12/2001

INHALT

Leitartikel

Priestersein heute

von Medard Kehl

 

Vor etwa fünf Jahren hat Ulrich Ruh in der Herder-Korrespondenz einen Beitrag über Priester und Priesternachwuchs in Europa überschrieben mit dem Titel: «Prekäre Perspektiven»<1>. Eine sehr treffende Formulierung! Denn einerseits teile ich nach fast dreissigjähriger praktischer Erfahrung als Priester mit vielen Mitbrüdern im Amt noch immer die feste Überzeugung, dass der Beruf des Priesters, zumal des Gemeindepfarrers, von seiner Anlage her sicher der schönste Beruf ist, den die katholische Kirche zu vergeben hat ­ eben wegen seiner grossen Gestaltungsmöglichkeiten und seiner Menschennähe.
Anderseits jedoch ist es unübersehbar, wie dieser Beruf, vielleicht auch weil er so weit gespannt und so unspezifisch ist, in vielen Fällen immer schwieriger gut auszufüllen ist. Er scheint bei uns strukturell an seine Grenzen zu stossen.
Die Stichworte sind ja allbekannt: die permanent umstrittene und ungelöste Frage nach den Zulassungsbedingungen, die ja auf jeden Fall (ob man sie bejaht oder kritisiert) mitverantwortlich sind für den immer härter spürbaren Priestermangel und die damit verbundene zunehmende Überalterung; oder die Überlastung vieler Priester wegen ihrer Verantwortung für mehrere Gemeinden, wodurch die theologisch höchst sinnvolle Zuordnung von einem Priester zu einer Gemeinde (eben als ihr «Presbyter») praktisch infrage gestellt wird; oder die (weniger dogmatische als praktische) Unklarheit des eigenen Berufsprofils angesichts des begrüssenswerten und notwendigen pastoralen Einsatzes anderer kirchlicher Berufe, die allerdings häufig den Priester auch ersetzen müssen und so auch selbst nur schwer ein eigenes Profil entwickeln können. Von dieser prekären Situation her bekommt das Fragen nach realistischen Perspektiven einen etwas bangen Unterton: Welche Perspektiven lassen sich denn überhaupt gegenwärtig für diesen Beruf noch aufzeigen, so dass jüngere wie ältere Priester aus diesem Beruf heraus und durch ihn menschlich-geistlich erfüllt leben können (und nicht neben ihm her oder gar gegen ihn)?
Wie können wir als Priester innerhalb der uns strukturell vorgegebenen und sich aller Voraussicht nach auch nicht so bald ändernden Möglichkeiten (innerkirchlich wie gesamtgesellschaftlich) so leben, dass wir die alte Verheissung Gottes an Abraham auch an uns heute noch gerichtet erfahren können: «Du sollst ein Segen sein!» Ein Segen für die Menschen hier in der kulturellen Situation der europäischen Moderne mit ihren ganzen Ambivalenzen; ein Segen, der den Menschen unseres Kulturkreises, den Kirchennahen wie den Kirchenfernen die heilende Nähe Gottes erfahrbar machen kann.
Unter diesem Leitmotiv möchte ich nur zwei Aspekte zum Thema «Priestersein heute» herausgreifen, die einerseits die theologischen Vorgaben zum Amtsverständnis als bekannt und akzeptiert voraussetzen und die anderseits die (innerkirchlich wie kulturell gegebene) Zeitsituation ernst nehmen. Aus dieser Verbindung von Theologie und Zeitdiagnose werde ich dann einige Perspektiven andeuten, oder bescheidener: einige Entwicklungslinien prognostizieren, die sich bereits anbahnen und eine mögliche künftige Akzentsetzung des Priesterberufes hier in unserem Kulturkreis ahnen lassen. Dabei möchte ich vor allem dazu ermutigen, diese Entwicklung (bei allen offensichtlichen Ambivalenzen) auch als Chance und Herausforderung zu sehen, damit wir uns offensiv und nicht bloss defensiv auf sie einstellen können.
Es geht bei diesen beiden Aspekten, die ich behandeln möchte, um das Priestersein sowohl «ad extra» (also mehr auf die kulturbedingte Glaubenssituation bezogen) als auch «ad intra» (mehr auf die innergemeindliche Situation bezogen). Beides steht in einer deutlichen Spannung zueinander; aber es lassen sich wohl auch mögliche Konvergenzen aufzeigen.

