3/2001 | |
INHALT |
Kirche in der Welt |
Dass der heilige Apostel Thomas im 1. Jahrhundert nach Indien kam und
in Indien das Evangelium verkündete, ist eine überzeugende Tradition.
Man glaubt, dass der Apostel im Jahr 52 n. Chr. Indien erreicht und im Jahr
72 in Mylapore, in der Nähe von Madras (Chennai), das Martyrium erlitten
hat. Das Jahresgedächtnis seines Martyriums wird am 3. Juli als das
Fest des hl. Thomas begangen und seine Grabstätte wird seit dem 1.
Jahrhundert verehrt. Folklore und Legenden erzählen von der vom Apostel
Thomas gegründeten Kirche. Selbst Profanhistoriker nehmen dies als
ein historisches Faktum an. Die frühen Christen Indiens und ihre Nachfahren
sind stolz auf ihre Selbstbezeichnung als «Thomas-Christen»
(Marthoma-Christen, Marthoma Nazranis).
Im Altertum gab es vier Thomas-Kirchen, nämlich die Kirchen von Edessa,
Chaldäa, Persien und Indien. Die Kirche von Edessa beanspruchte, vom
Apostel Thomas über seinen Schüler Addai gegründet worden
zu sein. Die Chaldäische Kirche betrachtete Mari, den Schüler
von Addai, als ihren Gründer. Die Kirche von Persien (Iran) beanspruchte,
vom Apostel Thomas gegründet worden zu sein. Die Thomas-Christen von
Indien hatten immer behauptet, dass ihre Kirche vom Apostel Thomas gegründet
worden war; sie allein besassen das Grab des hl. Thomas. Die Kirche von
Edessa erwarb die Reliquien des Apostels von Indien. Wie auch immer, die
Ansprüche dieser vier Kirchen auf ihren apostolischen Ursprung haben
keine allgemeine Anerkennung gefunden. Die Kirchen, die für sich den
Apostel Thomas als Gründer in Anspruch nehmen, scheinen indes sehr
enge Beziehungen untereinander gehabt zu haben. Die Tradition der Thomas-Christen
in Indien neigt dazu, aufzuzeigen, dass alle ihre Prälaten von Persien
oder Babylon kamen.
Die portugiesischen Missionare, die im 15. Jahrhundert nach Indien kamen,
benutzten den Ausdruck «Christen der Serra» oder «Malabar-Christen»,
um die Thomas-Christen zu bezeichnen. «Serra» bedeutet Berg
(in der Lokalsprache Malayalam; die Äquivalente werden «Malabar»
und «Malankar» sein). Es gibt klare historische Hinweise, dass
bereits im 1. Jahrhundert jüdische Siedler in Südindien waren
und dass Handelsbeziehungen zwischen Indien und Persien, Syrien usw. bestanden.
Die Kodifizierung der kultischen Feiern in einen liturgischen Ritus begann
erst gegen das Ende des 5. Jahrhunderts. Die Synode von Seleukia im Jahre
410 schrieb vor, dass alle unter ihr stehenden Gemeinschaften der liturgischen
Praxis der Kirche von Seleukia, der Chaldäischen Kirche, zu folgen
hatten. Bis ins 5. Jahrhundert sind über das liturgische Leben der
Thomas-Christen keine historischen Einzelheiten erhältlich.
Eine Gruppe von 72 Familien und ein Bischof wanderten unter der Führung
eines Händlers, Thomas von Kana in Syrien, im 5. Jahrhundert nach Indien
aus (einige Historiker sind allerdings der Meinung, dass sie ein oder zwei
Jahrhunderte später kamen). Durch sie und ihre Bischöfe, die dem
ostsyrischen (chaldäischen) Ritus folgten, kamen die Thomas-Christen
in Kontakt mit der Chaldäischen Kirche. Die eingewanderten Christen
liessen sich südlich von Crangannore nieder und wurden fortan als «Südliche»
bezeichnet, während die vom Apostel Thomas bekehrten Inder, die ihre
Siedlungen nördlich des Stadtgebietes von Crangannore hatten, «Nördliche»
genannt wurden.
