31-32/2002 | |
INHALT |
Leitartikel |
Bald ist es ein Jahr her, dass das «Wort der Kirchen» von
den Offiziellen der Kirchen den Christen und Christinnen, den Menschen allen
guten Willens übergeben wurde. Ich habe dieses Wort entgegengenommen
mit dem Auftrage, in meiner politischen Arbeit den Bogen zu spannen zu dem,
was ich als Alltagsrealität erfahre, und der Anfrage der Kirchen, was
sie als gute Gesellschaft sehen. Kann der Auftrag wenigstens so sein, dass
wir alle versuchen, immer wieder kleine und grössere Schritte der Annäherung
zu machen. Das Bild des Bogens ist gerade auch um den 1. August herum ein
sinniges Bild. Es erinnert an den Regenbogen, das Symbol des Bundes zwischen
Gott und den Menschen im Alten Testament.
Sie und ich, wir leben in einer Gemeinde, sei es in einer politischen und/oder
kirchlichen Gemeinde. Mitglied zu sein in einer politischen Gemeinde ist
Pflicht, Mitglied zu sein in einer Kirche ist mit Wahlfreiheit verbunden.
Und doch ist unser aller gemeinsame Auftrag, den Menschen hier wie dort
zu begegnen, ihnen Wohlbefinden und Wohlergehen zu ermöglichen, ihnen
die Chance zu geben, sich als Person zu entfalten, einen Sinn im Leben zu
finden. Ist also der Bogen, den wir zu den Menschen spannen müssen,
gar nicht so unterschiedlich?
Zugegeben, schon oft habe ich stille Anfragen und Klagen an die Kirche gerichtet
mit dem Wunsche, dass sie doch die Menschen mehr und besser auf so genannte
christliche Tugenden oder Werte sensibilisieren sollten, damit es im politischen
Alltag besser oder menschlicher zugehen könnte. Ich denke hier an Solidarität,
Mitmenschlichkeit, die Hingabe zum Schwächeren, das Wissen, dass nicht
alle Menschen die gleiche Energie und Kraft aufbringen können, um das
Leben zu meistern, dass es Rahmenbedingungen braucht, damit die Welt gerechter,
friedlicher usw. wird. Damit habe ich die Hoffnung verknüpft, dass
der Mensch doch mit dieser guten Grundhaltung als Staatsbürger, als
Stimmbürgerin und Stimmbürger handeln wird. Genauso weiss ich,
dass ich diese Arbeit nicht delegieren kann, dass sie letztlich ein Auftrag
auch für die politische Ebene selber bleibt. Und doch möchte ich
hier auf einige wenige Haltungen zu sprechen kommen, die einen Bogen zu
den Menschen spannen, Brücken bauen könnten. Wir sind alle gemeinsam
unterwegs.
In der Gemeinde oder in der Pfarrei gilt es, den Bogen zu spannen zwischen
den «grossen Fragen und kleinen Fragen», zwischen den «grossen
Problemen und den so genannten kleinen Problemen». Immer wieder wird
von den Menschen erwartet, dass sie zu grossen Gesetzgebungen, zu wirtschaftlichen
Veränderungen «ja» sagen im Sinne, dass wir dies brauchen
und dass es unsere Zukunft sichert. Wie können wir aber heute diese
Menschen für solche «Visionen» gewinnen, wenn wir nicht
ihre Alltagssorgen, ihre Ängste in der Arbeitswelt, ihre Ängste
für die Zukunft der Kinder wahrnehmen? Gerade im politischen Alltag
einer Gemeinde erwachsen oft Widerstände gegen Ideen und Vorlagen,
die aus einer grossen Wut auf das «Nicht-ernst-genommen-Werden»
entstehen.
Ich erachte das Eingehen auf Einzelschicksale auf der untersten politischen
wie kirchlichen Ebene als enorm wichtig und notwendig, um bei den Menschen
wieder Vertrauen, Freude, Freiheit aufzubauen, damit sie für das Grössere,
das Vernetzte Verständnis aufbringen, oft auch Einsichten gewinnen
für Sachzwänge. Die Menschen abholen, wo sie sind, und nicht unbedingt
dorthin führen, wohin wir wollen.
In diesem Bogenspannen begegne ich der Frage der Wahrnehmung. Immer wieder erleben Menschen, Organisationen, Vereine in der Gemeinde die Behörde auf ihre eigene Art und Weise. Und oft müssen wir im gemeinsamen Gespräch feststellen, wie unterschiedlich wir eine Situation erleben, wie unterschiedlich die gegenseitige Wahrnehmung ist. Das führt oft zu Missverständnissen, zu Konflikten, auch zu Frustrationen, und oft scheint der Rückzug der scheinbar einzige Weg. Diese unterschiedliche Wahrnehmung der Sachlage, der Probleme, der möglichen Lösungsansätze begleitet mich stark in meiner politischen Arbeit. Fridjof Capra braucht in seinem Buche «Wendezeit» die Aussage, dass viele Probleme unserer Zeit aus einer «Krise der Wahrnehmung» entstehen, dass die Menschen von heute kaum mehr fähig sind, ihre Umgebung wahrzunehmen, die echte Befindlichkeit der Mitmenschen aufzunehmen. Wir finden uns oft oder zu schnell mit der oberflächlichen Sicht oder Darstellung eines Lebens ab, manchmal auch glücklich darüber, dass wir uns nicht darauf einlassen müssen und uns davonstehlen können.
