19/2001 | |
INHALT |
Leitartikel |
Gibt es zur Dauerhaftigkeit der Ehe aus kirchlicher Sicht noch etwas Neues zu berichten? Das Thema allein ruft schon ein nur schlecht unterdrücktes Gähnen hervor: Die katholische Ehelehre und das Gewicht, das die vatikanische Moralverkündigung ihr zuweist, sind nachgerade bekannt, und ebenso bekannt ist die gesellschaftliche Realität, die dieser kirchlichen Moralverkündigung so sehr widerspricht. Und doch ist damit noch nicht alles gesagt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Dauerhaftigkeit der Ehe kein kirchlicher Ladenhüter darstellen muss, den ihr niemand mehr abkauft.
Zuerst ist aber eine Vorbemerkung notwendig: Es geht im Folgenden in erster Linie um die Dauerhaftigkeit der Ehe, und nicht um ihre Unauflöslichkeit. Die Dauerhaftigkeit der Ehe ist ein moraltheologisches Thema für ihre Unauflöslichkeit sind hingegen die Dogmatik und das Kirchenrecht zuständig. Deshalb sollen zu Letzterem ohne inhaltliche Diskussion nur drei Punkte in Erinnerung gerufen werden:<1>
1. «Wer seine Frau entlässt und eine andere heiratet, der bricht ihr gegenüber die Ehe. Und wenn sie ihren Mann entlässt und einen anderen heiratet, so bricht sie die Ehe.» Es besteht in der Exegese weitgehend Einigkeit, dass dieses Logion (Mk 10,11f.) kein Gesetz sein will. Im Gegenteil: Dieser Satz will hinter das zeitgenössische Gesetz, das eben die Entlassung der Frau (nicht aber die Entlassung des Mannes!) zuliess, zurück zum eigentlichen ursprünglichen Schöpferwillen Gottes. Wenn man dieses Markus-Logion als Gesetz versteht, versteht man es falsch. Im NT selbst wurde dieses Logion übrigens auch nicht als Gesetz verstanden, wie wir bei Matthäus (Mt 5,32; 19,9) und Paulus (1 Kor 7,1016) sehen, wo sich bereits «pastorale Relativierungen» finden.
2. Diese «pastoralen Relativierungen» setzen sich im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte fort. Wir finden bei den Vätern, auch und gerade beim gestrengen Augustinus, die Unterscheidung zwischen dem Prinzip der schöpfungsmässigen Unauflösbarkeit der Ehe und der pastoralen Haltung der Epikie (aequitas, Billigkeit).
3. In Reaktion auf die reformatorische These, die Ehe sei ein weltlich Ding (Luther), postuliert das Tridentinum die Ehe als Sakrament (DH 1801) und unterstellt sie damit kirchlichem Recht. Das Konzil von Trient sagt aber nicht, die Ehe sei kraft göttlichen Rechts (de iure divino) unauflöslich, obwohl das vorgeschlagen und lange diskutiert wurde und zwar ganz einfach, weil die Griechen einer anderen Praxis folgten, obwohl sie den Grundsatz der Unauflöslichkeit in der Theorie anerkannten (DH 1807). Die absolute Unauflöslichkeit der Ehe wird also nicht als Offenbarungswahrheit dogmatisiert und die Kirche hat somit bezüglich Ehescheidung und Wiederverheiratung de iure ecclesiastico einen grösseren Spielraum, als sie offiziell vorgibt.
Im Folgenden soll nun versucht werden, mit moraltheologischen Überlegungen nach jenem «ursprünglichen Schöpferwillen Gottes» zurückzufragen. Dies soll, um nicht die notwendige Klarheit zu vielen Differenzierungen und Relativierungen zu opfern, in Form von vier Thesen geschehen.
Jede Liebe will von Dauer sein: Bei diesem Satz handelt es sich nicht
um eine Glaubenswahrheit, sondern schlicht um eine Erfahrungstatsache. Es
gibt keine vorläufige, provisorische Liebe, es gibt keine Annahme des
anderen auf Zeit. Liebe unterscheidet sich von einer Milchpackung dadurch,
dass sie kein im Voraus definiertes Verfallsdatum hat.