Die kirchliche Organisation der Thomas-Christen entwickelte sich in ihrem
besonderen sozio-politisch-kulturellen Milieu. Dieses hatte drei Ebenen:
1. Auf lokaler Ebene der palliyogam (der Kirchenrat), 2. Auf der Ebene der
Gemeinde der Archidiakonat, 3. Auf der hierarchischen Ebene der Metropolit
und Patriarch. Der palliyogam, der eine einzigartige kirchliche Institution
der Thomas-Christen in Indien mit einer adäquaten Repräsentation
von Klerus und Volk auf den verschiedenen Ebenen ihres kirchlichen Lebens
ist, ermöglichte ihnen, ihren Glauben in einer harmonischen Einheit
mit einem tiefen Sinn für geteilte Verantwortung zu halten.
Eine solche Institution geriet, obwohl ihre Wurzeln in das verehrungswürdige
Altertum zurückreichen und sie ihr kirchliches Leben seit 16 Jahrhunderten
wirklich zum Ausdruck brachte, in ständigen Konflikt mit der lateinischen
Jurisdiktionsstruktur, die ihnen von 1599 bis 1896 auferlegt wurde. Über
die Natur und das Funktionieren des palliyogam schrieb Pater Boniface OCD
1750: «In jeder Pfarrei gibt es eine Versammlung, die sich mit kirchlichen
Angelegenheiten befasst. Sie besteht aus Klerus und Volk vor Ort. Sie diskutieren
und entscheiden über Angelegenheiten wie Geld, Bauvorhaben, Unterhalt
der Kirche, Empfehlung von Kandidaten für die Heiligen Weihen, Absolution
von kirchlichen Zensuren usw.» Angelegenheiten von grösserer
Bedeutung wurden im Regional- und General-«Yogam», welche aus
Vertretern aller betreffenden Pfarreien gebildet wurden, diskutiert. In
der Organisation der örtlichen Gemeinschaften, im Kirchenbau, in der
Verwaltung der Sakramente usw. folgten die Thomas-Christen den Leitlinien
des «chaldäischen Systems». Die Kirchen wurden geplant
und gebaut, um den liturgischen Feiern gemäss dem ostsyrischen Ritus
genügen zu können. Gleichzeitig waren ihre Architektur und Dekorationen
von Hindu-Tempeln inspiriert.
Die syrischen Bischöfe hatten sich nie in die innere Verwaltung der
indischen Kirche eingemischt und ihre Autonomie wurde von ihnen respektiert.
Das ganze Verwaltungssystem war vom «Thomas-Gesetz» geleitet,
das aus den Gewohnheiten, Privilegien und den liturgischen und disziplinären
Normen der indischen Thomas-Christen bestand und das von der Zeit des Apostels
Thomas her durch Tradition übermittelt worden war.
Bis zur Synode von Udayamperur (Diamper) von 1599 herrschte in der Kirche
der Thomas-Christen eine eher friedvolle Atmosphäre. Die von Erzbischof
Menezes von Goa einberufene Synode von Diamper war ein Wendepunkt in der
Geschichte der Thomas-Christen in Indien. Einige halten dafür, dass
die Synode den Weg geebnet hatte für Fortschritt und um häretische
Gruppen für die Katholische Kirche gewinnen zu können, während
andere dafür halten, dass die Synode ungültig war und zu verstärkter
Latinisierung und Uneinigkeit unter den Thomas-Christen geführt hat.
Eine unmittelbare Folge der Synode war, dass die Thomas-Christen der lateinischen
Hierarchie unterstellt wurden durch die am 5. November 1599 erfolgte Ernennung
von Francis Roz SJ als Nachfolger von Mar Abraham, Metropolit von Angamaly
und Oberhaupt der Thomas-Christen, sowie die am 20. Dezember 1599 vorgenommene
Zurückstufung des Metropolitansitzes von Angamaly zu einem Suffraganbistum
des lateinischen Erzbistums Goa. Nach beharrlichen Bitten der Thomas-Christen
wurde am 22. Dezember 1608 dem Bistum Angamaly von Papst Paul V. der Metropolitanstatus
zurückgegeben. Am 20. Dezember 1610 jedoch wurden die Thomas-Christen
den Metropolitansitzen von Cochin und Crangannore unterstellt. Die Thomas-Christen
waren ob diesem Entscheid sehr unglücklich und beharrten auf ihrer
Forderung, ihre eigenen Bischöfe und Unabhängigkeit von der Herrschaft
der Jesuiten zu haben. 1653 erfuhren sie, dass ein gewisser Aithalaha (Ahatholla),
der der vom Papst ernannte Patriarch von China und Indien zu sein beanspruchte,
nach Indien komme, und sie waren begierig, ihn zu treffen. Bischof Francis
Roz erlaubte ihnen nicht, Aithalaha zu treffen oder sein Beglaubigungsschreiben
zu prüfen, und er brachte es fertig, ihn nach Goa zu führen ohne
ihm zu erlauben, in Cochin an Land zu gehen. Ein grundloses Gerücht
verbreitete, dass Aithalaha im Meer von Cochin ertränkt worden sei.
