5/2001

INHALT

Kirche in der Schweiz

850 Jahre Bischof Adalgott

von Bruno Hübscher

 

Im Jahre 2001 stehen im Bistum Chur zwei bedeutende Jubiläen bevor: 1550 Jahre seit dem ersten urkundlichen Zeugnis eines Bischofs von Chur. Das Synodalschreiben von Bischof Eusebius von Mailand an Papst Leo I. erwähnt Asinio, den Bischof von Chur, in der Unterschriftenliste. Das zweite Jubiläum ist die Bischofsweihe des heiligen Adalgott von 1151.
Im Rahmen einer bescheidenen Feierlichkeit sollen diese Jubiläen im Dezember 2001 zum Hochfest des heiligen Bekenners Luzius, vorverschoben auf den 1. Dezember, begangen werden. Ausserdem wird von Professor Dr. Michael Durst eine erste, für eine allgemeine Leserschaft verfasste Schrift zur Bistumsgeschichte veröffentlicht. Ebenso gehört der folgende Artikel von Archivar Dr. Bruno Hübscher über den heiligen Adalgott, dessen Gedenktag der 4. Februar ist, zur Ausgestaltung des Jubiläums.

Dank einer ausgesprochen glücklichen Fügung wurde im ältesten erhalten gebliebenen Jahrzeitenbuch C des Bistums Chur<1> der Tag der Bischofsweihe von vier aufeinanderfolgenden Bischöfen, und nur von ihnen, in der langen Reihe eingetragen; es sind Konrad I. von Biberegg im heutigen bayrischen Oberschwaben (1123 bis mindestens 1145), Konrad II. (frühestens 1145 bis 1150), Adalgott (frühestens 1150 bis 1160), Egino (frühestens 1160 bis etwa 1170). Vor der Weihe wurde ein Bischof in den lateinischen Urkunden «Electus» (= Gewählter) genannt, was Jahre dauern konnte. Die vier Einträge zeigen zusätzlich: die vier Bischofsweihen geschahen an einem Sonntag,<2> nämlich bei Konrad I. am 2. Sonntag nach Ostern, 29. April 1123, bei Konrad II. am 18. Juli, wahrscheinlich am 7. Sonntag nach Pfingsten 1148, bei Adalgott am 5. Sonntag nach Erscheinung des Herrn, 4. Februar 1151,<3> bei Egino am Weissen Sonntag, 16. April 1167;<4> er könnte über sechs Jahre Electus gewesen sein! Ebenso lässt sich denken, Adalgott, Zisterziensermönch und Schüler des hl. Bernhard in Clairvaux, sei 1150 zum Churer Bischof gewählt oder ernannt worden, also gut einen Monat vor der Weihe, da sein Vorgänger Konrad II. am 27. März gestorben war. Adalgott blieb bis heute der einzige Vertreter aus dem damals noch jungen Zisterzienserorden, war aber nicht der erste und letzte Mönch auf dem Churer Bischofsstuhl: vor ihm waren es Hartmann I. (1030?/1039?), Benediktiner von Einsiedeln, Heinrich I. (1070?/1078?), Benediktiner von der Insel Reichenau; nach Adalgott waren es zwei Benediktiner von St. Gallen: Ulrich III. von Tegerfelden (1170?/1179) und Rudolf von Güttingen (1224/1226); in der Neuzeit zwei Benediktiner von Einsiedeln: Kaspar II. Willi (1877/1879) und heute Amédée Grab (seit 1998). Den so genannten Bettelorden entstammten der Dominikaner und päpstliche Pönitentiar Heinrich III. von Montfort (1251/1272) und der Augustiner-Eremit und päpstliche Pönitentiar Ulrich V. (Ribi) (1331/1355).<5> Als Churer Weihbischöfe amteten im Mittelalter mindestens dreizehn Ordensleute: je ein Prämonstratenser, Deutschritter, Johanniter, Augustiner-Eremit, vier Dominikaner und fünf Barfüsser.<6>
Sehr wahrscheinlich weihte gemäss seiner Befugnis als Erzbischof in Mainz der Grafensohn Heinrich von Wartburg (1142/1153) Adalgott zum Bischof von Chur, welches Bistum das südlichste, höchstgelegene, wegen seiner Pässe nach Italien für Kaiser und Könige ein wichtiges, aber im Vergleich zu den übrigen vierzehn Bistümern (Augsburg, Bamberg, Eichstätt, Halberstadt, Hildesheim, Konstanz, Olmütz, Paderborn, Prag, Speyer, Strassburg, Verden, Worms, Würzburg) eher das ärmste des ausgedehnten Erzbistums war, das vom Misox jenseits der Alpen bis zur Elbe im Norden reichte.<7>
Schon die erste erhalten gebliebene Urkunde zeigt Bischof Adalgott als Zeuge bei einer Klostergründung beteiligt, wodurch der Mainzer Erzbischof (vor dem 13.3.1151) Altenburg bestätigt.<8> Das trifft sich gut, denn Adalgott hatte das Bischofsamt übernommen «zum Nutzen der Klöster und zum Wohl der Armen», wie er es schriftlich wissen lässt in der Urkunde (9.3.1153/8.3.1154) für das noch junge Prämonstratenserkloster St. Luzi in Chur.<9> Nicht nur dieses Kloster, sondern auch Cazis (GR), Schänis (SG), Müstair (GR) und besonders die von Schuls im Unterengadin nach Marienberg im südtirolischen Vinschgau verpflanzte Benediktinerabtei spürten den wohlwollenden Helferwillen eines Heiligen.
Der 800-jährige Todestag (3.10.1160) wurde am 2. Adventssonntag 1960 feierlich begangen: Nuntius Alfredo Pacini hielt das Pontifikalamt, Bischof Christianus Caminada feierte mit, Weihbischof Johannes Vonderach hielt die Festpredigt, Dr. Pater Iso Müller OSB hatte rechtzeitig eine 28-seitige Lebensbeschreibung herausgebracht, die Giusep Pelican im Amtsblatt des Bistums Chur «Folia Officiosa» auf vier Seiten für die Geistlichkeit zusammenfasste. Es ist darum sicher nicht übertrieben, wenn man am 4. Februar 2001 unsern «guten heiligen Adalgott»<10> feiert, der schon bei Lebzeiten als «verehrungswürdig an Alter, Weisheit und Gnade» bezeichnet wurde und dem wir wahrscheinlich den Bauplan der heutigen «Adalgott-Kathedrale» verdanken. Schön wäre, wenn der Heilige ein Gotteshaus mit seinem Namen bekäme, so wie es seinerseits für den hl. Garinus, Mitbruder Adalgotts als Zisterzienser aus Clairvaux und als Bischof, das Walliser Bistum in Sitten getan hat.


