36/2002

INHALT

Kirchengeschichte

"Geschichte des Christentums" kurz vor Vollendung

von Nestor Werlen

 

Schon mehrere Male wurde in der SKZ auf die von französischen Historikern verfasste und von deutschsprachigen Historikern betreute deutsche Ausgabe der «Geschichte des Christentums»<1> hingewiesen. Nachdem 12 Bände erschienen sind und nur noch der erste Band, der die ersten beiden Jahrhunderte (bis 250) des Christentums darstellen wird, sowie der 13. (Krisen und Erneuerung 1958 bis heute) und l4. Band (Gesamtregister) ausstehen, ist kurz vor «Zieleinlauf» ein Rückblick auf die durchmessene Strecke am Platz.
Die Verfasser nahmen für sich in Anspruch, die neueste Forschung eingearbeitet zu haben. Gerade weil man ihnen bescheinigen kann, dass ihnen dieser ehrgeizige Plan bisher gut gelungen ist, ist man nicht überrascht, dass die Arbeit am ersten Band offenbar einige Mühe bereitet. Christoph Marschies und Winrich A. Löhr haben anderweitig darauf hingewiesen, dass das 2. Jahrhundert in den letzten Jahrzehnten «die prekäre Rolle einer Schlüsselepoche» erhalten habe. Es seien in dieser Zeit «wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass das Christentum zu einer tradierbaren, mit einer institutionellen Struktur, einem Schriftkanon und einer Reflexion ihrer Glaubensinhalte versehenen Religion wurde»<2>. Gerade in diesen drei Punkten, der Entwicklung einer Ämterhierarchie, der Entstehung des biblischen Kanons und der Herauskristallisierung eines Kernes verbindlicher Glaubenswahrheiten in Gestalt der Glaubensbekenntnisse/der Glaubensregel, aber seien in den letzten Jahrzehnten wichtige Forschungsergebnisse veröffentlicht worden, die jedoch noch weit davon entfernt seien, auf alle Fragen definitive Antworten gegeben zu haben. Doch hindern sie eine unbesehene Fortschreibung der bisherigen Darstellungen. Man darf darum mit einiger Spannung vor allem auf den ersten Band der «Geschichte des Christentums» warten, dessen deutsche Bearbeitung vermutlich unter der Leitung von Norbert Brox, einem der Verantwortlichen der deutschen Ausgabe, steht.
Bei der Durchsicht der bisher erschienenen 12 Bände lassen sich einige Beobachtungen machen. Schon rein äusserlich gesehen, handelt es sich um ein Monumentalwerk. Es gibt in neuester Zeit wohl kein Werk, das ähnlich umfassend die «Geschichte des Christentums» darstellt. Umfassend bedeutet dabei zum Beispiel auch die Geschichte des Christentums in Byzanz und der vorchalkedonischen Kirchen, auch nach der arabischen Eroberung. Was das Werk weiter auszeichnet: Es erschien in relativ zügiger Folge. Der Abschluss war zwar nicht wie angekündigt 1997, aber auch der Abschluss im Jahre 2003 lässt sich sehen. Vergleicht man das mit der Geschwindigkeit des Erscheinens einiger ­ vor allem französischsprachiger ­ «Dictionnaires», die bei der eschatologischen Vollendung noch nicht vollendet sein werden, so muss man den Herausgebern der französischen Urfassung und den Bearbeitern der deutschen Bearbeitung Respekt aussprechen. Dass sich dabei einige Bearbeiter über den «milden» Druck des deutschen Verlages beklagten, darf nicht erstaunen.
Bernd Moeller hat zu dieser «Monumentalität» einige interessante Zahlen geliefert:<3> Bei Beginn des Erscheinens wurde der Umfang des einzelnen Bandes auf ungefähr 1000 Seiten festgelegt. Diese Idealvorgabe wurde nur teilweise erfüllt; den Rekord stellte bisher Band 3 (Der lateinische Westen und der byzantinische Osten 431­642) auf, der es auf 1334 Seiten bringt. Nach dem Erscheinen von 12 Bänden umfasst das Gesamtwerk schon insgesamt über 12000 Seiten, «im Grossformat und eng bedruckt» (Bernd Moeller).Was noch mehr Bewunderung abverlangt, ist die Zusammenarbeit einer grossen Zahl von Mitarbeitern an einem einzigen Band. Beim «Rekordband» III, der von Luce Pietri herausgegeben wurde, die 1991 nach dem Tod ihres Mannes Charles Pietri in den Kreis der Hauptherausgeber eintrat, werden 17 französische Autoren, 19 deutsche Bearbeiter (darunter Michael Durst, Chur), sechs Übersetzer (darunter Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich), eine für die Verlagsredaktion, eine für die Bildredaktion und eine für das Register verantwortliche Person als Mitarbeiter angeführt. «Die Vorstellung, wie es gelungen sein mag, diese Heerscharen zur Verfertigung eines so kohärenten Werkes zusammenzuführen, strapaziert die Phantasie» (Bernd Moeller).

