27-28/2001

INHALT

Kirche in der Schweiz

Die armenisch-apostolische Kirche in der Schweiz

von Abel Oghulkian

 

Die Geschichte der armenischen Kirche in der Schweiz hängt sehr eng mit jener grossartigen christlich-humanitären Hilfe zusammen, die das Schweizer Volk bereits vor 100 Jahren den leidgeprüften Armeniern in der Türkei geleistet hat. In der Schweiz wurde das Massaker von Sassun schon im Dezember 1894 bekannt, und über die blutigen Ereignisse von Konstantinopel im September-Oktober 1895 und die nachfolgenden schrecklichen Massaker in allen armenischen Provinzen wurde in den Tageszeitungen, vor allem in christlichen Blättern, berichtet.<1>
Der Initiator dieser Verfolgungen und Massaker war der «rote Sultan» Abdul Hamid II., der als der «grosse Meuchelmörder» in die Geschichte eingegangen ist. Er war der begabteste, aber auch der grausamste Sultan, den die Türkei seit Jahrhunderten gehabt hatte, ein Herrscher, der skrupellos über Leichen ging, auch über die seiner Verwandten und Freunde. Er war sehr feige und misstrauisch. Zudem hatte er einen abgrundtiefen Hass gegen alles Armenische, gewiss aus einem Mutterkomplex, aus Erbitterung darüber, dass er kein reiner Türke war, sondern von einer armenischen Haremsklavin abstammte.
Bereits im Oktober und im November 1895 erschienen die ersten kurzen Artikel über die Armenierprogrome in der Türkei in der «Gazette de Lausanne» und im «Journal de Genève». Das «Journal réligieux des Eglises Indépendantes de la Suisse Romande» in Neuenburg brachte am 16. November 1895 den ersten Aufruf zu einer Sammlung für die Armenier in der Türkei unter dem Titel «Nouveaux massacres», verfasst von Pfarrer E. Jaccard in Zürich. Im gleichen Blatt erschien am 28. Dezember 1895 unter dem Titel «Les massacres en Arménie» der erste einer ganzen Reihe von Artikeln über Armenien von Prof. Georges Godet.