Allerdings: Dieser Satz beschreibt ein Ideal, und die Realität ist
doch so oft unendlich und erbärmlich weit davon entfernt. Unser Problem
als Kirche ist, wie wir mit dieser Differenz zwischen Realität und
Ideal umgehen. Dieses Problem stellt sich aber keineswegs nur bei der Dauerhaftigkeit
der Ehe. Lesen wir doch nur in der Bergpredigt die Antithesen: «Jeder,
der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein...Jeder, der
eine Frau begehrlich anblickt, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr
gebrochen...Jeder, der seine Frau entlässt, ausser wegen Unzucht, der
macht sie zur Ehebrecherin...Ihr sollt überhaupt nicht schwören
...Vielmehr soll eure Rede sein: Ja Ja, Nein Nein. Was darüber hinaus
geht, ist vom Bösen...Widersteht dem Bösen nicht, sondern wer
dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin...Liebet
eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen...» (Mt 5,2048).
Welcher dieser Sätze erlaubt keine Differenz zwischen Ideal und Realität?
Das Gebot der Feindesliebe oder der vorgeschriebene Verzicht auf Notwehr?
Dann müssten sie im kirchlichen Gesetzbuch stehen, und ein Verstoss
gegen sie würde vom Empfang der Eucharistie ausschliessen ein
verrückter Gedanke! Das absolute und glasklare Verbot zu schwören?
Und warum haben wir dann neuerdings wieder eine Art Treueeid in unserer
Kirche?<2> Oder wie sinnvoll wäre
ein rechtliches und strafrechtlich bewehrtes Verbot von emotionalen Erregungen
wie Zorn oder Begehrlichkeit? Wie man es auch dreht und wendet: Wir
können die Differenz zwischen Ideal und Realität nicht dadurch
zum Verschwinden bringen, dass wir die Idealität zum Gesetz erklären,
das keine Ausnahme duldet beim Verbot, seinem Bruder zu zürnen
ebenso wenig wie beim Verbot, «seine Frau zu entlassen».
Jedoch ist vor einem Missverständnis zu warnen: Wenn wir die Differenz
zwischen Ideal und Realität anerkennen, heisst das nun auch wieder
nicht, dass das Ideal keine Rolle spielt. Nein: Wir sollen nicht zürnen,
wir sollen treu sein, wir sollen Gewalt durch Gewaltlosigkeit überwinden
usw., aber nicht, weil ein himmlischer Gesetzgeber das aus irgendwelchen
unerfindlichen Gründen so will, sondern weil das gut ist für unser
Leben. Gott erlässt nicht Gesetze, sondern eröffnet Chancen. Gott
will das wahre, gute und glückliche Leben des Menschen, und ein solches
Leben setzt Treue, Gewaltlosigkeit, Ehrlichkeit usw. voraus. Wir sollen
also treu, ehrlich, friedfertig usw. sein, weil das gut ist für uns
und das ist es, was Gott gefällt!
Man sollte nicht in eine nostalgische Vergangenheitsschwärmerei
verfallen und naiv meinen, früher sei alles besser gewesen. Das stimmt
nämlich meist überhaupt nicht und ist auch sonst wenig hilfreich.
Aber trotzdem muss man ganz nüchtern feststellen, dass eine dauerhafte
Ehe heute keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt. Nur sollte man
sich die Erklärung für die Scheidungsquote von 40% auch nicht
allzu leicht machen. Der Grund für die offensichtliche Instabilität
der Ehe als Institution liegt nicht in einem individuellen Moralzerfall,
sondern ist wohl in erster Linie soziostrukturellen Faktoren zuzuschreiben:
In einer Gesellschaft, die immer mehr Wert auf Flexibilität, auf Mobilität,
auf Verfügbarkeit, auf Konsum, auf Wandel und Anpassungsfähigkeit
legt, erscheint eine auf Dauerhaftigkeit angelegte Ehe schlicht als Relikt
aus einer anderen Welt. Die Dauerhaftigkeit der Ehe widerspricht dem Zeitgeist.
Und das bedeutet umgekehrt: Die Gesellschaft untergräbt durch ihren
Lebensstil, durch die Rahmenbedingungen, die sie dem individuellen Leben
setzt, durch ihre Anforderungen in Konsum- und Arbeitswelt ein Stück
weit die Dauerhaftigkeit der Ehe. Verstärkt gilt das natürlich
noch für die Familie als Lebensform, die von der Gesellschaft heute
ebenso gefährdet wird, wie die Gesellschaft selbst auf die Familie
angewiesen ist.<3> Es gilt aber auch für
die Ehe: Die Gesellschaft setzt die Ehe immer grösseren Belastungen
aus, ist aber selbst darauf angewiesen, dass sich die Menschen in einigermassen
stabilen persönlichen Beziehungen, eben auch Liebesbeziehungen, emotional
regenerieren können, um die Unbeständigkeit des sozialen Lebens
aushalten zu können und nicht psychisch zu verkrüppeln.
