27-28/2001 | |
INHALT |
Kirche in der Schweiz |
Die Geschichte der armenischen Kirche in der Schweiz hängt sehr
eng mit jener grossartigen christlich-humanitären Hilfe zusammen, die
das Schweizer Volk bereits vor 100 Jahren den leidgeprüften Armeniern
in der Türkei geleistet hat. In der Schweiz wurde das Massaker von
Sassun schon im Dezember 1894 bekannt, und über die blutigen Ereignisse
von Konstantinopel im September-Oktober 1895 und die nachfolgenden schrecklichen
Massaker in allen armenischen Provinzen wurde in den Tageszeitungen, vor
allem in christlichen Blättern, berichtet.<1>
Der Initiator dieser Verfolgungen und Massaker war der «rote Sultan»
Abdul Hamid II., der als der «grosse Meuchelmörder» in
die Geschichte eingegangen ist. Er war der begabteste, aber auch der grausamste
Sultan, den die Türkei seit Jahrhunderten gehabt hatte, ein Herrscher,
der skrupellos über Leichen ging, auch über die seiner Verwandten
und Freunde. Er war sehr feige und misstrauisch. Zudem hatte er einen abgrundtiefen
Hass gegen alles Armenische, gewiss aus einem Mutterkomplex, aus Erbitterung
darüber, dass er kein reiner Türke war, sondern von einer armenischen
Haremsklavin abstammte.
Bereits im Oktober und im November 1895 erschienen die ersten kurzen Artikel
über die Armenierprogrome in der Türkei in der «Gazette
de Lausanne» und im «Journal de Genève». Das «Journal
réligieux des Eglises Indépendantes de la Suisse Romande»
in Neuenburg brachte am 16. November 1895 den ersten Aufruf zu einer Sammlung
für die Armenier in der Türkei unter dem Titel «Nouveaux
massacres», verfasst von Pfarrer E. Jaccard in Zürich. Im gleichen
Blatt erschien am 28. Dezember 1895 unter dem Titel «Les massacres
en Arménie» der erste einer ganzen Reihe von Artikeln über
Armenien von Prof. Georges Godet.
Der eigentliche Anstoss zu einer schweizerischen Armenierhilfe kam von
Neuenburg durch die Initiative eines Einzelnen, des Pfarrers Edouard Rosselet.
Am 4. März 1896 wurde in der Stiftskirche von Neuenburg eine Konferenz
der Pfarrer der «Eglise Indépendante» gehalten. In dieser
Konferenz wurde beschlossen, ein Aktionskomitee unter der Leitung von Prof.
Georges Godet zu bilden. Das Protokoll jener Sitzung erwähnt: «Herr
Edouard Rosselet ist tief erschüttert durch einen Artikel im ÐJournal
des Missions Evangéliques de Parisð über die Massaker in
Armenien. Er glaubt, Gott wolle sich nicht der Grossmächte bedienen,
um dieser unglücklichen Bevölkerung zu Hilfe zu kommen, sondern
der geistlichen Mächte, die er im Schosse der Kirche finden muss. Vereinigen
wir uns mit den Amtsbrüdern der ÐEglise nationaleð, um auf
die Kirchen der ganzen Schweiz einzuwirken und eine Bewegung zugunsten der
verfolgten Christen auszulösen.»
Alle Konferenzteilnehmer waren sich darüber einig, für diesen
Zweck einen wirksamen Weg auszuwählen: Aufklärung der öffentlichen
Meinung durch Zeitungsartikel und einen Appell an das Gewissen der Schweizer.
Prof. Godet wurde gebeten, eine Broschüre über die Massaker in
Armenien zu verfassen. Das war die eigentliche Geburtsstunde der schweizerischen
Armenierhilfe.