Deutsche Bearbeitung

Die deutsche Bearbeitung der französischen Urausgabe scheint verschiedene Intensität angenommen zu haben. Christoph Markschies bestätigt in Band 2, einige Kapitel «völlig neu» umgearbeitet und so das Manuskript «ergänzt» zu haben. Diese Bearbeitung war mehr als nur eine Überarbeitung, wohl eher eine Neufassung. Christoph Markschies hat einige seiner Artikel aufgenommen, was er kaum gemacht hätte, wenn der Beitrag mehrheitlich von Charles Pietri stammen würde. Zu den Beiträgen von Bernard Plongeron in Band 10 (Aufklärung, Revolution, Restauration 1750­1830) ­ fast 600 Seiten des 884 Seiten umfassenden Bandes stammen aus seiner Feder ­ hat der deutsche Bearbeiter Bernard Schneider (Dortmund) eine kritische Einführung geschrieben. «Bernard Plongeron hat in einer mehr als drei Jahrzehnte umfassenden Forschungstätigkeit die französische Aufklärungsforschung massgeblich beeinflusst, wenn sich sein ... Konzept auch nicht generell durchgesetzt hat. Im deutschen Sprachraum haben seine Forschungsergebnisse, obwohl immer wieder erwähnt, eine eher schwache Resonanz gefunden. Selbst wo das direkte Gespräch Plongerons mit deutschen Forschern stattfand (Schneider verweist auf eine Diskussion beim internationalen Symposion der Wiener Katholischen Akademie), taten beide Seiten sich schwer, einander zu verstehen. Dies hängt gewiss mit der starken Konzentration auf die nationalen Ausprägungen von ÐAufklärungð zusammen, was im Blick auf Plongeron bedeutet: Konzentration auf Frankreich und Italien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu den Verständigungsproblemen tragen aber auch Plongerons eigenwilliger Sprachgebrauch und ein beinahe hermetischer Stil nicht wenig bei.» Der Bearbeiter habe darum versucht, den «genuinen Charakter» der «Synthese der sehr eigenständigen Überlegungen Plongerons» zu bewahren. Das schliesse aber «sprachliche Veränderungen wie inhaltliche Ergänzungen nicht aus», durch welche versucht wurde, «die Verständlichkeit für den deutschsprachigen Leser zu verbessern und Plongerons Perspektiven wenigstens teilweise auf den deutschsprachigen Raum auszuweiten». Zudem dienen «Zwischenüberschriften der Strukturierung der weitausgreifenden Gedankengänge Plongerons». So offen wurden Schwierigkeiten im europäischen Austausch von Forschungsergebnissen wohl nicht oft formuliert. Man hat aber den Eindruck, dass die Bearbeitung in der Mehrzahl der Beiträge sich im Wesentlichen auf die Ergänzung der deutschsprachigen Literatur und einige ­ oft eigens gekennzeichnete ­ Textergänzungen beschränkte.
Bernd Moeller hebt positiv hervor, dass dem Werk «ohne weiteres eine Ðökumenische Gesinnungð» bescheinigt werden könne und dem «nichtkatholischen Christentum sowie Autoren, die es repräsentieren, viel Raum gegeben wurde». Das zeige sich etwa im Bemühen, «der gleichsam natürlichen Annahme der Präponderanz des Katholischen auszuweichen oder die Schilderung der Kirchengeschichte als Erfolgsstory zu vermeiden». Moeller konstatiert aber dennoch in einzelnen Fällen «eine Neigung, katholische Verhältnisse von der positiven, nichtkatholische von der negativen Seite her anzugehen», und in einigen Bänden lasse sich die Tendenz erahnen, «das Katholische, das Christliche und das Französische ineinanderfliessen» zu lassen. In der «ökumenischen» Ausrichtung sehe ich persönlich neben der europäischen Zusammenarbeit den wichtigsten Fortschritt dieser «Geschichte des Christentums». Es mag deswegen jetzt pedantisch klingen und soll keineswegs ein Aufrechnen gegenseitiger Versäumnisse sein, wenn ich darauf hinweise, dass in einzelnen Veröffentlichungen deutscher evangelischer Verlage die Gefahr nicht vermieden ist, «das Evangelische, das Christliche und das Deutsche» ineinanderfliessen zu lassen. Echte Ökumene ist erst dann an ein Ziel gekommen, wenn solche «Restanzen» konfessioneller Geschichtsschreibung überwunden sind.
Die «Geschichte des Christentums» ist ­ so lässt sich jetzt schon sagen ­ eine imponierende Leistung. Das bezieht sich auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit über Sprachgrenzen und konfessionelle Grenzen hinweg und auf den Versuch von Kirchen- und Profanhistorikern, die Geschichte einer Bewegung darzustellen, die einst mit Jesus von Nazareth begann und sich seither ­ gegen die ausdrückliche Bitte ihres Gründers ­ in verschiedene Konfessionen zersplittert hat. Aber ein wenig macht sie auch die Vorläufigkeit historischen Forschens offenbar, wenn man erlebt, dass Zusammenfassungen von solchen Meistern wie Charles Pietri, die lange als unübertreffbare Kenner einer Epoche galten, in so kurzer Zeit «umgeschrieben» werden müssen, weil sie nicht mehr dem Stand der Forschung entsprechen.