1. Ad extra: Der Priester und die so genannten «treuen Kirchenfernen»

Ich beginne mit dem bekannten Phänomen, das unserer Kirche und unseren Gemeinden immer bedrängender auf den Leib rückt und das auch eine Anfrage an unsere Identität als Priester stellt; unter dieser Rücksicht will ich hier etwas darauf eingehen. Es geht um das Faktum, dass die Assymetrie zwischen aktiven Gemeindechristen und inaktiven getauften Kirchenmitgliedern immer krasser wird. Nach neuesten religionssoziologischen Aussagen liegt das Verhältnis im Bundesdurchschnitt bei etwa 18% : 82%; dieses Verhältnis verschlechtert sich seit einigen Jahren jährlich etwa um ein 12% zu ungunsten der aktiven Gemeindechristen, wobei natürlich grosse regionale Unterschiede zu berücksichtigen sind.<2> Das bedeutet: Im Bewusstsein von 45 aller getauften Katholiken ist die Kirche kaum mehr (wie sie sich selbst versteht) eine Glaubensgemeinschaft, die als Zeichen und Werkzeug des Heilswillens Gottes für das Heil der Menschen bedeutsam und notwendig ist. Sie wird vielmehr wahrgenommen als eine gesellschaftliche Grossorganisation für religiöse Dienstleistungen; und zwar vor allem (1) an den Grenzen des menschlichen Daseins, also bei Geburt und Tod (da ist der Kontakt mit der Kirche weitaus am stärksten!), aber (2) auch bei bestimmten biografisch-familiär wichtigen Wendepunkten (wie Hochzeit, Erstkommunion und Firmung der Kinder) und (3) schliesslich bei kirchlichen Festen, die zum kulturellen Gemeineigentum geworden und zugleich emotional-erlebnismässig sehr angereichert sind (wie Weihnachten, St. Martin, Nikolaus, Kirchweih, vielleicht sogar die Karwoche, wenn ihr Symbolreichtum voll zum Tragen kommen kann usw.).
Ich stelle nun die Frage: Was bedeutet dieses Phänomen für das theologische und existentielle Selbstverständnis der Priester hierzulande? Es kann ja wohl nicht bei dieser Grössenordnung und der damit gekoppelten hohen zeitlichen Beanspruchung als Randphänomen abgetan werden, gleichsam als zwar notwendiger, aber theologisch unbedeutender und existentiell eher lästiger Tribut an die Zeitsituation nach dem Motto: «Man muss halt als Priester heute auch noch öffentlicher Religionsdiener sein...». Ich sehe darin mehr und mehr eine echte Herausforderung, denn es ist eindeutig, dass diese Christen im Priester nicht den Gemeindeleiter oder die geistliche Integrationsfigur einer oder mehrerer Gemeinden suchen; mit Gemeinde wollen sie über diese bestimmte kurze Begegnungszeit hinaus in der Regel nicht viel zu tun haben. Sie sehen und suchen in ihm auch nur höchst selten den Seelsorger, mit dem sie ihre Probleme besprechen können, oder von dem sie konkrete Lebenshilfe oder gar geistliche Begleitung erbeten. Ebenso wenig ist er als Verkündiger des Evangeliums gefragt, das eine grundlegende Lebensorientierung anbietet. Nein, diese Christen sehen und suchen im Priester meines Erachtens am ehesten noch die sakrale oder mystagogische Kompetenz der Kirche.<3> So diffus, so magisch-ritualistisch oder deistisch oder auch gnostisch-naturmystisch der Transzendenzbezug einer kulturell akzeptierten Religiosität auch sein mag ­ die Menschen scheinen gerade an Grenz-, Wende- oder Höhepunkten ihres Lebens oder auch nur an herausgehobenen Zeiten im Jahresrhythmus doch die Endlichkeit ihres Daseins, seine Ausgesetztheit und Ungesichertheit zu spüren. Wohl deswegen wenden sie sich noch immer an die Kirche, um in ihrem rituellen Rahmen eine gewisse religiöse Stabilisierung in der nicht völlig zu verdrängenden Zerbrechlichkeit des Lebens zu finden. Sie möchten sich dabei ­ theologisch gesprochen ­ des Segens Gottes für ihr Leben vergewissern, eines Gottes, der ihnen weithin fremd ist, von dem sie aber doch vage hoffen, dass es ihn als irgendwie schützende Macht über ihrem Leben und dem ihrer Kinder geben möge. Und für die Berechtigung dieser Hoffnung stehen in ihrem Bewusstsein noch immer die Kirche, gerade auch ihre Priester ein.
