19/2001

INHALT

Leitartikel

Die Dauerhaftigkeit der Ehe

von Christian Kissling

 

Gibt es zur Dauerhaftigkeit der Ehe aus kirchlicher Sicht noch etwas Neues zu berichten? Das Thema allein ruft schon ein nur schlecht unterdrücktes Gähnen hervor: Die katholische Ehelehre und das Gewicht, das die vatikanische Moralverkündigung ihr zuweist, sind nachgerade bekannt, und ebenso bekannt ist die gesellschaftliche Realität, die dieser kirchlichen Moralverkündigung so sehr widerspricht. Und doch ist damit noch nicht alles gesagt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Dauerhaftigkeit der Ehe kein kirchlicher Ladenhüter darstellen muss, den ihr niemand mehr abkauft.

Dauerhaftigkeit oder Unauflöslichkeit?

Zuerst ist aber eine Vorbemerkung notwendig: Es geht im Folgenden in erster Linie um die Dauerhaftigkeit der Ehe, und nicht um ihre Unauflöslichkeit. Die Dauerhaftigkeit der Ehe ist ein moraltheologisches Thema ­ für ihre Unauflöslichkeit sind hingegen die Dogmatik und das Kirchenrecht zuständig. Deshalb sollen zu Letzterem ohne inhaltliche Diskussion nur drei Punkte in Erinnerung gerufen werden:<1>

1. «Wer seine Frau entlässt und eine andere heiratet, der bricht ihr gegenüber die Ehe. Und wenn sie ihren Mann entlässt und einen anderen heiratet, so bricht sie die Ehe.» Es besteht in der Exegese weitgehend Einigkeit, dass dieses Logion (Mk 10,11f.) kein Gesetz sein will. Im Gegenteil: Dieser Satz will hinter das zeitgenössische Gesetz, das eben die Entlassung der Frau (nicht aber die Entlassung des Mannes!) zuliess, zurück zum eigentlichen ursprünglichen Schöpferwillen Gottes. Wenn man dieses Markus-Logion als Gesetz versteht, versteht man es falsch. Im NT selbst wurde dieses Logion übrigens auch nicht als Gesetz verstanden, wie wir bei Matthäus (Mt 5,32; 19,9) und Paulus (1 Kor 7,10­16) sehen, wo sich bereits «pastorale Relativierungen» finden.

2. Diese «pastoralen Relativierungen» setzen sich im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte fort. Wir finden bei den Vätern, auch und gerade beim gestrengen Augustinus, die Unterscheidung zwischen dem Prinzip der schöpfungsmässigen Unauflösbarkeit der Ehe und der pastoralen Haltung der Epikie (aequitas, Billigkeit).

3. In Reaktion auf die reformatorische These, die Ehe sei ein weltlich Ding (Luther), postuliert das Tridentinum die Ehe als Sakrament (DH 1801) und unterstellt sie damit kirchlichem Recht. Das Konzil von Trient sagt aber nicht, die Ehe sei kraft göttlichen Rechts (de iure divino) unauflöslich, obwohl das vorgeschlagen und lange diskutiert wurde ­ und zwar ganz einfach, weil die Griechen einer anderen Praxis folgten, obwohl sie den Grundsatz der Unauflöslichkeit in der Theorie anerkannten (DH 1807). Die absolute Unauflöslichkeit der Ehe wird also nicht als Offenbarungswahrheit dogmatisiert ­ und die Kirche hat somit bezüglich Ehescheidung und Wiederverheiratung de iure ecclesiastico einen grösseren Spielraum, als sie offiziell vorgibt.

Der Schöpferwille Gottes

Im Folgenden soll nun versucht werden, mit moraltheologischen Überlegungen nach jenem «ursprünglichen Schöpferwillen Gottes» zurückzufragen. Dies soll, um nicht die notwendige Klarheit zu vielen Differenzierungen und Relativierungen zu opfern, in Form von vier Thesen geschehen.