Anmerkungen

1 Einträge bis 1290 gemäss Wolfgang Von Juvalt: Necrologium Curiense... Chur 1867, S. XI.

2 Im Bistum Konstanz finde ich im 12. Jahhundert keinen Bischofsweihetag, in Basel (Helvetia Sacra I, Bd. 1, S. 172) nur Adalbero III. am l. Vorfastensonntag, 11. Februar 1134.

3 Im ursprünglichen Umfang des Jahrzeitenbuches steht auf dem Pergamentblatt 4r unten und dadurch beim Gebrauch äusserst stark gebraucht, rot, mit breiter Feder, von einer Hand mit leicht schrägen Schäften geschrieben, die sonst nicht mehr vorkommt: Ordinatio domini adalgoti hui(us)// ecclesi_e e(pisco)pi anno d(omi)nice incarn(ationis) M.C.LI. Wegen der Abnützung, 2 bis 0,1 cm vom rechten Rand entfernt, ging der untere Teil des «C» und des «I» sowie der letzte Punkt verloren. Schon Von Juvalt schlug das Jahr 1151 vor, weil der Vorgänger Konrad II. erst am 27. März 1150 gestorben war. Als wichtige Stütze kommt hinzu: alle 26 Churer Bischöfe, deren Weihetag durch die Helvetia Sacra, S. 475 bis 503, bekannt ist, wurden an einem Sonntag geweiht; ebenso die zwei Nachfolger Wolfgang Haas und Amédée Grab.

4 Nur Eginos wird auch im Jahrzeitenbuch D (±1190/1369) gedacht, weil er 12 Mütt Korn gestiftet hatte, damit man des Weihetages und nach dem Hinschied seiner gedenke, s. Von Juvalt (wie Anm. 1) S. 38.

5 Vgl. die Reihe der Bischöfe in Helvetia Sacra, Abt. I, Bd. 1, S. 473/503.

6 Ebd., S. 506/510.

7 Vgl. Helvetia Sacra, Abt. I, Bd. 2, Teil 2 (Basel 1993), S. 985, 960/962.

8 Bündner Urkundenbuch, Bd. 1, S. 236, Nr. 322. Das Benediktinerkloster Altenburg wurde im ehemaligen Römerkastell 4,5 km südwestlich von Lich (Hessen) gegründet, gedieh nicht, und wurde von Konrads Sohn Kuno 1174 durch ein Zisterzienserkloster drunten an der Wetter anstelle der väterlichen Arnsburg ersetzt (aufgehoben 1803); s. Backes, Magnus (Bearb.): Hessen. = Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler (Dehio), München 21982, S. 23f.