Die Thomas-Christen, zu dieser Zeit 25000 an der Zahl, fühlten sich
betrogen und beleidigt. Der Archidiakon und die Führer der Gemeinschaft
schwörten, indem sie ein am Kreuz bei Mattanchery in der Nähe
von Cochin befestigtes Seil hielten, die portugiesischen und jesuitischen
Bischöfe nie zu akzeptieren. Dies ist als der «Schwur vom schiefen
Kreuz» bekannt und begab sich 1653. Eine Versammlung von zwölf
Priestern legte dem Archidiakon sogleich die Hände auf und akzeptierte
ihn als Metropoliten Mar Thomas I. Die Mehrheit schloss sich dem neuen Metropoliten
an und verliess den lateinischen Erzbischof. Dies markierte das Ende der
Einheit unter den Thomas-Christen.
Der Grund für die Einmischung der portugiesischen Missionare war nicht
bloss Macht über die Thomas-Christen. Sie fanden, dass die Gläubigen
einer Anzahl von abergläubischen und ungesunden Praktiken unterworfen
seien. Dass sie von ihren Bischöfen aus Persien stark von der nestorianischen
Häresie beeinflusst seien. Dass es keine korrekten Feiern der Eucharistie
und anderer Sakramente gebe, dass der Klerus verheiratet war und es ihm
an korrekter Ausbildung fehle usw. So waren sie wahrscheinlich vom Interesse
geleitet, den Glauben und die Bräuche der Thomas-Christen zu läutern.
Von den Kirchen der Thomas-Christen stehen zwei in Gemeinschaft mit der Katholischen Kirche, die syro-malabarische und die syro-malankarische Kirche. Unter den übrigen Thomas-Christen gibt es zahlreiche Trennungen und Zugehörigkeiten zu verschiedenen kirchlichen Traditionen. Ernsthafte ökumenische Dialoge zwischen diesen Kirchen und der Katholischen Kirche sind unternommen worden. Im Folgenden werden wir zuerst die Entwicklungen in den nicht-katholischen Kirchen und sodann in der Katholischen Kirche betrachten.
Nach der Synode von Diamper von 1599 war die Situation in der Kirche
sehr unbeständig und es gab eine weit verbreitete Unruhe unter den
Gläubigen. Die Ereignisse erreichten 1653 beim «schiefen Kreuz»
von Mattanchery bei Cochin einen Höhepunkt. Eine Gruppe von Gläubigen
und Priestern tat sich zusammen und «machte» den Archidiakon
zum Bischof, indem ihm zwölf Priester unter Gebet die Hände auflegten.
Er nahm den Namen Mar Thoma I. an und beanspruchte, der Führer aller
Thomas-Christen zu sein. Unverzüglich wurde Mar Thoma I. 1655 von Mar
Sebastiani exkommuniziert. Umgekehrt schloss er sich der Jakobitischen Kirche
an, indem er an ihren Patriarchen appellierte und die westsyrische Liturgie
von Antiochien annahm. Obwohl ihn viele verliessen und sich der Katholischen
Kirche anschlossen, hatte er eine ziemlich grosse Gruppe bei sich und die
Kirche pflanzte sich durch aufeinander folgende Bischöfe bis auf Mar
Thoma VI. fort. Während der Zeit von Mar Thoma VI. gab es in der Kirche
eine Trennung, weil der Patriarch einen zweiten Bischof ernannte, welcher
der Rivale von Mar Thoma VI. war. So entstand die unabhängige Kirche
von Thozhiyoor unter Mar Dionysius I.
