7/2001

INHALT

Theologie

"Ich habe nicht gegen das Licht gesündigt"

von Fridolin Wechsler

 

Der folgende Beitrag beabsichtigt nicht, aus Anlass des 200. Geburtstages von John Henry Newman eine theologische Würdigung seiner Person und seines Werks vorzunehmen. Er beschränkt sich vielmehr darauf, einen Grundzug herauszustellen, der das ganze Leben und Wirken dieses grossen «Kirchenlehrers einer wahren Ökumenizität» (W. Becker) geprägt hat: die unbedingte Entschlossenheit, der Stimme seines Gewissens zu gehorchen, oder im Bild ausgedrückt: dem Licht zu folgen, das ihm von Gott her zukam. Dafür war er bereit, alles zu opfern, auch seine theologische und kirchliche Karriere. Den vollkommensten sprachlichen Ausdruck fand diese Bereitschaft im Gedicht «Lead, kindly light ­ Führ, liebes Licht». Es wurde zum berühmtesten Gedicht Newmans, und es soll bis heute das populärste anglikanische Kirchenlied sein.
John Henry Newman wurde am 21. Februar 1801 in London als Sohn einer Bankiersfamilie geboren.<1> Schon mit 16 Jahren begann er das Universitätsstudium in Oxford ­ zuerst in Literatur, Mathematik und Jurisprudenz, dann in Theologie. 1825 wurde er zum Geistlichen der anglikanischen Kirche ordiniert. Von 1828 bis 1843 war er Pfarrer der Universitätskirche in Oxford, wo er durch seine Predigten bald grosse Berühmtheit erlangte. 1833 begründete er zusammen mit Freunden die so genannte Oxford-Bewegung, die eine Erneuerung der anglikanischen Staatskirche anstrebte. Nach schwerem inneren Ringen trat er 1845 zur römisch-katholischen Kirche über. Er wurde 1847 in Rom zum Priester geweiht und schloss sich dem Oratorium des heiligen Philipp Neri an. 1848 und 1849 gründete er die Oratorien in Birmingham und London. Der Übertritt zur katholischen Kirche bedeutete für Newman gesellschaftlich und kirchlich einen Abstieg. In seiner neuen Glaubensgemeinschaft begegnete man ihm zumeist mit Unverständnis und Misstrauen. Man verdächtigte ihn, nur ein halber Katholik zu sein und hintertrieb fast alle seine Pläne. So musste Newman jahrzehntelang ein Leben «unter der Wolke» führen, wie er es nannte. Erst 1879 folgte die Wende, als Papst Leo XIII. ihn unvorhergesehen und trotz Widerständen aus seiner Umgebung zum Kardinal ernannte. Er entzog damit allen Verdächtigungen gegen die Person Newmans endgültig den Boden und ehrte sein grosses Lebenswerk. Am 11. August 1890 starb Newman in seinem Oratorium in Birmingham.
Die Bereitschaft, vorbehaltlos der Stimme seines Gewissens zu folgen, ist Newman nicht kampflos zugefallen. Im Alter von 30 Jahren überkam ihn die Versuchung «zur Sünde gegen das Licht», wie er sie bezeichnete.<2> Er meinte damit die Versuchung, sich im Blick auf die vorausgeahnten Mühen und Leiden der Aufgabe zu entziehen, die er immer deutlicher als ihm von Gott auferlegte Sendung erkannte. Wie tief diese Versuchung ging, zeigt eine Predigtreihe über Jeremia aus dem Jahr 1830. In einer dieser Predigten mit dem Titel «Jeremia, ein Lehrmeister der Enttäuschung», sagte Newman: «Grosse Erfolge zu erwarten von unseren Bemühungen um das Religiöse ist zwar natürlich und harmlos, aber es entspringt einer Unerfahrenheit in dem Werk, das wir zu tun haben, nämlich das Herz und den Willen des Menschen zu wandeln. Es ist eine weit edlere Geisteshaltung zu arbeiten, nicht mit der Hoffnung, die Frucht unserer Arbeit zu sehen, sondern um des Gewissens willen, aus Pflichtgefühl: dazu noch im Glauben und im Vertrauen, dass Gutes geschieht, wenn wir es auch nicht sehen.»
In einer späteren Predigt ermahnt Newman seine Hörer und wohl auch sich selber: «Handelt nach eurem Licht, auch inmitten von Schwierigkeiten, und ihr werdet vorangetragen werden, ihr wisst nicht wie weit!... Religiöse Menschen sind immer am Lernen; wenn aber die Menschen es ablehnen, aus dem bereits gewährten Licht Nutzen zu ziehen, wandelt sich ihr Licht in Finsternis.»
Die im Leben Newmans durch die Versuchung zur «Sünde wider das Licht» ausgelöste Krise erreichte ihren Höhepunkt auf einer Reise nach Sizilien, die er im Jahre 1832/33 unternahm. Auf dieser Reise erkrankte er an einem schweren Fieber. Sein Begleiter fürchtete, Newman müsse sterben, und er erbat von ihm die letzten Weisungen. Newman entsprach diesem Wunsch, sagte aber im Halbdelirium des Fiebers: «Ich werde nicht sterben, denn ich habe nicht gegen das Licht gesündigt; ich habe nicht gegen das Licht gesündigt.» Was er damit meinte, konnte er nie ganz erklären. Diese Worte entschlüpften ihm und sind so eine um so wahrere Enthüllung seines innersten Wesens.
Nachdem sich Newman von der Krankheit, die den Höhe- und zugleich Wendepunkt seiner Krise anzeigte, erholt hatte, trat er die Heimreise nach England an. Auf See verfasste er dann am 16. Juni 1833 das Gedicht «Lead, kindly light», das hier in der Übertragung von Ida Friederike Görres wiedergegeben wird.