Mit der Auflösung verpflichtender, verbindlicher Wertmuster in unserer
Gesellschaft, mit der Liberalisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse
ist dem Einzelnen heute nicht mehr vorgegeben, wie er zu leben hat. Man
kann allein leben, mit wechselnden Partnern, im Konkubinat, verheiratet
sein, sich scheiden lassen usw. Der Einzelne muss heute selbst die Verantwortung
für seine Lebensumstände übernehmen, und zwar für sich
selbst und vor sich selbst. Man muss sich, ohne irgendwie hinter die «Offene
Gesellschaft» zurück zu wollen, die Frage stellen, ob die normale
durchschnittliche Mehrheit der Bevölkerung überhaupt in der Lage
ist, dieser gewachsenen Verantwortung angesichts der gesellschaftlichen
Beliebigkeit und Unverbindlichkeit gerecht zu werden. Wie gesagt: Es ist
keineswegs so, dass die individuelle Moral zerfallen ist vielmehr
sind die Ansprüche an die individuelle Moralität in den letzten
Jahrzehnten enorm gestiegen, während sich gleichzeitig die notwendigen
Rahmenbedingungen für diese Moralität verschlechtert haben. Was
kann die Kirche beitragen, um die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme
zu vergrössern oder zumindest zu erhalten? Die Vermutung sei erlaubt:
Durch das Herumreiten auf vorzugsweise sexualethischen Normen jedenfalls
leistet die Kirche keinen produktiven Beitrag dazu, dass die Menschen mit
ihrer gestiegenen Verantwortung besser umgehen können.
Eigentlich ist es ja erstaunlich: Unsere Gesellschaft, die über
einen ungeheuren, in historischem wie in geographischem Vergleich einmaligen
materiellen Wohlstand verfügt, ist im Grunde eine lebensfeindliche
Gesellschaft geworden. Wir arbeiten, als würde es tagtäglich um
unser nacktes Überleben gehen, wir setzen immer mehr gesellschaftliche
Bereiche dem als Markt und Wettbewerb bezeichneten Ellbogenprinzip aus,
wir werden immer effizienter, um immer weniger Zeit zu haben, wir erheben
den Reichtum zum Zweck, statt ihn als Mittel zu gebrauchen, wir machen die
Solidarität verächtlich und tanzen den kollektiven Tanz ums Goldene
Kalb der Eigenverantwortung.<4> Früher
waren Leben und Glück des Menschen durch Natur, Krankheiten und Kriege
bedroht, heute bedrohen wir uns selbst, und zwar durch unseren irrationalen
Drang, immer mehr vom ewig Gleichen haben zu wollen.
Nun, was hat das mit der Ehe zu tun? Ehe ebenso wie Familie
«funktioniert» nach anderen Mechanismen, nach einer anderen
Logik als die sie umgebende Gesamtgesellschaft. Gefordert sind in der Ehe
nicht nur Liebe und sexuelle Attraktion, obwohl dies schon sehr wichtig
ist, sondern auch Empathie, Verlässlichkeit und Treue, Solidarität,
Bereitschaft zur Vergebung, Ehrlichkeit alles Verhaltensweisen, die
wir vorhin in den Antithesen der Bergpredigt gefunden haben. Nicht, dass
eheliches Leben sich immer nur nach diesen Werten richten würde, überhaupt
nicht, aber wir wissen doch, dass es diese und ähnliche Verhaltensweisen
sind, die im ehelichen Leben zur Geltung kommen müssten. Die Scheidungsquote
von 40% bedeutet eben keineswegs, dass ein derart grosser Teil der Bevölkerung
nicht auch von einer dauerhaften Beziehung zu einem Partner träumte.