Wie gehen wir mit solchen Erwartungen um? Wenn wir nicht ganz auf die Präsenz der Kirche, des christlichen Menschenbildes und Ethos in unserer kulturellen Öffentlichkeit verzichten wollen und uns damit abfinden, eine katholische Variante von Freikirche zu werden, die sich nur noch auf die wenigen «richtig Überzeugten» stützt, dann müssen wir uns diesem Phänomen ernsthaft stellen und vor allem versuchen, ihm positiv gerecht zu werden, also daraus etwas Gutes zu machen. Es ist in diesem Zusammenhang jetzt zweitrangig, ob wir auf diese Erwartungen weiterhin generell mit unseren Sakramenten antworten oder ob wir dafür nicht eher die Möglichkeit von differenzierten Segensfeiern stärker ausschöpfen sollen (was ich persönlich bevorzuge, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten). In diesem Rahmen kommt es mir nur darauf an, die Überlegung anzustossen, was dieser Sachverhalt für unser eigenes Selbstverständnis als Priester auf Dauer bedeuten kann. Denn darin liegen ja auch Chancen und Herausforderungen, die Gott uns gerade durch diese kulturelle Situation anbieten mag: Gehört nicht eine richtig verstandene «sakrale Kompetenz» wesentlich zum sakramentalen «Heiligungsdienst» des Priesters, für den er schliesslich auch und sehr zentral geweiht wird?
Mit «sakraler oder mystagogischer Kompetenz» meine ich die aus persönlicher Vertrautheit erwachsene Befähigung, die Dimension des Heiligen in unserer Wirklichkeit offen zu halten, dessen also, was der Gegenstand des spezifisch religiösen Aktes ist, in dem Menschen sich dem verborgenen und doch sich auch immer wieder (gerade in Grenzerfahrungen) entbergenden Geheimnis unserer Wirklichkeit nähern wollen, sei es in Furcht vor der undurchschaubaren Fremdheit, sei es in der Hoffnung auf gewährte Nähe (vgl. die berühmte Charakterisierung des Heiligen durch R. Otto: «Mysterium tremendum et fascinosum»). Diese Dimension des «heiligen Geheimnisses» wird traditionell vor allem in bestimmten liturgischen Zeichen, Gesten, Handlungen und Erzählungen vergegenwärtigt.
Wenn nicht alle Beobachtungen der gegenwärtigen religiösen Situation täuschen, scheint genau dies für einen grossen Teil unserer Zeitgenossen, gerade für die 80% getauften Kirchenfernen ein wichtiger Anknüpfungspunkt ihres lockeren Kontaktes mit der Kirche und damit auch mit den Priestern zu sein. Die Suche nach dem Priester im traditionellen religionsgeschichtlichen Sinn, also nach dem «Mittler des Heiligen», bei dem sie durchaus auch eine persönliche Vertrautheit mit dem Heiligen (und nicht bloss eine rituelle) voraussetzen, scheint in unserer religiös so diffusen Gegenwartskultur auch bei Christen wieder stärker zu werden; und zwar sowohl bei den im traditionellen Sinn «Frommen» als auch bei den Kirchenfernen.
Wir tun uns sicher schwer mit solchen eher von aussen kommenden, kulturell bedingten und kirchlich nur wenig zu steuernden Entwicklungen. Denn sie laufen vielen berechtigten innerkirchlichen und theologischen Entsakralisierungsbemühungen im Priesterbild der nachkonziliaren Kirchenepoche zuwider. Die drohende Gefahr einer neuerlichen, vom Konzil doch endlich überwundenen Reduzierung des Priesters auf seine sakral-kultische Rolle ist nicht zu übersehen. Schliesslich setzt das innergemeindlich erwartete Priesterbild weithin andere Akzente (eben viel eher auf Integration, Partizipation, Kommunikation u.Ä.). Und dennoch: Das alles berechtigt uns nicht, vor dieser uns möglicherweise sehr störenden Entwicklung die Augen zu verschliessen, sie zu diskriminieren und damit zu verdrängen.
Die besondere Herausforderung und Chance sehe ich hier besonders in zwei Punkten:

  1. Man traut uns gesamtkulturell neben der diakonischen Kompetenz (mit der klaren Parteinahme für die Schwachen unserer Kultur) auch relativ ungefragt die religiös-sakrale Kompetenz zu. Das könnte ein guter Anknüpfungspunkt sein, zu verhindern, dass unsere spezifisch christliche Glaubenserfahrung vom «heiligen Geheimnis» als einer personalen, sich selbst verschenkenden Güte auf dem Grund aller Dinge im allgemeinen Bewusstsein nicht ganz verloren geht.
  2. Die kulturell bedingten Erwartungen helfen uns, eine rein innergemeindliche und innertheologische Sicht des Priesters, die oft auch sehr milieuzentriert und damit verengt ist, zu relativieren. Das bedeutet für den Priester, dass auch er verstärkt in diesem mystagogischen Dienst «ad extra» (also über die Gemeinde der aktiven Christen hinaus) präsent sein und ihn nicht einfach an andere pastorale Berufe delegieren sollte, um sich auf seine «eigentliche» Aufgabe innerhalb der Gemeinde zurückzuziehen. Das muss keineswegs ein neues, arbeitsintensives Tätigkeitsfeld sein. Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie wohltuend auf die Menschen schon ganz schlichte Segensgesten in den verschiedensten Kontexten (nach einem Gespräch, einem Besuch, bei Gottesdiensten mit mehrheitlich Kirchenfernen usw.) wirken; sie gehen tiefer als die vielen Worte, die wir machen. Es ist einfach ein wenig mehr Mut und Fantasie von uns gefordert, um die genuin sakramentale Kompetenz über den gewohnten Rahmen hinaus zu entfalten. Viele Menschen unserer Kultur erwarten es von uns, und dies keineswegs zu Unrecht.

 