Führ liebes Licht, im Ring der Dunkelheit
führ du mich an.
Die Nacht ist tief, noch ist die Heimat weit,
führ du mich an!
Behüte du den Fuss: der fernen Bilder Zug
begehr' ich nicht zu sehn: ein Schritt ist mir genug.

Ich war nicht immer so, hab' nicht gewusst
zu bitten: du führ an!
Den Weg zu schaun, zu wählen war mir Lust ­
doch nun: führ du mich an!
Den grellen Tag hab ich geliebt und manches Jahr
regierte Stolz mein Herz, trotz Furcht: vergiss, was war!

So lang gesegnet hat mich deine Macht, gewiss
führst du mich weiter an,
durch Moor und Sumpf, durch Fels und Sturzbach, bis die Nacht
verrann
und morgendlich der Engel Lächeln glänzt am Tor,
die ich seit je geliebt, und unterwegs verlor.

Newman spricht Gott als «Licht» an. Er hat ihn offenbar als eine Macht erfahren, die seinem Dasein Sinn und Orientierung gewährt. Diese Macht bezeichnet er hier noch genauer als «liebes Licht». Es ist ein Licht, das nicht nur Helligkeit und Klarheit vermittelt, sondern auch Geborgenheit und Wärme. Das ist keineswegs selbstverständlich. Es gibt ja auch ein kaltes Licht. Denken wir nur an das grelle Licht der Neonröhren in einem Fabrik- oder Operationssaal. Es beleuchtet scharf, aber es macht einen zugleich frieren. Nicht so dieses Licht! Es gleicht vielmehr dem Licht einer Kerze, das erhellt und zugleich wärmt. Im Schein dieses Lichtes fühlt man sich nicht ausgestellt oder gar blossgestellt, sondern umhüllt und geborgen. So verhält es sich auch mit dem Licht, das Gott ist. Es ist ein «liebes Licht». Der Blick, mit dem es auf uns schaut, ist ein liebender Blick. Es ist ein Erkennen, das zugleich Verstehen und vorbehaltlose Annahme bedeutet.
So wagt es Newman, diesem «lieben Licht» eine Bitte vorzutragen, ja es geradezu anzuflehen: «führ du mich an!» Fünfmal wiederholt er diese Bitte. Denn die Lage, in der er sich befindet, ist düster. Dunkelheit umgibt ihn, tiefe Nacht. Ja, er fühlt sich geradezu umlagert von Dunkelheit, eingeschlossen in einen «Ring der Dunkelheit», aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Dazu kommt das Gefühl in der Fremde zu sein, fern der Heimat. So hat er allen Grund Gott zu bitten, er möge seinen Fuss auf dem langen Weg der Pilgerschaft behüten und ihm so viel Licht gewähren, als für den nächsten Schritt nötig ist. Mehr nicht. Was morgen und übermorgen sein wird, braucht er jetzt nicht zu wissen. Zukunftsbilder, die wie ein Film vor seinem Inneren vorbeiziehen mögen, brauchen ihn nicht zu beunruhigen. Ein Schritt ist ihm genug.