Während der Zeit von Mar Thoma IX. kam es unter Führung von Mar
Dionysius II., der vom Bischof der Kirche von Thozhiyoor geweiht wurde,
zu einer weiteren Spaltung. Zu dieser Zeit übten die Anglikaner einen
erheblichen Einfluss auf die jakobitischen Thomas-Christen aus. Um sich
ihrem Einfluss zu entziehen, anerkannte ein Teil der Gläubigen formell
die Jurisdiktion des jakobitischen Patriarchen der Türkei. 1875 kam
der jakobitische Patriarch nach Indien und vertrieb die von den Anglikanern
beeinflusste Gruppe. Diese wiederum schlossen sich als Reformierte Jakobiter
in der so genannten Marthoma Syrischen Kirche zusammen.
Zu dieser Zeit gab es in der Türkei religiös-politische Probleme.
Patriarch Abdallah, der an die Macht kam, indem er mit Hilfe einer Intervention
des Sultans Patriarch Abdulmassih absetzte, besuchte 1909 Indien. Er exkommunizierte
Bischof Dionysius und weihte zwei neue Bischöfe, den einen für
die «Südlichen» und den anderen für die «Nördlichen».
Der exkommunizierte Bischof blieb nicht untätig und lud den abgesetzten
Patriarchen Abdulmassih nach Indien ein. Er weihte nicht nur Bischöfe,
sondern erhob Mar Dionysius zum Katholikos mit der Vollmacht, Bischöfe
zu weihen. Das führte zu einer weiteren Spaltung in der Jakobitischen
Kirche, weil die einen (die Gruppe des Patriarchen oder Bavas) Patriarch
Abdullah und die anderen (die Gruppe des Bischofs oder Methrans) Patriarch
Abdulmassih und dem neuen Katholikos Treue gelobten. 1975 richtete die Gruppe
des Patriarchen ebenfalls das Amt des Katholikos für Malabar ein. Es
gibt eine Anzahl Gerichtsfälle, in die beide Gruppen verwickelt sind,
und bis jetzt haben alle Versuche zu Versöhnung keine Frucht getragen.
Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs unter den loyal zum Papst stehenden Thomas-Christen
die Unzufriedenheit wegen der Latinisierung ihrer Liturgie und vor allem
wegen der Einmischung der «Propaganda Fide» und der «Patronats»missionare
in die Verwaltung ihrer Kirche. Ein Teil der Gläubigen erreichte den
Punkt, an dem sie ihre Beziehung zu Rom abbrachen, und 1874 ersuchten sie
den chaldäischen Patriarchen Audo, ihnen Bischöfe zu schicken.
Er war erfreut, die Kontrolle über die Thomas-Christen wiederzugewinnen,
und er schickte Mar Mellus, der die Sache der Thomas-Christen verteidigte,
indem er ein falsches Dokument herstellte, das vorgab, von Papst Pius IX.
gekommen zu sein und Patriarch Audo die Jurisdiktion über die Thomas-Christen
zu übertragen. Rom rührte sich schnell und suspendierte Audo,
weil er Mar Mellius mit einem falschen Dokument nach Indien geschickt hatte,
und rief Mar Mellus zurück. Dieser aber beachtete es nicht und setzte
sein Werk in Malabar fort. Der Vatikan schickte Msgr. Perisco als Visitator
nach Indien, der sehr erfolgreich war, indem er eine grosse Zahl von Anhängern
von Mellius in die Katholische Kirche zurückbrachte. Jene, die loyal
zu ihm hielten, waren nach der Abreise von Mar Mellius ohne Führung
und unterwarfen sich dem nestorianischen Patriarchen Simon XIX. Benjamin.
Dieser antwortete zustimmend, indem er einen mesopotamischen Prälaten
schickte, Abimalech, der den Nestorianismus einführte und die Kirche
bis zu seinem Tod 1945 führte. Die Kirche gibt es weiter, auch wenn
sie wie im Fall der Jakobitischen Kirche in zwei Linien, die Gruppe des
Patriarchen und die Gruppe des Bischofs, aufgeteilt ist. Diese Kirche ist
unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt, Kirche des Ostens, Surais, Nestorianer,
Mellusianer.