Die Broschüre von Prof. Georges Godet erschien bereits im April 1896
unter dem Titel «Les Souffrances de l'Arménie» und fand
enorme Beachtung. Durch diese Schrift und seine monatlichen Artikel im «Journal
réligieux» wurde Godet der erste Organisator der schweizerischen
Armenierhilfe. Schon am 1. April 1896 erliess das Zentralkomitee der Evangelischen
Allianz in Lausanne einen dringenden Appell zugunsten der leidgeprüften
Armenier. Im April und im Mai verfügten verschiedene Kirchenbehörden
Fürbittgebete von allen Kanzeln sowie Kirchenkollekten für die
Armenier. Bald kam es zu Sammlungen in der ganzen Schweiz durch die Kirchen,
durch Presse und Privatpersonen und vor allem durch die neu gegründeten
lokalen Hilfskomitees für Armenien.
Das zweite Massaker in der Provinz Van vom 14. bis 22. Juni 1896 und besonders
das zweite Massaker in Konstantinopel vom 25. bis 28. August 1896, denen
Tausende Armenier zum Opfer fielen, lösten in der Schweiz eine ungeheure
Welle der Empörung aus. Es kam zu gewaltigen Protestkundgebungen, deren
grösste am 7. September 1896 in Lausanne im Hôtel de Ville unter
dem Vorsitz des Rektors der Universität Lausanne, des Theologieprofessors
E. Combe, stattfand. Der Rektor der «Gazette de Lausanne», Albert
Bonnard, ein sehr bedeutender Journalist, forderte in seiner Rede die Versammlung
auf, eine grosse Protestkundgebung in der ganzen Schweiz auszulösen.
Die Versammlung fasste den Beschluss, ein Komitee zu bilden mit der Aufgabe,
eine Kundgebung des ganzen Schweizer Volkes zu veranlassen und eine Bittschrift
an den Bundesrat zu verfassen, damit dieser die Willenskundgebung des Schweizer
Volkes allen europäischen Grossmächten zur Kenntnis bringe.
Die Lausanner Kundgebung fand eine ausserordentliche Beachtung in der Schweizer
Presse, die den Aufruf zu einer Unterschriftensammlung warm unterstützte.
Schon am 10. Oktober machte das Komitee von Lausanne die erste Eingabe an
den Bundesrat mit 113653 Unterschriften. Sodann trat am 28. Februar 1897
der Präsident des Zürcher Komitees, Prof. K. Furrer, brieflich
an den Bundespräsidenten Dr. Adolf Deucher mit der Bitte heran, die
Abgeordneten der Armenierhilfe zwecks Übergabe der gesammelten Listen
zu empfangen. Am 4. März 1897 wurde die Delegation der Armenierhilfe
vom Bundespräsidenten empfangen. Der Sprecher der Delegation, Prof.
K. Furrer, bemerkte in seiner Ansprache: «Diese 433080 Unterschriften
von Schweizern und Schweizerinnen sind der Ausdruck der Entrüstung
und des tiefen Schmerzes über die entsetzlichen Greueltaten, die an
dem christlichen Volk der Armenier begangen wurden. Wir kennen keinen Nationalhass
und keine Nationalfeinde. Darum dürfen wir erwarten, dass, wenn das
Gewissen unseres Volkes durch Hunderttausende von Stimmen laut wird, niemand
uns selbstsüchtige Motive unterschieben kann. Unser Volk fühlt
sich zu einer grossen Kundgebung heiligen Zorns und innigen Erbarmens gedrängt.
Das muss auf die übrigen Völker Europas Eindruck machen.»
Der ursprüngliche Gedanke bei der Protestversammlung in Lausanne und
in den anderen Städten der Schweiz war, durch Unterschriften aus der
ganzen Schweiz dem Volkswillen ein derart starkes Gewicht zu geben, dass
der Bundesrat diesen Protest bei den europäischen Grossmächten
vorbringen konnte. Mit Rücksicht auf die politische Neutralität
der Schweiz wollte der Bundesrat aber nicht darauf eingehen. Auf alle Fälle
kann es dem Bundesrat nach dieser gewaltigen Kundgebung des Schweizer Volkes
nicht leicht gefallen sein, Sultan Abdul Hamid II. am 31. August 1900 anlässlich
des 25. Regierungsjubiläums ein Glückwunschtelegramm zu senden.