Doch wie er diese Bitte ausspricht, wird ihm bewusst, dass er nicht immer so gedacht und gebetet hat. Früher wollte er den Weg sehen. Er wollte wissen, wie es weitergeht, und die Richtung selber bestimmen. Ja, er liebte den «grellen Tag», die vollkommen durchschaute und ehrgeizig geplante Zukunft. Manche Jahre regierte Stolz sein Herz, «trotz Furcht». Diese unerwartete Wendung mag beim ersten Hinhören erstaunen, ja befremden. Man würde doch erwarten, dass ein stolzer Mensch frei von Furcht ist, dass er alles im Griff hat. Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit lauert auf dem Grund aller Eigenmächtigkeit die Angst, unsere hochgemuten Pläne könnten eines Tages durchkreuzt oder gar zunichte gemacht werden. Auch Newman weiss darum. Doch will er sich jetzt nicht selbstquälerisch an die Sackgassen seiner Vergangenheit klammern. Das führt nicht weiter. Es soll darum vergessen sein. Statt dessen erinnert er sich staunend daran, wie lange schon Gott ihn trotz allen Eigensinns mit seinem Segen begleitet und geführt hat. Daraus schöpft er wie die Menschen der Bibel die vertrauensvolle Gewissheit, dass Gott ihn auch weiterhin führen werde durch alle Gefahren, die das Leben für ihn noch bereithalten mag: durch die Gefahr, in ihm wie in einem Moor oder Sumpf zu versinken, an seiner Härte wie an einem Felsen zu zerschellen oder von ihm jäh und unvorbereitet wie von einem Sturzbach überfallen zu werden.
Doch einmal wird dieser Weg ein Ende finden, die Nacht wird verrinnen und es wird der Morgen jenes Tages anbrechen, auf den kein Abend und keine Nacht mehr folgt. Er wird am Tor der Ewigkeit angelangt sein, und dort werden ihn jene erwarten, die Gott ihm als seine Boten, als seine «Engel» auf den Weg geschickt hat, um ihn zu schützen, zu trösten und auch mal zu warnen. Sie werden ihn mit einem strahlenden Lächeln empfangen voll Freude darüber, dass er durch alle Gefahren und alles Dunkel hindurch nach Hause gefunden hat. Von diesen «Engeln» ­ in welcher Gestalt auch immer sie ihm begegnet sein mögen ­ bekennt Newman am Schluss seines Gedichtes mit einem Ton leiser Wehmut, dass er sie seit je geliebt, doch unterwegs bisweilen verloren habe.

 

Dr. theol. Fridolin Wechsler ist Dozent für Dogmatik und Liturgik am Katechetischen Institut der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.


Anmerkungen

1 Zu Leben und Werk Newmans vgl. neuestens G. Biemer, Die Wahrheit wird stärker sein. Das Leben Kardinal Newmans, Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main 2000.

2 Vgl. dazu F. M. Willam, Kardinal Newmans Versuchung «zur Sünde gegen das Licht», in: Geist und Leben 42 (1969) 49­63.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001