1. Liebe kann nur wirklich Liebe sein, wenn sie auf Dauerhaftigkeit angelegt ist

Jede Liebe will von Dauer sein: Bei diesem Satz handelt es sich nicht um eine Glaubenswahrheit, sondern schlicht um eine Erfahrungstatsache. Es gibt keine vorläufige, provisorische Liebe, es gibt keine Annahme des anderen auf Zeit. Liebe unterscheidet sich von einer Milchpackung dadurch, dass sie kein im Voraus definiertes Verfallsdatum hat.
Allerdings: Dieser Satz beschreibt ein Ideal, und die Realität ist doch so oft unendlich und erbärmlich weit davon entfernt. Unser Problem als Kirche ist, wie wir mit dieser Differenz zwischen Realität und Ideal umgehen. Dieses Problem stellt sich aber keineswegs nur bei der Dauerhaftigkeit der Ehe. Lesen wir doch nur in der Bergpredigt die Antithesen: «Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein...Jeder, der eine Frau begehrlich anblickt, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen...Jeder, der seine Frau entlässt, ausser wegen Unzucht, der macht sie zur Ehebrecherin...Ihr sollt überhaupt nicht schwören ...Vielmehr soll eure Rede sein: Ja Ja, Nein Nein. Was darüber hinaus geht, ist vom Bösen...Widersteht dem Bösen nicht, sondern wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin...Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen...» (Mt 5,20­48). Welcher dieser Sätze erlaubt keine Differenz zwischen Ideal und Realität? Das Gebot der Feindesliebe oder der vorgeschriebene Verzicht auf Notwehr? Dann müssten sie im kirchlichen Gesetzbuch stehen, und ein Verstoss gegen sie würde vom Empfang der Eucharistie ausschliessen ­ ein verrückter Gedanke! Das absolute und glasklare Verbot zu schwören? Und warum haben wir dann neuerdings wieder eine Art Treueeid in unserer Kirche?<2> Oder wie sinnvoll wäre ein rechtliches und strafrechtlich bewehrtes Verbot von emotionalen Erregungen wie Zorn oder Begehrlichkeit? ­ Wie man es auch dreht und wendet: Wir können die Differenz zwischen Ideal und Realität nicht dadurch zum Verschwinden bringen, dass wir die Idealität zum Gesetz erklären, das keine Ausnahme duldet ­ beim Verbot, seinem Bruder zu zürnen ebenso wenig wie beim Verbot, «seine Frau zu entlassen».
Jedoch ist vor einem Missverständnis zu warnen: Wenn wir die Differenz zwischen Ideal und Realität anerkennen, heisst das nun auch wieder nicht, dass das Ideal keine Rolle spielt. Nein: Wir sollen nicht zürnen, wir sollen treu sein, wir sollen Gewalt durch Gewaltlosigkeit überwinden usw., aber nicht, weil ein himmlischer Gesetzgeber das aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen so will, sondern weil das gut ist für unser Leben. Gott erlässt nicht Gesetze, sondern eröffnet Chancen. Gott will das wahre, gute und glückliche Leben des Menschen, und ein solches Leben setzt Treue, Gewaltlosigkeit, Ehrlichkeit usw. voraus. Wir sollen also treu, ehrlich, friedfertig usw. sein, weil das gut ist für uns ­ und das ist es, was Gott gefällt!