Die Armenierhilfe in der Schweiz

Der eigentliche Anstoss zu einer schweizerischen Armenierhilfe kam von Neuenburg durch die Initiative eines Einzelnen, des Pfarrers Edouard Rosselet. Am 4. März 1896 wurde in der Stiftskirche von Neuenburg eine Konferenz der Pfarrer der «Eglise Indépendante» gehalten. In dieser Konferenz wurde beschlossen, ein Aktionskomitee unter der Leitung von Prof. Georges Godet zu bilden. Das Protokoll jener Sitzung erwähnt: «Herr Edouard Rosselet ist tief erschüttert durch einen Artikel im ÐJournal des Missions Evangéliques de Parisð über die Massaker in Armenien. Er glaubt, Gott wolle sich nicht der Grossmächte bedienen, um dieser unglücklichen Bevölkerung zu Hilfe zu kommen, sondern der geistlichen Mächte, die er im Schosse der Kirche finden muss. Vereinigen wir uns mit den Amtsbrüdern der ÐEglise nationaleð, um auf die Kirchen der ganzen Schweiz einzuwirken und eine Bewegung zugunsten der verfolgten Christen auszulösen.»
Alle Konferenzteilnehmer waren sich darüber einig, für diesen Zweck einen wirksamen Weg auszuwählen: Aufklärung der öffentlichen Meinung durch Zeitungsartikel und einen Appell an das Gewissen der Schweizer. Prof. Godet wurde gebeten, eine Broschüre über die Massaker in Armenien zu verfassen. Das war die eigentliche Geburtsstunde der schweizerischen Armenierhilfe.
Die Broschüre von Prof. Georges Godet erschien bereits im April 1896 unter dem Titel «Les Souffrances de l'Arménie» und fand enorme Beachtung. Durch diese Schrift und seine monatlichen Artikel im «Journal réligieux» wurde Godet der erste Organisator der schweizerischen Armenierhilfe. Schon am 1. April 1896 erliess das Zentralkomitee der Evangelischen Allianz in Lausanne einen dringenden Appell zugunsten der leidgeprüften Armenier. Im April und im Mai verfügten verschiedene Kirchenbehörden Fürbittgebete von allen Kanzeln sowie Kirchenkollekten für die Armenier. Bald kam es zu Sammlungen in der ganzen Schweiz durch die Kirchen, durch Presse und Privatpersonen und vor allem durch die neu gegründeten lokalen Hilfskomitees für Armenien.
Das zweite Massaker in der Provinz Van vom 14. bis 22. Juni 1896 und besonders das zweite Massaker in Konstantinopel vom 25. bis 28. August 1896, denen Tausende Armenier zum Opfer fielen, lösten in der Schweiz eine ungeheure Welle der Empörung aus. Es kam zu gewaltigen Protestkundgebungen, deren grösste am 7. September 1896 in Lausanne im Hôtel de Ville unter dem Vorsitz des Rektors der Universität Lausanne, des Theologieprofessors E. Combe, stattfand. Der Rektor der «Gazette de Lausanne», Albert Bonnard, ein sehr bedeutender Journalist, forderte in seiner Rede die Versammlung auf, eine grosse Protestkundgebung in der ganzen Schweiz auszulösen. Die Versammlung fasste den Beschluss, ein Komitee zu bilden mit der Aufgabe, eine Kundgebung des ganzen Schweizer Volkes zu veranlassen und eine Bittschrift an den Bundesrat zu verfassen, damit dieser die Willenskundgebung des Schweizer Volkes allen europäischen Grossmächten zur Kenntnis bringe.
Die Lausanner Kundgebung fand eine ausserordentliche Beachtung in der Schweizer Presse, die den Aufruf zu einer Unterschriftensammlung warm unterstützte. Schon am 10. Oktober machte das Komitee von Lausanne die erste Eingabe an den Bundesrat mit 113653 Unterschriften. Sodann trat am 28. Februar 1897 der Präsident des Zürcher Komitees, Prof. K. Furrer, brieflich an den Bundespräsidenten Dr. Adolf Deucher mit der Bitte heran, die Abgeordneten der Armenierhilfe zwecks Übergabe der gesammelten Listen zu empfangen. Am 4. März 1897 wurde die Delegation der Armenierhilfe vom Bundespräsidenten empfangen. Der Sprecher der Delegation, Prof. K. Furrer, bemerkte in seiner Ansprache: «Diese 433080 Unterschriften von Schweizern und Schweizerinnen sind der Ausdruck der Entrüstung und des tiefen Schmerzes über die entsetzlichen Greueltaten, die an dem christlichen Volk der Armenier begangen wurden. Wir kennen keinen Nationalhass und keine Nationalfeinde. Darum dürfen wir erwarten, dass, wenn das Gewissen unseres Volkes durch Hunderttausende von Stimmen laut wird, niemand uns selbstsüchtige Motive unterschieben kann. Unser Volk fühlt sich zu einer grossen Kundgebung heiligen Zorns und innigen Erbarmens gedrängt. Das muss auf die übrigen Völker Europas Eindruck machen.»