Treue ist nach wie vor ein Wert, ein Ideal, ebenso wie Solidarität,
Ehrlichkeit, Fürsorge usw. Nur eben ein Wert, der beinahe nur noch
in dieser Intimbeziehung Ehe zur Geltung kommen darf. Und damit sind wir
jetzt beim eigentlichen Problem: In einer Gesellschaft, in der die Menschen
Liebe, Treue, Geborgenheit, wirkliches Glück nur noch im kleinen Bereich
der Ehe oder auch der nichtehelichen Beziehung erfahren, gerät
diese Ehe selbst unter Druck. Als emotionale Insel wird sie so ist
zu befürchten von den Fluten der flexibilisierten und deregulierten
sozialen Umgebungskultur überspült werden.
Erfahrungen, die vorzugsweise und am häufigsten in Ehe und Familie
gemacht werden, also Erfahrungen der Mitmenschlichkeit, der Liebe, der Geborgenheit,
sind notwendig für ein gesundes Leben. Ehe (und mehr noch Familie)
sind notwendig für eine humane Gesellschaft. Denn eine Lebenswelt,
in der nur noch Wettbewerb, Markt, Konkurrenz und bestenfalls gegenseitiges
Desinteresse herrschen eine solche Lebenswelt wäre die Hölle
auf Erden. Oder anders gesagt: Ehe und Familie sind die Brückenköpfe
der Bergpredigt in der modernen Gesellschaft.
Um was muss es einer kirchlichen Moralverkündigung im Allgemeinen
und einer kirchlichen Ehelehre im Speziellen heute gehen? Wenn sie im Leben
der Menschen heute wirklich eine Rolle spielen wollen, und wenn die fatale
Reduktion des Evangeliums auf eine Sammlung von Verboten überwunden
werden soll, gibt es wohl nur einen Weg: Wir brauchen in der Moraltheologie
heute eine Rückkehr zur Tugendethik. Und wir brauchen sie wenn
diese Unterscheidung überhaupt Sinn macht ebenso aus theologischen
wie aus pastoralen Gründen.
Eine richtig verstandene kirchliche Moralverkündigung heisst nicht,
Verbote einzuschärfen, sondern Chancen zu eröffnen, Mut zu machen,
aufzurichten. Gott will das wahre, gute und glückliche Leben des Menschen.
Wer kann die Vision eines solchen Lebens noch verkünden, wenn nicht
wir? Und nach was verlangen denn die Menschen, auch wir Kirchenleute, wenn
nicht nach dem? Es ist zwecklos, den Menschen einzuschärfen, eine Ehe
könne und dürfe nicht geschieden werden, denn eine Ehe heute kann
und darf geschieden werden nur eben ausserhalb der Kirche. Wir müssen
vielmehr die eheliche Treue, die Beständigkeit als Chance für
ein wahres, gutes und glückliches Leben beliebt machen. Was unserer
Moralverkündigung heute fehlt, ist die Rede von den Tugenden, und zwar
von den Tugenden als Chance. Die Kirche hat sich zu sehr auf die Verbote
versteift, ohne verständlich angegeben zu haben, warum sie nicht übertreten
werden dürfen, und die Pastoral hat dann versucht, damit einigermassen
zu Rande zu kommen.
Eheliche Treue ist keine Fessel, sondern eine Chance für ein wahres, gutes und glückliches Leben das müsste der Kern der kirchlichen Ehelehre sein. Aber bitte: Eine Chance ist keine Garantie. Wir müssen ganz realistisch mit dem Scheitern, auch dem schuldhaften Scheitern, also mit der Untreue rechnen. Dann aber, wenn wir mit der Untreue rechnen müssen, müssen wenigstens wir, muss wenigstens die Kirche treu diesen Menschen gegenüber sein. Und dann sind wir wieder bei der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten angelangt. Die wirklich konsequente Einführung und Beachtung der Tugendethik in der kirchlichen Moralverkündigung bedingt unausweichlich eine Änderung des Kirchenrechts in diesem Punkt. Es wurde eingangs angedeutet, dass das theologisch möglich ist.
Der Theologe Christian Kissling ist Familienvater und Sekretär der Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz (SBK). Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Referats, das er am 5. Juli 2000 vor der Kommission Ehe und Familie der SBK hielt.
1 Vgl. bes. Th. Schneider (Hrsg.), Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie (QD 157), Freiburg i.Br. 1995.
2 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: Lehramtliche Stellungnahmen zur «Professio Fidei» (1998) (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 144), Bonn o.J. (2000).
3 Vgl. Christian Kissling, Familie am Ende? Ethik und Wirklichkeit einer Lebensform, Zürich 1998.
4 Vgl. Ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz: Auswertungsbericht, Bern/Freiburg 2000.