Die Unterschriftensammlung und überhaupt die ganze Aktion war trotzdem
sinnvoll, denn als Folge entstand ein allgemeines Interesse am Schicksal
der Armenier, das seinen Ausdruck in einer überraschend starken Hilfsbereitschaft
des Schweizer Volkes fand.
Die grossen zur Verfügung stehenden Mittel erlaubten die Übernahme
bestimmter Hilfsstellen in der Türkei. Dadurch wurde eine umfangreiche
Waisenbetreuung einschliesslich der Gründung von verschiedenen Waisenhäusern,
Spitälern und Hilfsstellen in Sivas, Brussa, Bardezag, Urfa und in
anderen Ortschaften Armeniens ermöglicht. Es seien hier nur einige
prominente Namen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in der Armenierhilfe
erwähnt: Leopold Favre, Karl Schenkel, Georges Godet, Wilhelm Vischer-Iselin,
Jakob Künzler, Elisabeth Künzler, Karl Meyer, Martha Meyer, Max
Müller, Anna Schweizer, Johannes Spörri, Katharina Stucky, Oeri
Vischer, Gertrud Vischer, Theodor Wieser und der unvergessene Pfarrer Antony
Krafft-Bonnard.
Nach der Niederlage der Türkei im ersten Weltkrieg war die Zeit für
die Errichtung eines freien armenischen Staates auf dem uralten Heimatboden
der Armenier im Territorium des türkischen Staates gekommen selbstverständlich
unter dem Patronat der siegreichen Alliierten , damit dem durch die
Türkenherrschaft geschaffenen Elend dieses Volkes ein Ende gesetzt
werde. Damals wäre dies noch möglich gewesen, denn das Ansehen
der Sieger war so gross und die türkische Armee dermassen demoralisiert,
dass in jener Zeit alles hätte erreicht werden können. Aber die
Alliierten waren derart mit ihren europäischen Problem beschäftigt
und zudem noch untereinander uneins, dass kostbare Wochen und Monate vergingen,
ohne dass das türkische Problem gelöst worden wäre.
Dagegen hat ein anderer das türkische Problem richtig erkannt und die
Zeit gut ausgenützt: Mustafa Kemal, der später von den Türken
Ata-Türk genannt wurde, was soviel wie «Vater der Türken»
bedeutet. Er verstand es meisterhaft, aus der Rivalität der Alliierten
und ihrer militärischen Schwäche Nutzen zu ziehen und die türkische
Armee nach und nach wieder zu organisieren. Er berief im Juni und im August
1919 Nationalversammlungen nach Erzurum und Sivas ein und gründete
im September die türkische Republik. Er nahm Kontakte mit Sowjetrussland
auf und erhielt von dort 300000 Goldpfund «zum Kampf gegen die kapitalistischen
Länder». Durch europäische Waffenhändler liess er dann
grosse Mengen an Waffen, Munition, Kleidern, Schuhen, Wäsche und anderem
aufkaufen. Er gab die Parole aus: «Die Türkei den Türken!
Nicht ein Zollbreit unseres Bodens darf an die Armenier oder irgendeinen
anderen Staat abgetreten werden!» Er vertrieb 1921/1922 die Griechen,
setzte den letzten Sultan, Mohammed VI., ab und zerriss den von der alten
Regierung unterzeichneten Friedensvertrag von Sèvres (10. August
1920). Ja, die siegreichen Alliierten mussten sich bequemen, nach der griechischen
Katastrophe von Smyrna (1922) mit der neuen nationalistischen Regierung
zu verhandeln und den stark abgeänderten Vertrag von Lausanne (1923)
zu unterzeichnen, in dem Armenien überhaupt nicht mehr erwähnt
wurde.