9 Ebd., S. 239f., Nr. 330.

10 32. Strophe des romanischen St. Adalgott-Liedes: «car sogn Adelgott».


Für ein Christentum der Compassion

von Rolf Weibel

 

Nachdem der Philosoph Jürgen Habermas den Pluralismus der Religionen und Kulturen in seiner Gastvorlesung an der Universität Luzern als politisches Thema zur Sprache gebracht hatte, setzte sich Johann Baptist Metz an ihrer Thomas-Akademie von seiner politischen Theologie her mit diesem Pluralismus auseinander.
Johann Baptist Metz begann mit der «schwierigen Universalität» einer biblischen monotheistischen Gottesrede. Der biblische Monotheismus sei indes ein «reflexiver», weil er von einer «biblischen Aufklärung» begleitet und durch die Theodizeefrage «gebrochen» sei. Universal könne diese Gottesrede nur sein, wenn sie in ihrem Kern eine für fremdes Leid empfindliche Gottesrede sei. Bei den gegenwärtigen viel diskutierten Kulturkonflikten müsse es darum gehen, die Züge dieses leidempfindlichen Monotheismus in den Traditionen aller drei grossen monotheistischen Religionen anzurufen und einzuklagen.
Die biblischen Traditionen der Gottesrede und die Jesusgeschichten kennen den Universalismus als universelle Verantwortung, die sich am Universalismus des Leidens in der Welt orientiert. «Jesu erster Blick galt nicht der Sünde der anderen, sondern dem Leid der anderen. Die Sünde war ihm vor allem Verweigerung der Teilnahme am Leid der anderen.»
Diese Leidempfindlichkeit der christlichen Botschaft und ihrer Gottesrede bringt Johann Baptist Metz mit dem Fremdwort «Compassion» (nicht englisch «compassion») zum Ausdruck: Mitleidenschaftlichkeit als teilnehmende Wahrnehmung fremden Leids, als tätiges Eingedenken des Leids der andern.
Compassion im Sinne von «fremdes Leid wahrnehmen und beim eigenen Handeln berücksichtigen» ist friedenspolitisch relevant. Sie kann zu einer neuen Politik der Anerkennung anstiften, einer asymmetrischen Anerkennung, der Zuwendung der Einen zu den ausgegrenzten und vergessenen Anderen ­ also auch zu den Opfern der Globalisierung. Compassion kann schliesslich das humane Gedächtnis überhaupt schärfen, ist schliesslich ein Protest gegen die Vergesslichkeit der modernen Freiheit.
Auch ein universales Ethos müsse die «schwache» Autorität der Leidenden anerkennen und der Verständigung und dem Diskurs vorausgehen. Dieser Autorität sei die menschliche Vernunft um ihrer Vernünftigkeit willen unterworfen. Ihr sei jede Ethik unterworfen, die davon handelt, wie wir uns gegenseitig behandeln sollen. Ihr sei auch die Kirche unterworfen, die Gott nicht mit dem Rücken zur Leidensgeschichte der Menschen verkünden dürfe. Ihr seien schliesslich alle Religionen und Kulturen der Menschheit unterworfen.
Weil für Johann Baptist Metz alle grossen Religionen um eine Mystik des Leidens konzentriert sind, ist für ihn das Verhältnis zwischen der abendländisch-westlichen und der fernöstlich-buddhistischen Mystik in Bezug auf den Umgang mit fremdem Leid eine Frage von entscheidender Bedeutung. Die Leidensmystik der biblischen Traditionen sei in ihrem Kern nämlich eine politische Mystik, eine Mystik der politischen und sozialen Compassion. «Jesus lehrte nicht», erklärte Johann Baptist Metz bei allem Respekt vor Buddha und fernöstlicher Spiritualität, «eine Mystik der geschlossenen Augen, sondern eine Mystik der offenen Augen», der unbedingten Wahrnehmungspflicht für fremdes Leid.
So sei vielleicht das, was Friedrich Nietzsche am Christentum verachtete, genau das, was die Christen heute zu bezeugen hätten: «Compassion, Mitleidenschaft als Ausdruck ihrer Gottesleidenschaft.»


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001