuhl
der Theologischen Fakultät, andrerseits ist er im Philosophischen Seminar
lokalisiert, mit dessen Angehörigen er zusammenzuarbeiten hat. Ein
Schwerpunkt ist dabei die antike Philosophie.
Dieser besonderen Situation des Lehrstuhls einer Theologischen Fakultät
an einem Philosophischen Seminar entsprechend bietet der Lehrstuhlinhaber
Philosophie unter rein wissenschaftlichen Vorzeichen an. Eine solche Philosophie
kann ihrer Natur nach nicht eine konfessionelle Philosophie, also weder
katholisch, protestantisch, orthodox, jüdisch, muslimisch, buddhistisch
usw., sein. Das wäre ebenso widersinnig wie eine katholische, evangelische
oder orthodoxe usw. Mathematik, Physik oder Chemie. Eine solche Philosophie
könnte von der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht ernst genommen
werden, so wenig wie eine katholische Mathematik oder Physik. Sie wäre
auch an einer staatlichen Universität, die ja nicht allein von einer
Glaubensgemeinschaft getragen wird, deplaziert. In der menschlichen Vernunft
liegt nämlich ein Streben nach allgemeiner Gültigkeit, die Philosophie
ist im Prinzip die Verkörperung der menschlichen Vernunft. Entsprechend
hat die Philosophie auch die Pflicht, in einer Art und Weise zu arbeiten,
die für jedermann verbindlich sein kann. Christlich kann eine Philosophie
nur in dem akzidentellen Sinne sein, dass sie auf Themen, die für die
Theologiestudierenden von besonderem Interesse sind, historisch und systematisch
besonderes Gewicht legt. Dabei gilt es aber, zwischen Innen- und Aussenperspektive
zu unterscheiden, das heisst die Innenperspektive eines Autors, der seine
Ansichten aus dieser Perspektive für wahr hält, nicht tel quel
zu übernehmen, sondern auch der kritischen Evaluation zu unterziehen.
Rafael Ferber ist der neue Inhaber des Lehrstuhls Philosophie der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.