Was die jungtürkische Regierung durch einen blutigen Genozid an den
Armeniern begonnen hatte, wurde unter Kemal Atatürk bis zu einer Endlösung
der armenischen Frage fortgesetzt. Noch Tausende Überlebende des armenischen
Genozids wurden nach und nach in Marasch, Adana, Hadjin, Sis und in fast
allen südtürkischen und kilikischen Städten auf bestialische
Weise umgebracht.
Kilikien stand damals noch unter dem Protektorat Frankreichs. Nach dem Abzug
der englischen Truppen aus der Türkei hatte die französische Armee
alle Angriffe der Kemalisten auszuhalten. Unzählige französische
Soldaten und Offiziere verloren ihr Leben, und der Krieg gegen die Kemalisten
verschlang immer wieder grosse Summen. Das veranlasste Frankreich, mit den
Kemalisten direkte Verhandlungen zu führen. So kam es schliesslich
zum «Französisch-Türkischen Freundschaftsvertrag»
von Angora (20. Oktober 1921), in dem Frankreich auf Kilikien verzichtete
und seine Truppen zurückzog. Das hatte zur Folge, dass sich ein Flüchtlingsstrom
von über 150000 Armeniern nach Syrien und in den Libanon ergoss. Der
völlige Rückzug Frankreichs aus Kilikien war für die Armenier
eine bittere Enttäuschung und wurde von ihnen als Treubruch und Verrat
empfunden.
Seit den Tagen der blutigen Massaker unter Sultan Abdul Hamid II. hatten
Armenier in der Schweiz Zuflucht gesucht und gefunden. Während des
Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach kamen mehrere armenische Flüchtlinge
unter ihnen einige lungenkranke Menschen in die Schweiz, um
dort von verschiedenen Hilfsorganisationen betreut zu werden. Die allgemeine
Lage und die Unterbringung der in Genf und Lausanne verstreut lebenden,
bedürftigen Armenier sah jedoch nicht sehr tröstlich aus, da sich
der Plan einer besonderen Flüchtlingshilfskasse damals nicht verwirklichen
liess.
Doch da zeigte sich im Frühjahr 1921 eine unerwartete Lösung:
In Begnins bei Nyon am Genfer See war eine ehemalige Pension zu verkaufen.
Mit 21 Zimmern stellte sie eine geräumige und behagliche Wohnstätte
dar. Der Eigentümer verlangte dafür Fr. 52500.. Pfarrer Antony
Krafft-Bonnard machte dem Zentralkomitee den Vorschlag, dieses Haus zu kaufen.
Niemand ging darauf ein, eine solche Summe in ein Haus zu investieren, während
die Not der Waisen und der Bedürftigen in der Türkei sehr gross
war. Da niemand die Verantwortung für die armenischen Flüchtlinge
in der Schweiz übernehmen wollte, blieb nur die Bildung einer besonderen
Gesellschaft. So kam es am 21. Juni 1921 zur Gründung der Gesellschaft
«Le Foyer Arménien». An der Delegiertenversammlung in
Biel vom 23. Januar 1922 wurde dann das erwähnte Projekt in Begnins
gutgeheissen und beschlossen.
Am 13. Juli 1921 konnte das «Foyer» mit 46 heimatlosen Armeniern
eröffnet werden. Das «Foyer» bestand bis zum 30. November
1922 in Begnins und wurde dann nach Genf verlegt, denn dieses Haus in Begnins
wurde gebraucht für die Unterbringung der aus Konstantinopel geflüchteten
armenischen Kinder des dortigen schweizerischen Waisenhauses.
Nach der Katastrophe von Smyrna wurde die Lage nämlich auch in Konstantinopel
sehr kritisch durch den zunehmenden Druck der Kemalisten und ihre Feindschaft
gegen die Armenier. So kam es zum Entschluss, die Waisenbetreuung in der
Türkei einzustellen und mit den Waisen in die Schweiz zu flüchten.