2. Ad intra: Der Priester und das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden

Dass das 2. Vatikanische Konzil die alte patristische und scholastische Lehre vom gemeinsamen Priestertum wieder neu entdeckt und ins Zentrum seiner Ekklesiologie gestellt hat, gehört sicher zu den revolutionärsten und folgenreichsten Schritten des Konzils. Stichworte wie: Subjektwerdung der Gemeinde, Aufbau synodaler Strukturen, Entstehung vieler neuer pastoraler Berufe, Gemeindeleitung in Kooperation usw. machen deutlich, wie weit inzwischen das nachtridentinische Kirchenbild überwunden ist. Aber die Kehrseite der Medaille lässt sich auch nicht leugnen: eben eine gewisse Verunsicherung bei den Priestern selbst wie bei den Gemeinden, vor allem den aktiven, mitverantwortlichen (haupt- und ehrenamtlichen) Gemeindemitgliedern hinsichtlich der Frage, was denn nun das Spezifische des «besonderen Priestertums» sei, warum es das geweihte Priesteramt denn noch geben müsse.
Ich möchte hier nur ganz kurz den theologischen Konsens in dieser Frage resümieren, um dann mehr auf die situationsbedingte Problematik dieser Frage einzugehen und auch hier eine mögliche Perspektive bzw. Entwicklung anzudeuten. Theologisch wird auf die gestellte Frage heute generell so geantwortet: Das besondere, in der Weihe sakramental verliehene Priestertum ist das amtlich-repräsentative «Zeichen und Werkzeug» für das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden; es wird ganz in dessen Dienst gestellt. Zu welchem Dienst aber? Nun, das sakramental geweihte Priestertum innerhalb des gemeinsamen Priestertums soll «in persona ecclesiae» und «in persona Christi capitis» zugleich die (in Taufe, Firmung und Eucharistie verliehene) Teilhabe der ganzen Kirche an dem einen und einzigen heilswirksamen Priestertum Christi vergegenwärtigen. Dass die Selbsttranszendenz der Kirche auf Christus hin gelingen kann und sie so wirklich sein «Sakrament des Heils» für die Menschen, sein Leib bleibt, dafür soll das besondere Priestertum sorgen; dafür soll es gleichsam die sakramental-strukturelle «Möglichkeitsbedingung» sein; das heisst zwar notwendig, aber eher im Hintergrund (wie es einer «Möglichkeitsbedingung» entspricht...)<4>.
Die Frage geht aber noch einen Schritt weiter: Wie kann diese theologische Ortsbestimmung praktisch so realisiert werden, dass sie sowohl für den Priester selbst als auch für die anderen Glaubenden als eindeutiges und plausibles Identitätszeichen des Priesters sichtbar wird? Als reine «transzendentale» Möglichkeitsbedingung allein kann man ja wohl auch nicht leben...Darauf wird im Rahmen einer weithin akzeptierten Communio-Ekklesiologie heute meist so geantwortet: Die dem geweihten Amt des Priesters, vor allem auch des Bischofs zu eigene, ihm seine konkrete Identität verleihende Aufgabe liegt im Dienst der «Koinonia», also in der verantwortlichen Integration, in der konzentrischen Bündelung der Grundvollzüge der Kirche bzw. des Priestertums Christi (eben der Martyria, der Liturgia und der Diakonia)<5>. In all diesen Grundvollzügen sollen Bischof und Priester notwendig mittätig sein; keineswegs andere ausschliessend, sondern sie in weitest möglichem Mass einbeziehend, selbst bei der Leitungsaufgabe der Integration. Aber bei aller Partizipation und Kooperation ­ sie stehen als «Hirten» für die Einheit der Koinonia: in der Ortskirche, in den einzelnen Gemeinden und damit auch im Kontext der einen universalen Kirche.
So weit das theologische Resümee. Die Ausgangsfrage aber bleibt dennoch virulent: Wie kann dieser Koinonia-Dienst unter den zunehmend erschwerten Bedingungen (s.o.) konkret ausgeübt werden? Passt das Konzept nicht eher auf die ideale Situation, die mehr und mehr zur Ausnahme wird, dass nämlich ein Priester als «Presbyter» einer Gemeinde oder zumindest einem noch gut überschaubaren Gemeindeverband zugeordnet wird? Wie aber ist der geistliche Dienst der Integration und Leitung angemessen zu vollziehen, wenn die pastoralen Zuständigkeitsräume immer grösser und die verantwortlichen Priester immer weniger und immer älter werden?
Hier möchte ich eine Zwischenbemerkung einschieben: Es macht auf Dauer wenig Sinn, in diesem Dilemma sich ständig an den Zulassungsbedingungen zum Amt zu reiben und darin vor allem die Schuld zu sehen. Ich bin überzeugt: Auch wenn sie etwa in Richtung «viri probati» und «mulieres probatae» (zumindest als Diakoninnen) geändert würden, was zweifellos auch weltweit immer dringlicher not-wendig ist, brächte das zwar sicher eine spürbare Erleichterung und Entspannung der gesamten pastoralen Situation in sehr vielen Ortskirchen der Welt. Aber das kulturell bedingte Grundproblem der mittel- und westeuropäischen Kirchen, eben die weitgehende Aufkündigung der aktiven, gemeindebezogenen Mitgliedschaft der Getauften, wird dadurch nicht gelöst; die grösseren «pastoralen Räume» werden darum kommen, so oder so. Der Priestermangel ist bei uns vermutlich nur 15 bis 20 Jahre früher und härter zu spüren als der sich bereits deutlich anbahnende «Gemeindemangel» aufgrund des Fehlens genügend aktiver Mitglieder. Nur da, wo Gemeinden oder Dekanate es systematisch einüben, die Gläubigen im grossen Stil an der Verantwortung für die pastorale Sorge zu beteiligen, werden sie auch unter künftig erschwerten Bedingungen lebendig (und nicht bloss formal) weiterbestehen können. Einen Beweis für diese These liefert meines Erachtens die bereits viel weiter in dieser Richtung vorangeschrittene Situation der personell recht opulent ausgestatteten evangelischen Kirchen hier in West- und Mitteleuropa.
Darum noch einmal die Frage: Wie wird unter diesen sich schon deutlich anbahnenden Bedingungen der geistliche Dienst der Koinonia menschlich und theologisch verantwortbar zu leisten sein? Hier möchte ich in aller Vorsicht einige Prognosen wagen: Voraussichtlich immer stärker abnehmen wird leider die Integration durch eine unmittelbare seelsorgerliche Präsenz der Priester in den verschiedensten Lebensbereichen der Menschen und damit auch in den verschiedensten Grundvollzügen der Kirche. Das ist wohl der schmerzlichste Abschied, der den meisten Gemeindepriestern auf längere Sicht zugemutet wird; es wird ihnen (ähnlich wie den Bischöfen) wohl nur noch punktuell, exemplarisch oder in einem klar umgrenzten Feld eine seelsorgerliche Tätigkeit unter den Gläubigen möglich sein. Umgekehrt wird eine primär organisatorische, mehr oder weniger mit der formalrechtlichen Letztentscheidungsbefugnis agierende Integration auch nicht sehr zukunftsträchtig und identitätsstiftend sein; sie bleibt ­ bei aller partiellen Berechtigung ­ dem Priesterberuf zu äusserlich und fremdbestimmt.
Statt dessen sehe ich vor allem zwei Akzentsetzungen, die in Zukunft wohl immer grössere Bedeutung erlangen werden und die unlösbar miteinander gekoppelt werden müssen, um allzu krassen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Es sind Akzente des priesterlichen Dienstes, die gleichsam den «harten Kern» des katholischen Priesterbildes vor und nach dem 2. Vatikanischen Konzil betreffen; bekanntlich gewinnt gerade in Notzeiten so ein «harter Kern» des Selbstverständnisses an Gewicht.