Anmerkungen

1 Die Geschichte des Christentums. Religion ­ Politik ­ Kultur. Herausgegeben von Jean-Marie Mayeur, Charles (Ý) und Luce Pietri, André Vauchez, Marc Venard. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Norbert Brox, Odilo Engels, Georg Kretschmar, Kurt Meier, Heribert Smolinsky. Bisher erschienen Bände 2­12, Freiburg i.Br. (Herder) 1991ff.

2 Theologische Literaturzeitung 127 (2002) 247­262.

3 Theologische Literaturzeitung 127 (2002) 459­466.


Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder

 

Seit beinahe einem Vierteljahrhundert erarbeitete der Kirchenhistoriker Erwin Gatz mit über 100 Fachleuten ein biographisches Lexikon, das in fünf Bänden Lebensbilder aller Diözesanbischöfe im Heiligen Römischen bzw. seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Luxemburg und Südtirol darstellt; seit 1448 sind zudem alle Weihbischöfe und seit 1648 überdies alle Generalvikare einbezogen. Der letzte Band,<1> der von Kriegsende 1945 bis in die jüngste Gegenwart reicht, veranschaulicht in den Lebensbildern der verstorbenen und emeritierten Bischöfe sowie den Biogrammen aller anderen Persönlichkeiten die Führungsschicht der römisch-katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum Europas und ist damit nicht nur ein Nachschlagewerk, sondern auch ein Beitrag zur kirchlichen Zeitgeschichte.

Rolf Weibel


Anmerkung

1 Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945­2001, Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2002, 592 Seiten.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2002