2. Nie war die Dauerhaftigkeit der Ehe derartigen Belastungen ausgesetzt wie heute

Man sollte nicht in eine nostalgische Vergangenheitsschwärmerei verfallen und naiv meinen, früher sei alles besser gewesen. Das stimmt nämlich meist überhaupt nicht und ist auch sonst wenig hilfreich. Aber trotzdem muss man ganz nüchtern feststellen, dass eine dauerhafte Ehe heute keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt. Nur sollte man sich die Erklärung für die Scheidungsquote von 40% auch nicht allzu leicht machen. Der Grund für die offensichtliche Instabilität der Ehe als Institution liegt nicht in einem individuellen Moralzerfall, sondern ist wohl in erster Linie soziostrukturellen Faktoren zuzuschreiben: In einer Gesellschaft, die immer mehr Wert auf Flexibilität, auf Mobilität, auf Verfügbarkeit, auf Konsum, auf Wandel und Anpassungsfähigkeit legt, erscheint eine auf Dauerhaftigkeit angelegte Ehe schlicht als Relikt aus einer anderen Welt. Die Dauerhaftigkeit der Ehe widerspricht dem Zeitgeist. Und das bedeutet umgekehrt: Die Gesellschaft untergräbt durch ihren Lebensstil, durch die Rahmenbedingungen, die sie dem individuellen Leben setzt, durch ihre Anforderungen in Konsum- und Arbeitswelt ein Stück weit die Dauerhaftigkeit der Ehe. Verstärkt gilt das natürlich noch für die Familie als Lebensform, die von der Gesellschaft heute ebenso gefährdet wird, wie die Gesellschaft selbst auf die Familie angewiesen ist.<3> Es gilt aber auch für die Ehe: Die Gesellschaft setzt die Ehe immer grösseren Belastungen aus, ist aber selbst darauf angewiesen, dass sich die Menschen in einigermassen stabilen persönlichen Beziehungen, eben auch Liebesbeziehungen, emotional regenerieren können, um die Unbeständigkeit des sozialen Lebens aushalten zu können und nicht psychisch zu verkrüppeln.
Mit der Auflösung verpflichtender, verbindlicher Wertmuster in unserer Gesellschaft, mit der Liberalisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse ist dem Einzelnen heute nicht mehr vorgegeben, wie er zu leben hat. Man kann allein leben, mit wechselnden Partnern, im Konkubinat, verheiratet sein, sich scheiden lassen usw. Der Einzelne muss heute selbst die Verantwortung für seine Lebensumstände übernehmen, und zwar für sich selbst und vor sich selbst. Man muss sich, ohne irgendwie hinter die «Offene Gesellschaft» zurück zu wollen, die Frage stellen, ob die normale durchschnittliche Mehrheit der Bevölkerung überhaupt in der Lage ist, dieser gewachsenen Verantwortung angesichts der gesellschaftlichen Beliebigkeit und Unverbindlichkeit gerecht zu werden. Wie gesagt: Es ist keineswegs so, dass die individuelle Moral zerfallen ist ­ vielmehr sind die Ansprüche an die individuelle Moralität in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, während sich gleichzeitig die notwendigen Rahmenbedingungen für diese Moralität verschlechtert haben. Was kann die Kirche beitragen, um die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme zu vergrössern oder zumindest zu erhalten? Die Vermutung sei erlaubt: Durch das Herumreiten auf vorzugsweise sexualethischen Normen jedenfalls leistet die Kirche keinen produktiven Beitrag dazu, dass die Menschen mit ihrer gestiegenen Verantwortung besser umgehen können.

3. Ehe ist ein «humanisierender Faktor» der Gesellschaft

Eigentlich ist es ja erstaunlich: Unsere Gesellschaft, die über einen ungeheuren, in historischem wie in geographischem Vergleich einmaligen materiellen Wohlstand verfügt, ist im Grunde eine lebensfeindliche Gesellschaft geworden. Wir arbeiten, als würde es tagtäglich um unser nacktes Überleben gehen, wir setzen immer mehr gesellschaftliche Bereiche dem als Markt und Wettbewerb bezeichneten Ellbogenprinzip aus, wir werden immer effizienter, um immer weniger Zeit zu haben, wir erheben den Reichtum zum Zweck, statt ihn als Mittel zu gebrauchen, wir machen die Solidarität verächtlich und tanzen den kollektiven Tanz ums Goldene Kalb der Eigenverantwortung.<4> Früher waren Leben und Glück des Menschen durch Natur, Krankheiten und Kriege bedroht, heute bedrohen wir uns selbst, und zwar durch unseren irrationalen Drang, immer mehr vom ewig Gleichen haben zu wollen.
Nun, was hat das mit der Ehe zu tun? Ehe ­ ebenso wie Familie ­ «funktioniert» nach anderen Mechanismen, nach einer anderen Logik als die sie umgebende Gesamtgesellschaft. Gefordert sind in der Ehe nicht nur Liebe und sexuelle Attraktion, obwohl dies schon sehr wichtig ist, sondern auch Empathie, Verlässlichkeit und Treue, Solidarität, Bereitschaft zur Vergebung, Ehrlichkeit ­ alles Verhaltensweisen, die wir vorhin in den Antithesen der Bergpredigt gefunden haben. Nicht, dass eheliches Leben sich immer nur nach diesen Werten richten würde, überhaupt nicht, aber wir wissen doch, dass es diese und ähnliche Verhaltensweisen sind, die im ehelichen Leben zur Geltung kommen müssten. Die Scheidungsquote von 40% bedeutet eben keineswegs, dass ein derart grosser Teil der Bevölkerung nicht auch von einer dauerhaften Beziehung zu einem Partner träumte. Treue ist nach wie vor ein Wert, ein Ideal, ebenso wie Solidarität, Ehrlichkeit, Fürsorge usw. Nur eben ein Wert, der beinahe nur noch in dieser Intimbeziehung Ehe zur Geltung kommen darf. Und damit sind wir jetzt beim eigentlichen Problem: In einer Gesellschaft, in der die Menschen Liebe, Treue, Geborgenheit, wirkliches Glück nur noch im kleinen Bereich der Ehe ­ oder auch der nichtehelichen Beziehung ­ erfahren, gerät diese Ehe selbst unter Druck. Als emotionale Insel wird sie ­ so ist zu befürchten ­ von den Fluten der flexibilisierten und deregulierten sozialen Umgebungskultur überspült werden.
Erfahrungen, die vorzugsweise und am häufigsten in Ehe und Familie gemacht werden, also Erfahrungen der Mitmenschlichkeit, der Liebe, der Geborgenheit, sind notwendig für ein gesundes Leben. Ehe (und mehr noch Familie) sind notwendig für eine humane Gesellschaft. Denn eine Lebenswelt, in der nur noch Wettbewerb, Markt, Konkurrenz und bestenfalls gegenseitiges Desinteresse herrschen ­ eine solche Lebenswelt wäre die Hölle auf Erden. Oder anders gesagt: Ehe und Familie sind die Brückenköpfe der Bergpredigt in der modernen Gesellschaft.

