10/2001 | |
INHALT |
Theologie |
Wenn von den Herausforderungen der Kirche durch den Schwangerschaftsabbruch die Rede ist, denkt man normalerweise zuerst einmal an den politischen Einsatz der Kirche gegen ein «liberales» Abtreibungsrecht. Weit weniger steht dann schon die Frage im Vordergrund, wie denn die Kirche auf pastoraler Ebene mit Frauen, die abgetrieben haben, umgeht dies ganz einfach weil diese Frauen, wie die meisten ihrer Generation, nur ein sehr loses Verhältnis zur Amtskirche pflegen. Im Folgenden soll es aber um eine dritte Frage gehen: Was kann die Kirche gesellschaftlich gegen Schwangerschaftsbbrüche tun? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Studie hilfreich, die vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut in St. Gallen veröffentlicht wurde.<1> Sie zeigt, dass die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs tatsächlich eine fundamentale pastorale Herausforderung für die Kirche darstellt wenn wir unter Pastoral mehr verstehen als das direkte seelsorgerliche Handeln von kirchlichen Amtsträgern mit den einzelnen Gläubigen.
Die Lektüre des SPI-Berichts «Leistungen der katholischen
Kirche der Schweiz zur Verminderung von Schwangerschaftsabbrüchen»
korrigiert verschiedene naive Vormeinungen, denen auch der Schreibende aufgesessen
ist. Eine solche Vormeinung lautete: Abgetrieben wird nicht immer,
aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aus einer materiellen
Notlage heraus. Zu meiner Beschämung muss ich gestehen, dass mich diese
Vormeinung auch leitete, als ich 1997 die Bischofskonferenz im Hinblick
auf deren Vernehmlassungsantwort zum Vorentwurf über die Änderung
des Strafgesetzbuches betreffend Schwangerschaftsabbruch zu bedienen hatte.
Heute muss man die Nuancen wohl etwas anders legen, auch wenn die Stellungnahme
von damals durchaus nicht falsch ist.
Heute wird man die Faktoren berücksichtigen, die Peter Voll S. 6164
aufzählt und die mit einem Schwangerschaftsabbruch signifikant einhergehen
(einhergehen, nicht bewirken). Diese Faktoren sind nichtmaterieller Natur,
und Voll fasst den Befund folgendermassen zusammen (S. 64): «Ein Abbruch
wird dann wahrscheinlich, wenn Mutterschaft oder eine weitere Geburt mit
den gesellschaftlich geltenden Normen des Lebenslaufs und/oder individuellen
Plänen kollidiert.» Dem entspricht die (vorsichtige) Feststellung
von Englberger (S. 40), dass sich eine Auswirkung von materiellen Hilfeleistungen
auf die Entscheidfindung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch
nicht belegen lässt. Wenn ich also bis vor kurzem der Meinung war,
das eigentliche Problem hinter dem Schwangerschaftsabbruch seien materielle
Notlagen, muss ich dies heute revidieren: Die Notlagen, aus denen heraus
abgetrieben wird, sind nicht unbedingt materieller, sondern vielmehr ideeller
Natur.
In der Schweiz wird nicht aus Armut abgetrieben, sondern weil die Schwangerschaft
nicht ins Konzept passt nicht ins gesellschaftliche Konzept passt
und/oder nicht ins individuelle Konzept passt. Nun kann man auf den ersten
Blick diesen Befund einem allgemeinen Verfall von Moral und Sitten zuschreiben
und daraus die Folgerung ziehen, die Kirche solle die Leute wieder kräftiger
«anpredigen». Diese Strategie halte ich allerdings für
unwirksam bzw. kontraproduktiv, und sie würde wohl auch auf einer Fehlinterpretation
des genannten Befunds beruhen. Ich möchte demgegenüber eine andere
Interpretation vorschlagen, die quasi von der Sozialmoral und nicht der
Individualmoral ausgeht. Ich ziehe dazu den Soziologen F.-X. Kaufmann bei:
Kaufmann spricht nicht von einer Kinderfeindlichkeit, sondern von einer
strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber den
Familien. «Das eigentliche Problem scheint nicht die Ablehnung von
Kindern, sondern eine weitgehende Indifferenz gegenüber Kindern und
ihren spezifischen Bedürfnissen sowie eine ungenügende Anerkennung
der Elternleistungen in weiten Bereichen der Gesellschaft zu sein.»<2>
Das eigentliche Problem liegt also in der gesellschaftlichen Mentalität,
nicht in der individuellen Moralität. Und die wirklichen Herausforderungen
für das pastorale Handeln der Kirche, wie sie sich aus dem Bericht
ergeben, müssen von dieser Interpretation ausgehen. Das scheint auch
Alfred Dubach so zu sehen, wenn er in der Einleitung zum Bericht (S. 3)
schreibt, die Hauptaktivität der Kirche müsse darin liegen, «über
ihre sozial- und familienpolitischen Aktivitäten eine kinderfreundliche
und prosoziale Lebenskultur in der Schweiz zu schaffen, um so (zu ergänzen
wäre: so, genau so und nicht anders) Schwangerschaftsabbrüchen
vorzubeugen». Ich ziehe aus diesen Überlegungen die Folgerung,
dass Bemühungen der Kirche auf soziostruktureller und soziokultureller
Ebene zur Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen wichtiger sind
als alle pastoralen Aktivitäten im engeren Sinne.