Wir kennen aber auch den Satz: «Den Bogen nicht überspannen».
Der Mensch am Anfang des dritten Jahrtausends steht in einem Spannungsfeld
widersprüchlicher Tendenzen und Anforderungen. Rasche und in ihrer
Auswirkung enorme Entwicklungen beherrschen den Alltag. Wir geniessen die
guten Seiten dieser Entwicklung. Auf der andern Seite macht uns dieses Tempo
auch Angst. Die Gefühle, dass der Mensch auf der Strecke bleibt, wachsen.
Damit der Bogen nicht überspannt und bricht, braucht es auf beiden
Seiten gute Verankerungen. Der Mensch bewegt sich zwischen diesen Verankerungen
dem Bogen entlang, die heute heissen: Flexibilität, Mobilität,
Geschwindigkeit einerseits, aber auch Erholung, Ruhe, Kontakt, Achtung und
Respekt anderseits. In diesem Spannungsfeld stehen wir in unseren Gemeinden.
Wir müssen ihnen die Verankerung geben, die heisst: Verwurzelung, Heimat,
Identität, Dazugehörigkeitsgefühl. Es wird eine besondere
Aufgabe in der Zukunft sein, in diesem Spannungsfeld die Menschen für
die gesellschaftspolitischen Fragen zu sensibilisieren, sie abzuholen und
zu einem Engagement zu führen. Aus staatspolitischer Sicht sind wir
hier gefordert.
Der Bogen verbindet. Wir wissen um die Unterschiedlichkeit in vielen Fragen
des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, kirchlichen und kulturellen
Lebens. Im Staat und in der Kirche kennen wir die Situation der Polarisierung.
Wir wissen um die Verschiedenheit in den Rahmenbedingungen, wie sich die
Menschen, Familien, Menschengruppen entwickeln und auch entwickeln wollen.
Und doch wissen wir auch, dass wir gemeinsam zu einer Gemeinde gehören
und dass es notwendig ist, unsere Kräfte gemeinsam einzusetzen, um
das Leben und die Lebensbedingungen vernünftig zu gestalten. Und gerade
hier liegt unsere Aufgabe, ein Stück Identität zu schaffen, zum
Beispiel in unserer Gemeinde, wo sich pro Jahr 1000 Personen anmelden, aber
auch 800 Personen die Gemeinde wieder verlassen. Wie kann in diesem Milieu
der Rotation, des Umbruchs Stabilität, gemeinsames Arbeiten an der
Zukunft einer Gemeinde, gemeinsames Erarbeiten von Zielen für das Gemeinwesen,
gemeinsam Verantwortung tragen, aufgebaut werden?
Das Wort der Kirchen nimmt auch den Bogen der beiden Werte «Eigenverantwortung und Solidarität» auf. Es sind Werte, die heute ganz im Zentrum der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskussionen stehen. Manchmal werden sie eher als Gegensätze, die sich ausschliessen, gewertet, und doch sind es Werte, die einander bedingen. Eigen- oder Selbstverantwortung (der Appell, dass der Mensch sein Leben, seine Absicherung, seine Zukunft wieder mehr in die eigene Hand nehmen und nicht alles vom Staate erwarten soll) gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Erfahrungen in der Gemeinde zeigen mir, dass der Mensch, wo immer er kann, wirklich sein Leben selber meistern möchte. Ich staune, wie viel Energie, Wille und Kraft in dieses Ziel gesteckt wird. Aber es gibt Situationen, wo er das nicht mehr kann. Wenn heute von höheren Ebenen der Appell an die Eigenverantwortung aber so weit geht, dass Eigenverantwortung «allein» bedeutet:
dann wird diese verengende Sicht sehr problematisch für den Menschen,
für Familien, aber auch für die Gemeinden. In dieser Verengung
wird dann der zweite Wert, die «Solidarität», kaum mehr
möglich. Und gerade die Gemeinden brauchen in ihrem Alltag diese Solidarität,
sei es im Quartier, in der Nachbarschaftshilfe, in der Umsetzung von Projekten
im Sozial- und Umweltbereich.
Und doch bin ich ehrlich genug zu sagen, dass eine Mentalitätsänderung
stattfindet. Ein gewisser Egoismus tritt stärker hervor, und wenn ich
die Worte von Philipp Löpfe vom Tages-Anzeiger wiederhole, die heissen:
«Die Vertrauenskrise ist letztlich eine Folge davon, dass die Gier
mehrheitsfähig geworden ist», dann ist die Zeit mehr als reif,
dass Kirche und Staat intensiver und schneller nachdenken, wie der Bogen
zu den Menschen gespannt werden kann, wie Brücken gebaut werden, damit
wieder Vertrauen aufgebaut wird. Und hier stehen wir, Kirche und Staat,
wieder in einer gleichen Aufgabe.
Die christlichsoziale Politikerin Hedy Jager ist Gemeindepräsidentin und präsidierte bis vor kurzem die Nationalkommission Justitia et Pax.