Die syro-malankarische Kirche war Teil jener Thomas-Christen, die sich 1663 mit dem «Gelübde des schrägen Kreuzes» aus Protest gegen die Einmischung der «Patronats»missionare, besonders der Jesuiten, von der Katholischen Kirche loslösten. Mar Thoma I. und seine Nachfolger haben die antiochenische (westsyrische) Liturgie übernommen und sich später dem jakobitischen Patriarchen unterworfen. Die meisten von ihnen waren über diese Situation nicht glücklich und viele Versuche zu einer Wiedervereinigung und Versöhnung mit der Katholischen Kirche wurden unternommen. Nach langen Verhandlungen wurde am 20. September 1930 Mar Ivanios mit einigen Anhängern wieder in die Katholische Kirche aufgenommen mit der Erlaubnis, weiterhin die antiochenische westsyrische Liturgie zu verwenden. 1932 wurde eine eigene Hierarchie unter dem Namen «Syro-malankarische katholische Kirche» errichtet. Heute ist sie eine Metropolitankirche mit drei Suffraganbistümern und zählt um die 300000 Gläubige.
Nach dem Aufstand der Thomas-Christen unter der Führung des Archidiakons,
der sich selber zum Bischof Mar Thoma I. ausrief, entsandte Rom Kommissare
zur Versöhnung. Nach dem Tod von Erzbischof Garcia wurde der Apostolische
Administrator Sebastiani entsandt, um die abweichende Gruppe zu gewinnen.
Er hatte beachtlichen Erfolg, besonders weil er einen Brief des Papstes
vorweisen konnte, der erklärte, dass Aitholaha von ihm nie ernannt
worden war. Jene, die in die Einheit mit der Katholischen Kirche zurückkamen,
heissen syro-malabarische Christen. Zunächst wurden sie lateinischen
Apostolischen Vikaren und dem Propaganda-Fide-Recht unterstellt. 1917 wechselte
die syro-malabarische Kirche in den Jurisdiktionsbereich der Orientalenkongregation.
1923 wurde die syro-malabarische Hierarchie mit einem Metropolitansitz und
drei Suffraganbistümern konstituiert. 1956 wurde die syro-malabarische
Kirchenprovinz jedoch in zwei Erzbistümer mit ihren entsprechenden
Suffraganbistümern aufgeteilt. Daher gab es keine einheitliche Führung
mehr. Nach beharrlichen Bitten um eine einheitliche Führung und Regierung
gemäss östlichen Traditionen wurde die syro-malabarische Kirche
1993 zu einem Grosserzbistum erhoben, was am 29. Januar 1993 offiziell erklärt
wurde. Das Grosserzbistum wurde nicht über die Grenzen der vormaligen
Provinzen Changanacherry und Ernakulam hinaus erweitert. Die acht syro-malabarischen
Missionsbistümer ausserhalb von Kerala und das Bistum Kalyan (Maharashtra)
sind Suffraganbistümer von lateinischen Kirchenprovinzen. Liturgische
Angelegenheiten und Bischofsernennungen wurden dem Papst vorbehalten. Kardinal
Antony Padiyara, der erste Grosserzbischof, resignierte aus Gesundheitsgründen
am 18. Dezember 1996 und Erzbischof Varkey Vithayathil wurde zum Apostolischen
Administrator ernannt. Später, am 11. November 1999 wurde er zum Grosserzbischof
und Haupt der syro-malabarischen Kirche ernannt.
Gemäss dem Ostkirchenrecht liegt die administrative Autorität
beim Grosserzbischof, während die legislative und juridische Autorität
bei der grosserzbischöflichen Synode liegt. Die syro-malabarische Kirche
hat ihr Hauptquartier in Kakkanad, in der Nähe von Ernakulam. Der Grosserzbischof
wird so auch Erzbischof von Ernakulam-Angamaly, und es wird erwartet, dass
er auch in Ernakulam residiert. Heute umfasst die syro-malabarische Kirche
vier Erzbistümer und 20 Bistümer in Indien. Überdies gibt
es die vier Erzbistümer und acht Bistümer in Kerala, dem südlichsten
Staat Indiens, vier Bistümer in Madhya Pradesh, zwei in Maharashtra,
je eines in Gujarat, Tamil Nadu, Karnataka und Andhra Pradesh. Die Gesamtzahl
der Gläubigen in diesen Bistümern dürfte gut 3,4 Millionen
erreichen; sie haben 2330 Weltpriester, 1666 Ordenspriester und 25400 Ordensfrauen.