Die Kirche soll sich also für eine kinder- und familienfreundliche
Gesellschaft einsetzen. Sie soll sich nicht auf die strafrechtliche und
kirchenrechtliche Bekämpfung von Schwangerschaftsabbrüchen beschränken,
sondern die Kirche soll sich für eine Gesellschaft stark machen, in
der eine Frau oder ein Paar gar nicht mehr auf die Idee kommt, abzutreiben.
Wenn diese These richtig ist, sind zwei prioritäre Bereiche kirchlicher
Bemühungen zu unterscheiden, nämlich gesellschaftspolitisches
Engagement zu Gunsten der Familien und verstärkte Bemühungen im
Bereich der Wertebildung.
Zuerst zur gesellschaftspolitischen Dimension. Hier geht es ganz einfach
darum, das Leben in Familie, das Leben der Familie und der Familien (weil
es ganz verschiedene Familienformen gibt; das müssen wir einfach zur
Kenntnis nehmen und in unserer Pastoralplanung berücksichtigen) zu
erleichtern. Das ist eine sehr präzise Aufgabe. Hier ist der Einsatz
für sehr vielfältige und sehr konkrete Massnahmen notwendig: Es
geht etwa um die Schaffung familienexterner Kinderbetreuungsplätze,
die Förderung von Teilzeitarbeit und Jobsharing, familienverträgliche
Arbeitsformen, Mittagstische und Blockzeiten für Schulkinder usw. Die
Gemeinwohlorientierung des politischen Handelns der Kirche bedingt ein Eintreten
für die Familien, weil die Familien in unserem Land skandalöserweise
über keine anständige Lobby verfügen. Jede Interessengruppierung
ist in der Schweiz besser in der Lage, ihre Anliegen zu verfolgen, als die
Familien. Es ist dringend notwendig, hier eine kohärente Politik zu
erarbeiten, die von der Bischofskonferenz und ihren Organen auch konsequent
umgesetzt wird.
Ich kann nicht sehen, dass solche auch ganz konkreten Forderungen zu Gunsten
der ganz konkreten Familien hier und heute nicht auch von der Kirche unterstützt
werden könnten und unterstützt werden müssten. Alles, was
den Interessen der Familien und der Kinder entgegenkommt, ist per se ein
kirchliches Anliegen. Denn der Auftrag der Kirche lautet doch, die Botschaft
Jesu Christi in die Welt hinaus zu tragen, und diese Botschaft will Leben
ermöglichen, in Wort und Unterstützung, in Zuspruch und Hilfe,
mit Rat und Tat.
Diese allgemeine Bemerkung muss nun noch spezifiziert werden: Der zentrale
Bestandteil des Einsatzes der Kirche zu Gunsten der Familien und der Kinder
und damit auch der zentrale Bestandteil des kirchlichen Einsatzes gegen
Schwangerschaftsabbrüche muss es sein, jungen Frauen zu helfen, Familienarbeit
und Berufsarbeit miteinander zu vereinbaren. Ich meine diese Zuspitzung
wirklich ernst, und sie ist auch keineswegs einseitig, sondern wohl abgewogen
und realistisch: Die jungen Frauen sind das zentrale familienpolitische
Zielpublikum. Es sind die jungen Frauen, die entscheiden, ob sie ein Kind
wollen oder nicht. Wer das nicht zur Kenntnis nimmt, sieht an der Realität
vorbei. Die Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen muss Teil einer
umfassenden Familienpolitik sein, und keine Familienpolitik wird Wirkung
zeitigen, wenn sie nicht auf die Lebenssituation junger Frauen eingeht.