Der ursprüngliche Gedanke bei der Protestversammlung in Lausanne und in den anderen Städten der Schweiz war, durch Unterschriften aus der ganzen Schweiz dem Volkswillen ein derart starkes Gewicht zu geben, dass der Bundesrat diesen Protest bei den europäischen Grossmächten vorbringen konnte. Mit Rücksicht auf die politische Neutralität der Schweiz wollte der Bundesrat aber nicht darauf eingehen. Auf alle Fälle kann es dem Bundesrat nach dieser gewaltigen Kundgebung des Schweizer Volkes nicht leicht gefallen sein, Sultan Abdul Hamid II. am 31. August 1900 anlässlich des 25. Regierungsjubiläums ein Glückwunschtelegramm zu senden. Die Unterschriftensammlung und überhaupt die ganze Aktion war trotzdem sinnvoll, denn als Folge entstand ein allgemeines Interesse am Schicksal der Armenier, das seinen Ausdruck in einer überraschend starken Hilfsbereitschaft des Schweizer Volkes fand.
Die grossen zur Verfügung stehenden Mittel erlaubten die Übernahme bestimmter Hilfsstellen in der Türkei. Dadurch wurde eine umfangreiche Waisenbetreuung einschliesslich der Gründung von verschiedenen Waisenhäusern, Spitälern und Hilfsstellen in Sivas, Brussa, Bardezag, Urfa und in anderen Ortschaften Armeniens ermöglicht. Es seien hier nur einige prominente Namen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in der Armenierhilfe erwähnt: Leopold Favre, Karl Schenkel, Georges Godet, Wilhelm Vischer-Iselin, Jakob Künzler, Elisabeth Künzler, Karl Meyer, Martha Meyer, Max Müller, Anna Schweizer, Johannes Spörri, Katharina Stucky, Oeri Vischer, Gertrud Vischer, Theodor Wieser und der unvergessene Pfarrer Antony Krafft-Bonnard.
Nach der Niederlage der Türkei im ersten Weltkrieg war die Zeit für die Errichtung eines freien armenischen Staates auf dem uralten Heimatboden der Armenier im Territorium des türkischen Staates gekommen ­ selbstverständlich unter dem Patronat der siegreichen Alliierten ­, damit dem durch die Türkenherrschaft geschaffenen Elend dieses Volkes ein Ende gesetzt werde. Damals wäre dies noch möglich gewesen, denn das Ansehen der Sieger war so gross und die türkische Armee dermassen demoralisiert, dass in jener Zeit alles hätte erreicht werden können. Aber die Alliierten waren derart mit ihren europäischen Problem beschäftigt und zudem noch untereinander uneins, dass kostbare Wochen und Monate vergingen, ohne dass das türkische Problem gelöst worden wäre.
Dagegen hat ein anderer das türkische Problem richtig erkannt und die Zeit gut ausgenützt: Mustafa Kemal, der später von den Türken Ata-Türk genannt wurde, was soviel wie «Vater der Türken» bedeutet. Er verstand es meisterhaft, aus der Rivalität der Alliierten und ihrer militärischen Schwäche Nutzen zu ziehen und die türkische Armee nach und nach wieder zu organisieren. Er berief im Juni und im August 1919 Nationalversammlungen nach Erzurum und Sivas ein und gründete im September die türkische Republik. Er nahm Kontakte mit Sowjetrussland auf und erhielt von dort 300000 Goldpfund «zum Kampf gegen die kapitalistischen Länder». Durch europäische Waffenhändler liess er dann grosse Mengen an Waffen, Munition, Kleidern, Schuhen, Wäsche und anderem aufkaufen. Er gab die Parole aus: «Die Türkei den Türken! Nicht ein Zollbreit unseres Bodens darf an die Armenier oder irgendeinen anderen Staat abgetreten werden!» Er vertrieb 1921/1922 die Griechen, setzte den letzten Sultan, Mohammed VI., ab und zerriss den von der alten Regierung unterzeichneten Friedensvertrag von Sèvres (10. August 1920). Ja, die siegreichen Alliierten mussten sich bequemen, nach der griechischen Katastrophe von Smyrna (1922) mit der neuen nationalistischen Regierung zu verhandeln und den stark abgeänderten Vertrag von Lausanne (1923) zu unterzeichnen, in dem Armenien überhaupt nicht mehr erwähnt wurde.
Was die jungtürkische Regierung durch einen blutigen Genozid an den Armeniern begonnen hatte, wurde unter Kemal Atatürk bis zu einer Endlösung der armenischen Frage fortgesetzt. Noch Tausende Überlebende des armenischen Genozids wurden nach und nach in Marasch, Adana, Hadjin, Sis und in fast allen südtürkischen und kilikischen Städten auf bestialische Weise umgebracht.
Kilikien stand damals noch unter dem Protektorat Frankreichs. Nach dem Abzug der englischen Truppen aus der Türkei hatte die französische Armee alle Angriffe der Kemalisten auszuhalten. Unzählige französische Soldaten und Offiziere verloren ihr Leben, und der Krieg gegen die Kemalisten verschlang immer wieder grosse Summen. Das veranlasste Frankreich, mit den Kemalisten direkte Verhandlungen zu führen. So kam es schliesslich zum «Französisch-Türkischen Freundschaftsvertrag» von Angora (20. Oktober 1921), in dem Frankreich auf Kilikien verzichtete und seine Truppen zurückzog. Das hatte zur Folge, dass sich ein Flüchtlingsstrom von über 150000 Armeniern nach Syrien und in den Libanon ergoss. Der völlige Rückzug Frankreichs aus Kilikien war für die Armenier eine bittere Enttäuschung und wurde von ihnen als Treubruch und Verrat empfunden.