4. Hauptanliegen der kirchlichen Ehelehre muss es heute sein, die auf Bestand zielende Ehe als Chance für ein wahres, gutes und glückliches Leben des Menschen zu erweisen

Um was muss es einer kirchlichen Moralverkündigung im Allgemeinen und einer kirchlichen Ehelehre im Speziellen heute gehen? Wenn sie im Leben der Menschen heute wirklich eine Rolle spielen wollen, und wenn die fatale Reduktion des Evangeliums auf eine Sammlung von Verboten überwunden werden soll, gibt es wohl nur einen Weg: Wir brauchen in der Moraltheologie heute eine Rückkehr zur Tugendethik. Und wir brauchen sie ­ wenn diese Unterscheidung überhaupt Sinn macht ­ ebenso aus theologischen wie aus pastoralen Gründen.
Eine richtig verstandene kirchliche Moralverkündigung heisst nicht, Verbote einzuschärfen, sondern Chancen zu eröffnen, Mut zu machen, aufzurichten. Gott will das wahre, gute und glückliche Leben des Menschen. Wer kann die Vision eines solchen Lebens noch verkünden, wenn nicht wir? Und nach was verlangen denn die Menschen, auch wir Kirchenleute, wenn nicht nach dem? Es ist zwecklos, den Menschen einzuschärfen, eine Ehe könne und dürfe nicht geschieden werden, denn eine Ehe heute kann und darf geschieden werden ­ nur eben ausserhalb der Kirche. Wir müssen vielmehr die eheliche Treue, die Beständigkeit als Chance für ein wahres, gutes und glückliches Leben beliebt machen. Was unserer Moralverkündigung heute fehlt, ist die Rede von den Tugenden, und zwar von den Tugenden als Chance. Die Kirche hat sich zu sehr auf die Verbote versteift, ohne verständlich angegeben zu haben, warum sie nicht übertreten werden dürfen, und die Pastoral hat dann versucht, damit einigermassen zu Rande zu kommen.

Chance, nicht Garantie

Eheliche Treue ist keine Fessel, sondern eine Chance für ein wahres, gutes und glückliches Leben ­ das müsste der Kern der kirchlichen Ehelehre sein. Aber bitte: Eine Chance ist keine Garantie. Wir müssen ganz realistisch mit dem Scheitern, auch dem schuldhaften Scheitern, also mit der Untreue rechnen. Dann aber, wenn wir mit der Untreue rechnen müssen, müssen wenigstens wir, muss wenigstens die Kirche treu diesen Menschen gegenüber sein. Und dann sind wir wieder bei der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten angelangt. Die wirklich konsequente Einführung und Beachtung der Tugendethik in der kirchlichen Moralverkündigung bedingt unausweichlich eine Änderung des Kirchenrechts in diesem Punkt. Es wurde eingangs angedeutet, dass das theologisch möglich ist.

 

Der Theologe Christian Kissling ist Familienvater und Sekretär der Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz (SBK). Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Referats, das er am 5. Juli 2000 vor der Kommission Ehe und Familie der SBK hielt.


Anmerkungen

1 Vgl. bes. Th. Schneider (Hrsg.), Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie (QD 157), Freiburg i.Br. 1995.

2 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: Lehramtliche Stellungnahmen zur «Professio Fidei» (1998) (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 144), Bonn o.J. (2000).

3 Vgl. Christian Kissling, Familie am Ende? Ethik und Wirklichkeit einer Lebensform, Zürich 1998.

4 Vgl. Ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz: Auswertungsbericht, Bern/Freiburg 2000.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001