Mit Hilfe der amerikanischen «Near East Relief» überwies
das schweizerische Zentralkomitee telegrafisch das Reisegeld mit der definitiven
Anweisung, Konstantinopel sofort zu verlassen. Das Zentralkomitee ist mit
diesem Vorgehen nicht allein geblieben. Fast zur gleichen Zeit überführten
die englische und die amerikanischen Hilfswerke 750 Schützlinge nach
Korfu.
Am 19. November verliessen 41 Waisenkinder, 7 Angestellte und 2 Lehrerinnen
Konstantinopel mit einem Schiff, das sie nach Marseille brachte. Von dort
reisten sie nach Genf und kamen am 1. Dezember 1922 in Begnins, ihrem neuen
Zufluchtsort, an.
Dieser Auszug aus Konstantinopel war ein sehr kleines Ereignis gegenüber
dem riesigen Exodus, der sich seit April 1922 vollzog: Zuerst die Evakuierung
von 25000 armenischen und griechischen Waisenkindern des «Near East
Relief» in den Kaukasus, nach Persien, Griechenland, Syrien, in den
Libanon und nach Palästina. Dann die Vertreibung und Flucht von 1050000
Griechen nach der Katastrophe von Smyrna. Unter ihnen befanden sich auch
Zehntausende von Armeniern.
Vom Jahr 1919 an hatten die Amerikaner in Anatolien über 30000 christliche
Waisenkinder in 70 Waisenhäusern gesammelt. Die türkischen Behörden
verlangten dann, dass ihnen für je ein Christenkind, das sie im Lande
duldeten, die Unterhaltskosten für ein moslemisches Waisenkind ausbezahlt
würden. Anfänglich ging man darauf ein, später aber stellte
man fest, dass der grösste Teil der ausbezahlten Gelder in die Taschen
der korrupten türkischen Beamten geflossen war.
Als der Unterhalt armenischer Waisenkinder auf diese Weise zu teuer wurde,
fasste die Leitung des «Near East Relief» den Beschluss, alle
Waisenhäuser in der Türkei aufzulösen und die Kinder ausser
Landes zu bringen. Von April bis November 1922 erfolgte der systematische
Abtransport von etwa 17000 Kindern nach Griechenland und von etwa 8000 Kindern
nach Syrien.
Als die Übersiedlung der Waisenkinder von Konstantinopel beschlossen
war, musste das Flüchtlingsheim von Begnins nach Genf verlegt werden,
da das «Foyer» nun Waisenhaus werden sollte. Für die Flüchtlinge
war Genf besser geeignet als Begnins, im Hinblick auf Arbeitsmöglichkeiten,
Besuch von Kursen und verschiedene Schultypen für Kinder.
Aufgenommen wurden in Begnins von 1922 bis 1930 im Ganzen 142 Waisenkinder:
101 Knaben und 41 Mädchen. Durch das Genfer Heim gingen von 1922 bis
1930 insgesamt 101 Schüler: 72 kamen von Begnins, 29 traten direkt
in Genf ein. Im Flüchtlingsheim in Genf wurden insgesamt 85 armenische
Flüchtlinge, Witwen und Waisen, Alte, Kranke, gebrechliche und arbeitslose
Menschen aufgenommen und unterstützt.
Sehr oft erhielt das Zentralkomitee in Genf Anfragen von Unterstützern,
die die Waisen in ihre Familie aufnehmen oder auch adoptieren wollten. Aufgrund
ungünstiger Erfahrungen wurden diese Bitten im Interesse der Kinder
zurückgewiesen. Die Verpflanzung solcher Kinder in schweizerische Familien
mit ihren ganz anderen Lebensverhältnissen hatte sich für ihre
Entwicklung meist nicht als günstig erwiesen. Auch bei guter Erziehung
hatten die Kinder eine gespaltene Seele: Ihrer Herkunft nach Armenier, der
Erziehung nach Schweizer, trugen sie zwei Seelen in ihrer Brust, waren innerlich
zerrissene Menschen und wussten eigentlich nie recht, wohin sie gehörten
und was sie wirklich waren. Diese ganz humane und beispielhafte Entscheidung
des Zentralkomitees war die Geburtsstunde der Armenischen Gemeinde in der
Schweiz.