Jedes Jahr entscheiden sich durchschnittlich 1800 Gläubige der syro-malabarischen
Kirche für das Priester- oder Ordensleben. Von diesen schliessen sich
etwa 700 der Missionsarbeit der lateinischen Bistümer oder lateinischen
Ordensgemeinschaften an. Zurzeit wurden denn auch 18 Bischöfe der lateinischen
Bistümer in der syro-malabarischen Kirche getauft. Hunderte von Priestern
und Tausende von Ordensleuten, die der syro-malabarischen Kirche angehören,
arbeiten in Bistümern des lateinischen Ritus in Nordindien. Der syro-malabarischen
Kirche wäre schon erlaubt, in ganz Indien mit ihren Traditionen und
ihrer Liturgie missionarisch zu wirken. Befremdliche Tatsache ist indes,
dass beide Riten, der syro-malabarische wie der lateinische, den Katechumenen
Nordindiens gleicherweise fremd sind. Interessant ist auch, dass Hunderte
von syro-malabarischen Priestern in Pfarreien der lateinischen Kirche in
Deutschland und den Vereinigten Staaten wirken. Es gibt nämlich eine
grosse Zahl von syro-malabarischen Gläubigen, die in Nordamerika, Europa
und den Golfstaaten leben. Es gibt Bestrebungen, Pfarreien und selbst Bistümer
errichten zu können, wo immer eine grosse Anzahl von syro-malabarischen
Migranten lebt.
Kürzlich wurde die syro-malabarische Kirche von drei grösseren
Auseinandersetzungen heimgesucht, die ihre Einheit und missionarische Kraft
geschwächt haben.
2.1. Die chaldäische Verbindung der Kirche der Thomas-Christen
Es gab eine starke Beziehung zwischen den Thomas-Christen und der Chaldäischen
Kirche von Persien (Ostsyrien), die früher der Antiochenischen Kirche
(West-Syriens) innerhalb des Römischen Reiches angeschlossen war. 410
löste die Persische Kirche ihre Beziehung zur Antiochenischen Kirche
und erklärte unter der Führung des Bischofs von Seleucia Ctesiphon
ihre Unabhängigkeit. (Die Kirche von Persien hatte vom 3. Jahrhundert
an unter Verfolgungen zu leiden, und es gab politischen Druck, die Bande
mit Antiochien zu lösen. Vom 6. Jahrhundert an stand sie unter muslimischer
Herrschaft.) Auf der Synode von Seleucia Cteciphon von 486 wurde von dieser
Kirche eine diphysitische christologische Formulierung, die die zwei Naturen
Christi überbetonte, angenommen (Nestorianismus). Erst 1551 vereinigte
sich der kurz zuvor gewählte Katholikos Johnsuid Sulaqa wieder mit
Rom. So waren die Bischöfe, die vom 6. bis 16. Jahrhundert von der
Chaldäischen Kirche entsandt wurden, von der nestorianischen Häresie
beeinflusst. Die theologischen Auseinandersetzungen zwischen Persien und
Antiochien fanden in Indien aber keinen Nachhall.
Die Frage ist nun, wie die Kirche der Thomas-Christen eine Tochterkirche
der Chaldäischen Kirche sein kann, die späteren Ursprungs ist.
Wegen Umständen von Personen und Ereignissen schickte die Chaldäische
Kirche der Kirche der Thomas-Christen Bischöfe und die Thomas-Christen
übernahmen die Liturgie der Chaldäischen Kirche. Unter Ostkirchen
verstehen wir Kirchen, die ihren Ursprung im Oströmischen Reich hatten,
und solche, die von ihnen abhängig waren. Indien war ausserhalb des
Römischen Reiches und die Abhängigkeit der Kirche der Thomas-Christen
von der Chaldäischen Kirche war ein zufälliges historisches Ereignis
und hat nichts mit der Kirchengründung zu tun.
Später, als die Kirche der Thomas-Christen unter die Herrschaft des
portugiesischen Patronats und der Propaganda-Fide kam, wurde sie von der
lateinischen Liturgie und den lateinischen Bräuchen erheblich beeinflusst.
Das wurde übel genommen und so gab es Revolte und Spaltung in der Kirche.
Die gegenwärtige Liturgie und die heutigen Gewohnheiten der Thomas-Christen
umfassen Elemente beider Riten, des syrischen (chaldäischen) wie des
römischen. Was ist so denn die Identität der Kirche der Thomas-Christen?