Die Armenier in der Schweiz

Seit den Tagen der blutigen Massaker unter Sultan Abdul Hamid II. hatten Armenier in der Schweiz Zuflucht gesucht und gefunden. Während des Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach kamen mehrere armenische Flüchtlinge ­ unter ihnen einige lungenkranke Menschen ­ in die Schweiz, um dort von verschiedenen Hilfsorganisationen betreut zu werden. Die allgemeine Lage und die Unterbringung der in Genf und Lausanne verstreut lebenden, bedürftigen Armenier sah jedoch nicht sehr tröstlich aus, da sich der Plan einer besonderen Flüchtlingshilfskasse damals nicht verwirklichen liess.
Doch da zeigte sich im Frühjahr 1921 eine unerwartete Lösung: In Begnins bei Nyon am Genfer See war eine ehemalige Pension zu verkaufen. Mit 21 Zimmern stellte sie eine geräumige und behagliche Wohnstätte dar. Der Eigentümer verlangte dafür Fr. 52500.­. Pfarrer Antony Krafft-Bonnard machte dem Zentralkomitee den Vorschlag, dieses Haus zu kaufen. Niemand ging darauf ein, eine solche Summe in ein Haus zu investieren, während die Not der Waisen und der Bedürftigen in der Türkei sehr gross war. Da niemand die Verantwortung für die armenischen Flüchtlinge in der Schweiz übernehmen wollte, blieb nur die Bildung einer besonderen Gesellschaft. So kam es am 21. Juni 1921 zur Gründung der Gesellschaft «Le Foyer Arménien». An der Delegiertenversammlung in Biel vom 23. Januar 1922 wurde dann das erwähnte Projekt in Begnins gutgeheissen und beschlossen.
Am 13. Juli 1921 konnte das «Foyer» mit 46 heimatlosen Armeniern eröffnet werden. Das «Foyer» bestand bis zum 30. November 1922 in Begnins und wurde dann nach Genf verlegt, denn dieses Haus in Begnins wurde gebraucht für die Unterbringung der aus Konstantinopel geflüchteten armenischen Kinder des dortigen schweizerischen Waisenhauses.
Nach der Katastrophe von Smyrna wurde die Lage nämlich auch in Konstantinopel sehr kritisch durch den zunehmenden Druck der Kemalisten und ihre Feindschaft gegen die Armenier. So kam es zum Entschluss, die Waisenbetreuung in der Türkei einzustellen und mit den Waisen in die Schweiz zu flüchten. Mit Hilfe der amerikanischen «Near East Relief» überwies das schweizerische Zentralkomitee telegrafisch das Reisegeld mit der definitiven Anweisung, Konstantinopel sofort zu verlassen. Das Zentralkomitee ist mit diesem Vorgehen nicht allein geblieben. Fast zur gleichen Zeit überführten die englische und die amerikanischen Hilfswerke 750 Schützlinge nach Korfu.
Am 19. November verliessen 41 Waisenkinder, 7 Angestellte und 2 Lehrerinnen Konstantinopel mit einem Schiff, das sie nach Marseille brachte. Von dort reisten sie nach Genf und kamen am 1. Dezember 1922 in Begnins, ihrem neuen Zufluchtsort, an.
Dieser Auszug aus Konstantinopel war ein sehr kleines Ereignis gegenüber dem riesigen Exodus, der sich seit April 1922 vollzog: Zuerst die Evakuierung von 25000 armenischen und griechischen Waisenkindern des «Near East Relief» in den Kaukasus, nach Persien, Griechenland, Syrien, in den Libanon und nach Palästina. Dann die Vertreibung und Flucht von 1050000 Griechen nach der Katastrophe von Smyrna. Unter ihnen befanden sich auch Zehntausende von Armeniern.
Vom Jahr 1919 an hatten die Amerikaner in Anatolien über 30000 christliche Waisenkinder in 70 Waisenhäusern gesammelt. Die türkischen Behörden verlangten dann, dass ihnen für je ein Christenkind, das sie im Lande duldeten, die Unterhaltskosten für ein moslemisches Waisenkind ausbezahlt würden. Anfänglich ging man darauf ein, später aber stellte man fest, dass der grösste Teil der ausbezahlten Gelder in die Taschen der korrupten türkischen Beamten geflossen war.