Die Kinder in Begnins bekamen durch armenische Lehrer und Erzieher neben
dem französischen hauptsächlich auch armenischen Unterricht: Sprache,
Religion, Geschichte und Kultur, was zur weiteren Ausbildung des armenischen
Bewusstseins beitragen sollte. Der Grundgedanke von Pfarrer Antony Krafft-Bonnard
war, armenische Zöglinge so auszubilden, dass sie eines Tages in ihre
Heimat zurückkehren und ihrem Volk als Führer dienen könnten.
Er glaubte fest daran, dass Armenien wieder auferstehen müsste, als
Resultat einer Forderung der Gerechtigkeit, auf die er sich immer wieder
in Wort und Schrift berief. Leider vergebens. Nach dem Vertrag von Lausanne
und erst recht nach der Aufnahme der Türkei in den Völkerbund
in Genf (1932) wurde es jedem realistisch Denkenden bewusst: Die Hoffnung
auf eine politische Lösung der armenischen Frage musste begraben werden.
Für die Armenier gab es keine «Rückkehr in ihre Heimat»
mehr. Und das war das Schmerzhafte im Leben von Antony Krafft-Bonnard. Er
vermochte sich nicht mit der grausamen Tatsache abzufinden, dass seine Zöglinge
Kinder eines «betrogenen Volkes» geworden waren.
Wie viele Waisenkinder durch die beiden Heime in Begnins und Genf gegangen
sind, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Pfarrer Antony Krafft-Bonnard
berechnete ihre Zahl im Jahre 1939 auf 250 Knaben und Mädchen. Während
in den folgenden Jahren eine Mehrzahl von ihnen in verschiedene europäische
Länder, auch nach Sowjetarmenien, in die USA und Kanada auswanderte,
lebte ein wichtiger Kern von diesen ehemaligen Waisenkindern in der Schweiz
weiter und bildete den Grundstock der schweizerisch-armenischen Gemeinde.
Zu den oben erwähnten Tatsachen muss noch hinzugefügt werden,
dass während der Anfänge der armenischen Präsenz in der Schweiz
mehrere armenische Studenten an den Universitäten von Basel, Zürich,
Freiburg, Lausanne und Genf studierten. Einige beliebte Schriftsteller und
prominente Persönlichkeiten wie Rouben Sevak, Avetik Isahakian, Derenik
Demirjian, Krikor Artzrouni und der spätere Katholikos Khoren I. Mouradbekian
haben ihre Hochschulbildung auf schweizerischen Universitäten empfangen.
1887 wurde in Genf von einigen marxistisch orientierten Studenten wie Avetis
Nazarbek, Maro Nazarbek, Rouben Khanzad, Gabriel Kafayian und anderen die
armenisch-politische Partei der Huntschakisten gegründet. Bis zum Jahr
1891 wurde in Genf das politische Organ der Huntschakisten «Huntschak»
herausgegeben.
Bald nach ihrer Gründung (1890) in der georgischen Hauptstadt Tiflis
hatte auch die Partei der «Armenischen Revolutionären Förderation»
eine Niederlassung in Genf, wo 1891 bis 1914 ihr offizielles Organ «Droschak»
gedruckt wurde.
