13/2001

INHALT

Lesejahr C

Der gekreuzigte Jude - Heil für die Welt

Daniel Kosch zu Phil 2,6-11

 

Auf den Text zu

Nie im Kirchenjahr wird das Thema «Juden und Christen» akuter als in der Karwoche, die mit den Gottesdiensten am Palmsonntag beginnt. Die Passionsberichte der Evangelien (besonders Joh) belasten «die Juden», indem sie sie massgeblich verantwortlich machen für die Verurteilung Jesu ­ und das Stigma des «Gottesmordes» haftet dem Judentum an. Kirchliche Verlautbarungen (besonders des 2. Vatikanums und des gegenwärtigen Papstes) betonen die jüdischen Wurzeln des Christentums und halten fest, man könne die Ereignisse von Jesu Leiden «weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Darum sollen alle dafür Sorge tragen, dass niemand bei der Predigt etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht. Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben» (Vat. II, Nostra Aetate 4).
Diese wichtigen und in den letzten Jahren (leider!) wieder aktuell gewordenen Aussagen verlangen besondere Sorgfalt bei der Gestaltung der Gottesdienste in der Karwoche. So empfiehlt es sich, mit einer kurzen Einleitung zur Lesung der Passion darauf aufmerksam zu machen, dass negative Aussagen über «die Juden» heute nicht unkritisch übernommen werden dürfen und dass das jüdische Volk (leider oftmals unter Mitwirkung von Christen) in seiner Geschichte immer wieder zum «gekreuzigten Volk» geworden ist.
Darüber hinaus ist es wichtig zu betonen, dass auch Jesus nicht nur als Jude geboren wurde, sondern auch als Jude starb. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist unauflöslich mit seinem Judesein verknüpft ­ nicht das Kreuz (eine typisch römische Hinrichtungsart), sondern das Heil kommt von den Juden (vgl. Joh 4,22). Auf diesen Sachverhalt macht der Lesungstext aus dem Philipperbrief aufmerksam, der eine andere Sicht auf Leben, Tod und Auferstehung eröffnet als die Passionserzählungen.

Mit dem Text unterwegs

Phil 2,6­11 ist ein Hymnus, den Paulus aus der Liturgie der Gemeinde übernommen hat. Allgemein anerkannt ist die Annahme, dass Paulus lediglich die Formulierung «bis zum Tod am Kreuz» eingefügt und den Text durch den Zusammenhang, in den er ihn stellt, neu akzentuiert hat: Handelt es sich ursprünglich um ein Christus-Lied, macht Paulus daraus die Begründung für Mahnungen zu einem rücksichtsvollen, solidarischen und achtsamen Umgang miteinander: «Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht». Beachtet man diesen Zusammenhang, ist es umso trauriger und unverständlicher, dass der Tod Jesu am Kreuz gerade gegenüber den jüdischen Schwestern und Brüdern Jesu nicht zur Quelle der Solidarität, sondern von Hass und Gewalt geworden ist.
Die Bewegung des Hymnus geht aus vom Präexistenten, der ganz von Gott bestimmt ist, aber nie darauf aus, Gottes Gottsein anzutasten, sondern sich gehorsam ganz auf das Menschsein einlässt. Dazu gehört die Sklavenexistenz und damit die Unterordnung unter die Mächte dieser Welt, die am schärfsten und brutalsten erfahrbar wird im Tod.
Wird dieser Weg der «Entäusserung» und «Erniedrigung» als freies Handeln des Präexistenten geschildert, so bringt die Gegenbewegung die grosse Wende (V. 9). Jetzt wird der freiwillig Sich-Erniedrigende zum Objekt göttlichen Handelns: Der Gott Israels erhöht ihn. Er wird als «Herr» eingesetzt, wobei der Text auf das Ritual einer Throneinsetzung anspielt: Präsentation (Erhöhung), Proklamation (Namensverleihung) und Akklamation (Kniebeuge und Bekenntnis).
Für das Verständnis dieser Bewegung des Hymnus vom Sein-bei-Gott (Präxistenz) über die Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz zur Erhöhung sind folgende Hinweise wichtig:

  1. Unter dieser Perspektive wird der Tod an sich nicht als etwas Heilshaftes gesehen, vielmehr ist er der tiefste Punkt eines im Gehorsam beschrittenen menschlichen Weges.
  2. Die Erhöhung des Gekreuzigten (der griechische Text spricht gewissermassen superlativisch vom «übererhöhen» und verwendet ein Verb, das im griechischen Alten Tesament Gott vorbehalten ist) ist mehr als seine blosse Rückkehr in die Ewigkeit Gottes. Sie ist der Sieg über alle Mächte im Himmel, auf der Erde und unter der Erde.
  3. Die Erhöhung des bis zum Tod Gehorsamen führt zu einem Herrschaftswechsel, zu einem «ÐMehrð, das der Erhöhte gegenüber seiner Präexistenz besitzt» (J. Gnilka). Die Macht der Mächtigen ist besiegt durch die «Herrschaft» des Gekreuzigten. Diese ist von anderer Qualität und braucht deshalb auch eine neue Sprache. Versuchsweise kann von einer «antihierarchischen Macht» gesprochen werden, «die nicht unterwirft, sondern aufstellt, die nicht tötet, sondern lebendig macht. Auf jeden Fall sind die beiden Formen von Macht so verschieden wie Gewalt und Gewaltlosigkeit, wie Tod und Leben» (K. Marti).
  4. Die Erhöhung, die Überwindung der Mächte und das Bekenntnis zur antihierarchischen Macht Jesu Christi werden mit Worten des Propheten Jesaja (45,22­25) zur Sprache gebracht. In ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelesen, sprechen sie davon, dass alle Völker zusammen mit Israel am befreienden Handeln Gottes Anteil erhalten: Was Gott in und mit dem jüdischen Volk begonnen hat, wird durch Jesus Christus und seine Auferweckung bedeutsam für alle Welt. Der gekreuzigte Jude wird zum Heil für alle Völker. Diese geschichtliche Vermittlung der Erlösung wird auch dadurch betont, dass «jeder Mund» sich zu «Jesus Christus» bekennt, womit die Identität des Präexistenten und Erhöhten mit dem Mann aus Nazaret ausdrücklich formuliert wird.
  5. Unüberhörbar sind schliesslich politische Anspielungen auf das römische Herrschaftssystem: «antihierarchisch» ist die Macht des Gekreuzigten auch in dem Sinn, dass nicht der Kaiser als Zentralsymbol weltweiter Macht zur Ehre Gottes erhoben und als «Herr» proklamiert wird, sondern ein Opfer römischer Machtpolitik, der schon der Verdacht auf fehlende Kaisertreue genügt, um Unschuldige zu kreuzigen.

 

Über den Text hinaus

Der Philipperhymnus ist zwar kein historischer Bericht über den Leidensweg und den gewaltsamen Tod Jesu, aber er hält eine nicht nur theologisch, sondern auch politisch sehr präzise Deutung von Kreuz und Auferweckung bereit, die die jüdischen Wurzeln des Christentums ebenso ernst nimmt wie die Tatsache, dass der Glaube an die erlösende und befreiende österliche Macht Gottes alle Formen unterwerfender Macht kritisiert. Die den Hymnus einleitende Forderung des Paulus, die Gesinnung der christlichen Gemeinde und Kirche solle «dem Leben in Christus Jesus entsprechen» (Phil 2,5), hat bis heute ein kritisches Potenzial: Die Erinnerung an Erniedrigung und Tod Jesu soll uns weder in die Depression stürzen noch Leid und Unterdrückung oder gar Diskriminierung anderer (z.B. des jüdischen Volkes) rechtfertigen, sondern uns in unserer Verbundenheit mit der lebendigen Macht Gottes bestärken.

 

Literatur: J. Gnilka, Der Philipperbrief, (HThK. NT X.3), Freiburg 1968; K. Marti, Gedanken zur Weiblichkeit Gottes, in: Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, Stuttgart 2000, 161­166.


Er-hellen

Text lesen ­ Gemeinsam auf einem grossen Blatt eine schematische Darstellung der Bewegung des Textes entwickeln (Erniedrigung ­ Erhöhung) ­ den einzelnen Stationen dieser Bewegung nachgehen, diese diskutieren und kommentieren (vgl. «mit dem Text unterwegs»).

Er-lesen

Der hymnische Charakter legt ein gemeinsames Lesen/Rezitieren nahe ­ Den Text mehrmals gemeinsam sprechen ­ Mutige Gruppen können versuchen, eine Art Melodie/Sprechgesang zu entwickeln ­ Gespräch über die Wirkung dieses Lesens/Rezitierens/Singens.

Er-leben

Ausblick auf die kommende Karwoche: Wie können wir sie für uns persönlich, aber auch liturgisch so gestalten, dass sie unsere Verbundenheit mit der lebendigen Macht Gottes stärkt? ­ Eventuell Besinnung zum Text oder anderen Beitrag für die Palmsonntagsliturgie gestalten.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001