Als der Unterhalt armenischer Waisenkinder auf diese Weise zu teuer wurde, fasste die Leitung des «Near East Relief» den Beschluss, alle Waisenhäuser in der Türkei aufzulösen und die Kinder ausser Landes zu bringen. Von April bis November 1922 erfolgte der systematische Abtransport von etwa 17000 Kindern nach Griechenland und von etwa 8000 Kindern nach Syrien.
Als die Übersiedlung der Waisenkinder von Konstantinopel beschlossen war, musste das Flüchtlingsheim von Begnins nach Genf verlegt werden, da das «Foyer» nun Waisenhaus werden sollte. Für die Flüchtlinge war Genf besser geeignet als Begnins, im Hinblick auf Arbeitsmöglichkeiten, Besuch von Kursen und verschiedene Schultypen für Kinder.
Aufgenommen wurden in Begnins von 1922 bis 1930 im Ganzen 142 Waisenkinder: 101 Knaben und 41 Mädchen. Durch das Genfer Heim gingen von 1922 bis 1930 insgesamt 101 Schüler: 72 kamen von Begnins, 29 traten direkt in Genf ein. Im Flüchtlingsheim in Genf wurden insgesamt 85 armenische Flüchtlinge, Witwen und Waisen, Alte, Kranke, gebrechliche und arbeitslose Menschen aufgenommen und unterstützt.
Sehr oft erhielt das Zentralkomitee in Genf Anfragen von Unterstützern, die die Waisen in ihre Familie aufnehmen oder auch adoptieren wollten. Aufgrund ungünstiger Erfahrungen wurden diese Bitten im Interesse der Kinder zurückgewiesen. Die Verpflanzung solcher Kinder in schweizerische Familien mit ihren ganz anderen Lebensverhältnissen hatte sich für ihre Entwicklung meist nicht als günstig erwiesen. Auch bei guter Erziehung hatten die Kinder eine gespaltene Seele: Ihrer Herkunft nach Armenier, der Erziehung nach Schweizer, trugen sie zwei Seelen in ihrer Brust, waren innerlich zerrissene Menschen und wussten eigentlich nie recht, wohin sie gehörten und was sie wirklich waren. Diese ganz humane und beispielhafte Entscheidung des Zentralkomitees war die Geburtsstunde der Armenischen Gemeinde in der Schweiz.
Die Kinder in Begnins bekamen durch armenische Lehrer und Erzieher neben dem französischen hauptsächlich auch armenischen Unterricht: Sprache, Religion, Geschichte und Kultur, was zur weiteren Ausbildung des armenischen Bewusstseins beitragen sollte. Der Grundgedanke von Pfarrer Antony Krafft-Bonnard war, armenische Zöglinge so auszubilden, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren und ihrem Volk als Führer dienen könnten. Er glaubte fest daran, dass Armenien wieder auferstehen müsste, als Resultat einer Forderung der Gerechtigkeit, auf die er sich immer wieder in Wort und Schrift berief. Leider vergebens. Nach dem Vertrag von Lausanne und erst recht nach der Aufnahme der Türkei in den Völkerbund in Genf (1932) wurde es jedem realistisch Denkenden bewusst: Die Hoffnung auf eine politische Lösung der armenischen Frage musste begraben werden. Für die Armenier gab es keine «Rückkehr in ihre Heimat» mehr. Und das war das Schmerzhafte im Leben von Antony Krafft-Bonnard. Er vermochte sich nicht mit der grausamen Tatsache abzufinden, dass seine Zöglinge Kinder eines «betrogenen Volkes» geworden waren.
Wie viele Waisenkinder durch die beiden Heime in Begnins und Genf gegangen sind, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Pfarrer Antony Krafft-Bonnard berechnete ihre Zahl im Jahre 1939 auf 250 Knaben und Mädchen. Während in den folgenden Jahren eine Mehrzahl von ihnen in verschiedene europäische Länder, auch nach Sowjetarmenien, in die USA und Kanada auswanderte, lebte ein wichtiger Kern von diesen ehemaligen Waisenkindern in der Schweiz weiter und bildete den Grundstock der schweizerisch-armenischen Gemeinde.