1907 gründeten die armenischen Studenten in Lausanne die Studentenvereinigung
«Armenia». 1914 wurde für den Dienst der armenischen Studenten
eine kulturelle Nachrichtenagentur unter dem Namen «Teghekatu Büro»
gegründet. 1896 wurde die erste armenische Schule durch Retheos Berberian
in Genf eröffnet. 1904 errichtete Martiros Nalbandian aus eigenen Mitteln
in Lausanne ein Sonderinternat «Haykazian Varjaran» für
armenische Studenten. Die Existenz und der Nutzen dieser Schulen waren von
kurzer Dauer, da zu der Zeit weder eine bedeutende Anzahl von Armeniern
noch eine sesshafte armenische Gemeinde in der Schweiz organisiert war.
Die ersten Liturgien wurden in Genf erst nach 1925 gefeiert. Es wurde ein
kleiner Kirchenrat unter der Führung von Setrak Papazian gebildet,
um die liturgischen Feiern zu organisieren. Da das liturgische Verständnis
der Armenier von einer Eucharistiefeier dem evangelischen nicht ganz entsprach
und ausserdem die evangelischen Kirchen keinen für eine armenisch-apostolische
Eucharistiefeier erforderlichen Altar hatten, entschied man sich gleich
aufgrund verschiedener Überlegungen, die heilige Liturgie im «Salle
Centrale» zu feiern. Da dieses Gebäude mit einer entsprechenden
Bühne ausgestattet war, brauchte man dazu nur noch einen beweglichen
Altar zu konstruieren. Anfänglich wurden die hl. Messen nur zweimal
im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, gefeiert. Dazu musste man den Vardabet
Vramschpouh Kibarian, der später zum Bischof von Paris geweiht wurde,
von Paris nach Genf einladen. Aus den Knaben und Mädchen von Begnins
wurde ein gemischter Chor gebildet, der die Hymnen der armenischen Eucharistie
sang.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Armenier aus dem Libanon, Syrien,
dem Iran und Konstantinopel in der Schweiz eine neue Zuflucht suchten, nahm
die hiesige armenische Gemeinde an Zahl zu. Mit der Zeit wurde die Forderung,
eine eigene Kirche zu haben, spürbar. Das sichtbarste Zeichen armenischer
Präsenz in der Schweiz ist wohl die armenische Kirche in einem Vorort
von Genf, in Troinex, im typisch klassischen Stil der altarmenischen Kirchenarchitektur
vom Architekten Eduard Üttüdijian erbaut: kreuzförmiger Unterbau,
in der Mitte der 16-eckige Turm mit einem gefalteten Dach. Eingeweiht wurde
sie am 14. September 1969 durch den Pariser Erzbischof Serovpé Manoukian.
Die Armenier in der Schweiz hätten damals nie daran gedacht, eine solch
kostspielige Kirche für ihre kleine Gemeinde zu bauen, wenn nicht der
in Italien lebende Gönner Hagop Topalian zum Andenken an seine Eltern
einen grossen Betrag für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hätte
«unter der Bedingung, dass die Armenier in der Schweiz für den
Bauplatz, die innere Ausstattung und den zukünftigen Unterhalt sorgen».
Die gestiftete Summe reichte jedoch nicht aus, deshalb wurden die übrigen
Gelder von der armenischen Gemeinde selbst, von Einzelspendern und von verschiedenen
Stiftungen aufgebracht.
Die armenische Gemeinde trägt den Namen «Surp Hagop» (St.
Jakob) und wird vom Kirchenrat der armenischen Kirche in der Schweiz verwaltet.
Da die ganze Schweiz eine einzige armenische Kirchengemeinde bildet, trägt
ihr Pfarrer den Titel: Pfarrer der armenischen Kirche der Schweiz. Sowohl
die kirchlichen Autoritäten als auch die Gemeinde als solche ist jurisdiktionell
dem armenischen Patriarchaldelegaten von Westeuropa unterstellt, dessen
Sitz sich in Paris befindet. Durch letzteren wird die Verbindung mit der
geistlichen Autorität des Katholikos aller Armenier zu Etschmiadzin
bei Jerevan hergestellt.