Und das bedeutet weiter, dass die Kirche Schweiz von ihrem immer noch unreflektiert
mitgeschleppten traditionellen Familienbild wegkommen sollte: Die so genannte
bürgerliche Normalfamilie (der Mann bringt das Geld nach Hause, während
die Frau sich um Haushalt und Kinderbetreuung kümmert) ist nicht mehr
der gesellschaftliche Normalfall, ist nicht mehr die soziale Norm, und die
Kirche wird gut daran tun, dies auch zu berücksichtigen. Die Kirche
wird also eine gleichstellungspolitisch orientierte Familienpolitik betreiben
müssen. Familieninteressen und Fraueninteressen dürfen keine Gegensätze
mehr bilden.
Doch kommen wir zur zweiten und vielleicht sogar wichtigeren Dimension des
kirchlichen Engagements zu Gunsten der Familien und damit, als Folge, auch
zur Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen: die Dimension der Wertebildung.
Man ist nicht von allen guten Geistern verlassen, wenn man behauptet, dass
die Kirche im Bereich der gesellschaftlichen Wertebildung noch etwas auszurichten
hätte man ist höchstens ein Utopist. Utopist deshalb, weil
es natürlich so ist, dass die Kirchen als wertebildende Instanz durch
die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung weitgehend ausgeschieden sind.
Und bei der römisch-katholischen Kirche kommt noch zusätzlich
das Problem, dass ihre Moralverkündigung nachhaltig unter dem Primat
der Sexualethik leidet. Es ist leider so, dass ein Grossteil der Bevölkerung
mit katholischer Moral drei Verbote assoziiert: keine künstliche Schwangerschaftsverhütung,
kein ausserehelicher Geschlechtsverkehr und selbstverständlich
keine Abtreibung. Mir geht es jetzt nicht darum, ob alle drei Verbote
wirklich berechtigt sind oder nicht; ich möchte nur eine simple Frage
stellen: Ist das alles, was wir zu bieten haben? Nein, natürlich hätten
wir viel mehr zu bieten, denn die christliche Moral besteht nicht nur aus
Verboten, und sie beschlägt auch nicht nur den Sexualbereich! Wir müssten
doch den Leuten Angebote machen können, wir müssten ihnen zeigen
können, wo die Chancen liegen, ein wahres, gutes und glückliches
Leben leben zu können, wir müssten das Evangelium wieder als Frohbotschaft
erfahrbar machen können, während die christliche Moralverkündigung
heute viel zu sehr als Sammlung von Verbotstafeln daherkommt. Ich will nicht
einmal behaupten, dass diese Verbote unbegründet oder falsch wären,
ich behaupte nur, dass die christliche Moralverkündigung auch noch
anderes aussagen muss als Verbote. Wir müssen eine positive Moralverkündigung
entwickeln, keine negative. Wir müssen Werte entwickeln und anbieten
und nicht den Leuten Unwerte einschärfen. Wir müssen den Menschen
Chancen eröffnen, ein wahres, gutes und glückliches Menschsein
zu leben.
Was ist also zu tun? Ich möchte das vorstehend Gesagte unsystematisch in vier Thesen zusammenfassen:
Hinter der Problematik der Schwangerschaftsabbrüche steht die allgemeine Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft. Ein wirksamer und glaubwürdiger Einsatz gegen Schwangerschaftsabbrüche bedingt, dass sich die Kirche für ein familien- und kinderfreundlicheres Klima in unserer Gesellschaft einsetzt, und zwar mit gleichem Engagement auf zwei Ebenen, auf der gesellschaftspolitischen Ebene ebenso wie auf der Ebene der Wertebildung. Es führt wohl kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Effekte kirchlichen Handelns auf die Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht anders als indirekter Natur sein können: Es geht um Wertebildung, um Klimapflege, es geht um politischen Einsatz es geht um Sozialpastoral. Ich sehe auf gesamtgesellschaftlicher Ebene keine andere Instanz, die dies tun kann.
Christian Kissling ist Theologe und arbeitet als Sekretär der Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz (SBK). Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Referats, das er am 13. Juni 2000 vor der Plenarversammlung der Pastoralplanungskommission der SBK gehalten hat.
1 Thomas Englberger/Peter Voll, Leistungen der katholischen Kirche der Schweiz zur Verminderung von Schwangerschaftsabbrüchen (SPI-Bericht), St. Gallen, Februar 2000.
2 F.-X. Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1995, 174 (im Original kursiv).