Armenische Präsenz in Genf

Zu den oben erwähnten Tatsachen muss noch hinzugefügt werden, dass während der Anfänge der armenischen Präsenz in der Schweiz mehrere armenische Studenten an den Universitäten von Basel, Zürich, Freiburg, Lausanne und Genf studierten. Einige beliebte Schriftsteller und prominente Persönlichkeiten wie Rouben Sevak, Avetik Isahakian, Derenik Demirjian, Krikor Artzrouni und der spätere Katholikos Khoren I. Mouradbekian haben ihre Hochschulbildung auf schweizerischen Universitäten empfangen. 1887 wurde in Genf von einigen marxistisch orientierten Studenten wie Avetis Nazarbek, Maro Nazarbek, Rouben Khanzad, Gabriel Kafayian und anderen die armenisch-politische Partei der Huntschakisten gegründet. Bis zum Jahr 1891 wurde in Genf das politische Organ der Huntschakisten «Huntschak» herausgegeben.
Bald nach ihrer Gründung (1890) in der georgischen Hauptstadt Tiflis hatte auch die Partei der «Armenischen Revolutionären Förderation» eine Niederlassung in Genf, wo 1891 bis 1914 ihr offizielles Organ «Droschak» gedruckt wurde.
1907 gründeten die armenischen Studenten in Lausanne die Studentenvereinigung «Armenia». 1914 wurde für den Dienst der armenischen Studenten eine kulturelle Nachrichtenagentur unter dem Namen «Teghekatu Büro» gegründet. 1896 wurde die erste armenische Schule durch Retheos Berberian in Genf eröffnet. 1904 errichtete Martiros Nalbandian aus eigenen Mitteln in Lausanne ein Sonderinternat «Haykazian Varjaran» für armenische Studenten. Die Existenz und der Nutzen dieser Schulen waren von kurzer Dauer, da zu der Zeit weder eine bedeutende Anzahl von Armeniern noch eine sesshafte armenische Gemeinde in der Schweiz organisiert war.
Die ersten Liturgien wurden in Genf erst nach 1925 gefeiert. Es wurde ein kleiner Kirchenrat unter der Führung von Setrak Papazian gebildet, um die liturgischen Feiern zu organisieren. Da das liturgische Verständnis der Armenier von einer Eucharistiefeier dem evangelischen nicht ganz entsprach und ausserdem die evangelischen Kirchen keinen für eine armenisch-apostolische Eucharistiefeier erforderlichen Altar hatten, entschied man sich gleich aufgrund verschiedener Überlegungen, die heilige Liturgie im «Salle Centrale» zu feiern. Da dieses Gebäude mit einer entsprechenden Bühne ausgestattet war, brauchte man dazu nur noch einen beweglichen Altar zu konstruieren. Anfänglich wurden die hl. Messen nur zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, gefeiert. Dazu musste man den Vardabet Vramschpouh Kibarian, der später zum Bischof von Paris geweiht wurde, von Paris nach Genf einladen. Aus den Knaben und Mädchen von Begnins wurde ein gemischter Chor gebildet, der die Hymnen der armenischen Eucharistie sang.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Armenier aus dem Libanon, Syrien, dem Iran und Konstantinopel in der Schweiz eine neue Zuflucht suchten, nahm die hiesige armenische Gemeinde an Zahl zu. Mit der Zeit wurde die Forderung, eine eigene Kirche zu haben, spürbar. Das sichtbarste Zeichen armenischer Präsenz in der Schweiz ist wohl die armenische Kirche in einem Vorort von Genf, in Troinex, im typisch klassischen Stil der altarmenischen Kirchenarchitektur vom Architekten Eduard Üttüdijian erbaut: kreuzförmiger Unterbau, in der Mitte der 16-eckige Turm mit einem gefalteten Dach. Eingeweiht wurde sie am 14. September 1969 durch den Pariser Erzbischof Serovpé Manoukian.
Die Armenier in der Schweiz hätten damals nie daran gedacht, eine solch kostspielige Kirche für ihre kleine Gemeinde zu bauen, wenn nicht der in Italien lebende Gönner Hagop Topalian zum Andenken an seine Eltern einen grossen Betrag für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hätte «unter der Bedingung, dass die Armenier in der Schweiz für den Bauplatz, die innere Ausstattung und den zukünftigen Unterhalt sorgen». Die gestiftete Summe reichte jedoch nicht aus, deshalb wurden die übrigen Gelder von der armenischen Gemeinde selbst, von Einzelspendern und von verschiedenen Stiftungen aufgebracht.
Die armenische Gemeinde trägt den Namen «Surp Hagop» (St. Jakob) und wird vom Kirchenrat der armenischen Kirche in der Schweiz verwaltet. Da die ganze Schweiz eine einzige armenische Kirchengemeinde bildet, trägt ihr Pfarrer den Titel: Pfarrer der armenischen Kirche der Schweiz. Sowohl die kirchlichen Autoritäten als auch die Gemeinde als solche ist jurisdiktionell dem armenischen Patriarchaldelegaten von Westeuropa unterstellt, dessen Sitz sich in Paris befindet. Durch letzteren wird die Verbindung mit der geistlichen Autorität des Katholikos aller Armenier zu Etschmiadzin bei Jerevan hergestellt.