Dr. Abel Oghlukian ist Pfarrer der armenischen Kirche der Schweiz.
Die Geschichte der Armenisch-Apostolischen Kirche lässt sich nicht
von der Geschichte des armenischen Volkes und den politischen und kulturellen
Ereignissen des Landes trennen; daher muss auch die Bibliographie zur Geschichte
der armenischen Kirche im Rahmen eines allgemeinen Literaturverzeichnisses
angeführt werden. Für das Studium der Geschichte der armenischen
Kirche ist das beachtliche Werk (Azgapatum = Geschichte der armenischen
Nation, nur in armenischer Sprache erhältlich) des Erzbischofs Malachia
Ormanian noch immer die einzige umfassende wissenschaftliche Studie.
A. Abeghian, Geschichte Armeniens, Stuttgart 1948; N. Akinian, Die Reihenfolge
der Bischöfe Armeniens des 3. und 4. Jahrhunderts (219439), in:
Analecta Bollandiana, Bd. 67, 1949; E. Bauer, Armenien Geschichte
und Gegenwart, Luzern 1977; B. Brentjes, Drei Jahrtausende Armenien, Leipzig
1973, Wien-München 1974, 1976; S. Der Nersessian, Armenia and the Byzantine
Empire, Cambridge 1965; H. Gelzer, Die Anfänge der armenischen Kirche,
1895; V. Inglisian, Chalkedon und die armenische Kirche, in: Das Konzil
von Chalkedon, Bd. 2, Würzburg 1953, 361416; J. Markwart, Über
den Ursprung des armenischen Alphabets in Verbindung mit der Biographie
des Hl. Mastoc, Wien 1917; D. Müller, Die Apostolische (Gregorianische)
Kirche Armeniens, in: F. Heyer, Konfessionskunde, Berlin 1977, 284308;
M. Ormanian, Azgapatum (Geschichte der armenischen Nation), III: Istanbul
19121913; III: Jerusalem 1972; K. Sarkissian, The Council of Chalcedon
and the Armenian Church, London 1965; K. Ter-Mekerttschian, Die Paulikianer
im byzantinischen Kaiserreiche und verwandte ketzerische Erscheinungen in
Armenien, Leipzig 1893; ders., Die Thondrakier in unseren Tagen, in: Zeitschrift
für Kirchengeschichte 16 (1896) 253276; A. Ter-Mikelian, Die Armenische
Kirche in ihren Beziehungen zur byzantinischen vom IV. bis zum XIII. Jahrhundert,
Leipzig 1892; E. Ter-Minassian, Die Armenische Kirche in ihren Beziehungen
zu den syrischen Kirchen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Leipzig 1904;
O. van der Vat, Die Anfänge der Franziskanermission und ihre Weiterentwicklung
im Nahen Orient und in den mohammedanischen Ländern während des
13. Jahrhunderts, Werl 1934.
V. Attarian, Le Génocide des Arméniens devant l'ONU, 1997; G. Bardakdjian, Hitler and the Armenian Genocide, Cambridge 1985; V. Dadrian, Autopsie du Génocide Arménien, 1995; ders., The history of the Armenian genocide. Ethnic conflicts from the balkans to Anatolia to the Caucasus, Oxford 1995; J. Lepsius, Der Todesgang des armenischen Volkes. Bericht über das Schicksal des armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges, Potsdam 1930; ders., Deutschland und Armenien 19141918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Berlin-Potsdam 1919; H. Morgenthau, Ambassador Morgenthau's Story, 1918; H. Stürmer, Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel. Skizzen deutsch-jungtürkischer Moral und Politik, Lausanne 1917; Y. Ternon, Les Arméniens. Histoire d'un Génocide, Paris 1977; R. Boyadjian (Hrsg.), Völkermord und Verdrängung. Der Genozid an den Armeniern die Schweiz und die Shoah, Zürich 1998; F. Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman, Wien 1933.