Wie kann sie ihre verlorene Identität und Freiheit wiedergewinnen?
Soll diese Kirche überhaupt weiterhin «syro-malabarische Kirche»
genannt werden? Oder soll sie zur ursprünglichen Bezeichnung «Kirche
der Thomas-Christen» zurückkehren?
2.2. Liturgische Erneuerung: Reform oder Restauration?
Im Zusammenhang des Aufrufs des Zweiten Vatikanischen Konzils zu liturgischer Erneuerung und Aggiornamento hat auch die Kirche der Thomas-Christen begonnen, die Liturgie und die kirchlichen Traditionen zu reformieren und zu erneuern. Die liturgischen Texte waren jene der Chaldäischen Kirche bis 1599, und später enthielten sie Elemente des lateinischen Ritus, die ihnen von der lateinischen Hierarchie aufgezwungen worden waren. Unglücklicherweise wurde weiter keine ernsthafte Reflexion unternommen über die indischen Elemente im Kontext der Inkulturation, wie sie das Vatikanische Konzil befürwortet hatte. So ist die Frage, ob die Kirche der Thomas-Christen im Kontext der liturgischen Erneuerung und Anpassung an die Gegenwart weiterhin an der chaldäischen Liturgie festhalten soll. Die Meinung ist in der Kirche geteilt. Die Meinungsunterschiede, die quer durch die Mehrheit der Gläubigen, Priester, Ordensleute und selbst Bischöfe gehen, konzentrieren sich auf den Gebrauch des Schleiers in der Kirche, Ausrichtung der Zelebranten auf die Gläubigen oder den Altar (Ostwand der Kirche), den Gebrauch der wiederholten Gebete usw. Vor kurzem ist es der Synode gelungen, einige versöhnende Positionen in diese Dispute einzubringen. Dennoch ist die Einheit noch immer nicht Realität.
2.3. Die Verehrung des «Mar-Thoma-Kreuzes»
Ein speziell geschmücktes, aus einem Stein gehauenes Kreuz wurde in Mylapore, in der Nähe von Madras gefunden und zur Verehrung aufgestellt. Dieses besonders verzierte Kreuz mit einer Taube auf der Spitze wurde während vielen Jahrhunderten in keiner Kirche Indiens verehrt. Gelehrte sind der Meinung, dass es ein «manichäisches Kreuz» sein könnte, das aus der Kirche geworfen wurde. Die von gewissen Bischöfen erzwungene Wiedereinführung dieses Kreuzes unter dem Namen «Mar-Thoma-Kreuz» führte zu einer noch nie dagewesenen Revolte und Spaltung unter den Thomas-Christen. Obwohl die Synode den Entscheid getroffen hat, dass in der Kirche sowohl das «Mar-Thoma-Kreuz» als auch das Kruzifix verehrt werden dürfen, ist die Kontroverse noch lange nicht ausgestanden.
Die Geschichte der Thomas-Christen in Indien ist turbulent und ereignisreich. Trotz verschiedenen Einmischungen und Einschüchterungen durch fremde Traditionen und daraus resultierten Trennungen ist es den Kirchen der Thomas-Christen im grossen und ganzen gelungen, Christus dem Herrn und Erlöser treu zu bleiben. Die Mehrheit von ihnen bleibt in Einheit mit dem Pontifex Maximus, dem Nachfolger des hl. Petrus. Unter allen katholischen Ostkirchen ist die syro-malabarische Kirche die aktivste Kirche, pulsierend von Leben und missionarischem Eifer. Der Glaube dieser Kirche war so stark, dass sie geduldig genug war, um der Einheit der Kirche und des Wirkens für das Reich Gottes willen Unterjochung und Demütigung zu erdulden. Sie waren fähig, über die Grenzen und die ihnen auferlegten Einschränkungen und selbst über ihre geschätzten Traditionen hinauszugehen, um dem Gebot des Herrn treu zu sein, den Armen die Gute Nachricht zu verkünden und überall in der Welt seine Zeugen zu sein.
Der indische Kapuziner Mathew Paikada hat nach der ordensinternen Ausbildung in Münster bei Johann Baptist Metz promoviert; er publiziert und doziert Theologie und ist seit 1996 Provinzial der indischen Kapuzinerprovinz St. Joseph.