 

Dr. Abel Oghlukian ist Pfarrer der armenischen Kirche der Schweiz.


Anmerkung

1 Literatur zur Geschichte der Armenisch-Apostolischen Kirche

Die Geschichte der Armenisch-Apostolischen Kirche lässt sich nicht von der Geschichte des armenischen Volkes und den politischen und kulturellen Ereignissen des Landes trennen; daher muss auch die Bibliographie zur Geschichte der armenischen Kirche im Rahmen eines allgemeinen Literaturverzeichnisses angeführt werden. Für das Studium der Geschichte der armenischen Kirche ist das beachtliche Werk (Azgapatum = Geschichte der armenischen Nation, nur in armenischer Sprache erhältlich) des Erzbischofs Malachia Ormanian noch immer die einzige umfassende wissenschaftliche Studie.
A. Abeghian, Geschichte Armeniens, Stuttgart 1948; N. Akinian, Die Reihenfolge der Bischöfe Armeniens des 3. und 4. Jahrhunderts (219­439), in: Analecta Bollandiana, Bd. 67, 1949; E. Bauer, Armenien ­ Geschichte und Gegenwart, Luzern 1977; B. Brentjes, Drei Jahrtausende Armenien, Leipzig 1973, Wien-München 1974, 1976; S. Der Nersessian, Armenia and the Byzantine Empire, Cambridge 1965; H. Gelzer, Die Anfänge der armenischen Kirche, 1895; V. Inglisian, Chalkedon und die armenische Kirche, in: Das Konzil von Chalkedon, Bd. 2, Würzburg 1953, 361­416; J. Markwart, Über den Ursprung des armenischen Alphabets in Verbindung mit der Biographie des Hl. Mastoc, Wien 1917; D. Müller, Die Apostolische (Gregorianische) Kirche Armeniens, in: F. Heyer, Konfessionskunde, Berlin 1977, 284­308; M. Ormanian, Azgapatum (Geschichte der armenischen Nation), I­II: Istanbul 1912­1913; III: Jerusalem 1972; K. Sarkissian, The Council of Chalcedon and the Armenian Church, London 1965; K. Ter-Mekerttschian, Die Paulikianer im byzantinischen Kaiserreiche und verwandte ketzerische Erscheinungen in Armenien, Leipzig 1893; ders., Die Thondrakier in unseren Tagen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 16 (1896) 253­276; A. Ter-Mikelian, Die Armenische Kirche in ihren Beziehungen zur byzantinischen vom IV. bis zum XIII. Jahrhundert, Leipzig 1892; E. Ter-Minassian, Die Armenische Kirche in ihren Beziehungen zu den syrischen Kirchen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Leipzig 1904; O. van der Vat, Die Anfänge der Franziskanermission und ihre Weiterentwicklung im Nahen Orient und in den mohammedanischen Ländern während des 13. Jahrhunderts, Werl 1934.

Selektive Bibliographie zur Geschichte des armenischen Genozids

V. Attarian, Le Génocide des Arméniens devant l'ONU, 1997; G. Bardakdjian, Hitler and the Armenian Genocide, Cambridge 1985; V. Dadrian, Autopsie du Génocide Arménien, 1995; ders., The history of the Armenian genocide. Ethnic conflicts from the balkans to Anatolia to the Caucasus, Oxford 1995; J. Lepsius, Der Todesgang des armenischen Volkes. Bericht über das Schicksal des armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges, Potsdam 1930; ders., Deutschland und Armenien 1914­1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Berlin-Potsdam 1919; H. Morgenthau, Ambassador Morgenthau's Story, 1918; H. Stürmer, Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel. Skizzen deutsch-jungtürkischer Moral und Politik, Lausanne 1917; Y. Ternon, Les Arméniens. Histoire d'un Génocide, Paris 1977; R. Boyadjian (Hrsg.), Völkermord und Verdrängung. Der Genozid an den Armeniern ­ die Schweiz und die Shoah, Zürich 1998; F. Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman, Wien 1933.


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