2.1 Priestersein inmitten der anderen pastoral Verantwortlichen

Die Gruppe der aktiv das pastorale Leben (haupt- oder ehrenamtlich) tragenden und dafür verantwortlichen Christen wird sich wohl immer deutlicher als die «Primärgruppe» des priesterlichen Koinonia-Dienstes herauskristallisieren, also als der Ort seiner «unmittelbaren» Seelsorge («Seelsorge für die Seelsorger/Seelsorgerinnen»). Hier ist vor allem seine kommunikative und spirituelle Kompetenz gefragt, also die dialogisch-kooperative Leitung und die spirituelle Begleitung dieser Gruppe. In dieser Akzentuierung dürfte der «harte Kern» des vom 2. Vatikanischen Konzil geprägten «Presbyterbildes» bleibend zur Geltung kommen. Allerdings kann auf längere Sicht, das heisst bei zunehmender Grösse der «pastoralen Räume» und zugleich abnehmender Zahl der Priester meines Erachtens diese Aufgabe strukturell nur dann gut erfüllt werden, wenn in dem jeweiligen, relativ «grossflächig» angelegten pastoralen Leitungsteam (wie etwa in der Ortskirche von Paris) auch mehrere Priester vertreten sind; wenn also wenigstens annähernd die altkirchliche und vom 2. Vatikanischen Konzil wieder neu entdeckte Struktur des Presbyterkollegiums auch auf der Ebene der alltäglichen pastoralen Arbeit innerhalb eines grösseren Seelsorgebereichs realisiert wird (ob mit oder ohne die Lebensform einer strikten «vita communis»). Denn so liessen sich am ehesten die verschiedenen priesterlichen Kompetenzen der Einzelnen (ob Leitung im strikten Sinn oder mehr geistliche Begleitung, ob mehr sakramentaler oder mehr diakonischer Einsatz in den verschiedenen Gemeinden) etwas stärker ausdifferenzieren und profilieren, so dass nicht alles doch wieder irgendwie «letztverantwortlich» an einem Priester hängen bleiben muss. Dies käme durchaus auch der Profilierung der anderen haupt- und ehrenamtlichen Dienste innerhalb eines solchen Leitungsteams zugute, die dann eben nicht ständig dazu gebraucht würden, den Priester zu «vertreten».
Eine solche mehr kollegiale Ausübung des priesterlichen Amtes kostet allerdings noch viel mehr als bisher den hohen und sicher auch sehr bedenklichen Preis des zunehmenden Verzichts auf eine flächendeckende, einigermassen ausgeglichene Präsenz eines Priesters in allen künftig noch existierenden grösseren oder kleineren Gemeinden eines Bistums. Da wir diesen Preis aber ­ bei weiterem unbeweglichem Festhalten an den geltenden Zulassungsbedingungen ­ vermutlich eh zahlen müssen, scheint mir eine kollegiale Zuordnung mehrerer Priester zu grösseren (und darum wenigeren) «Seelsorge-Einheiten» generell dann doch eine bessere Perspektive für diesen Beruf zu sein, als der gegenwärtig bei uns weithin praktizierte (aber wohl letztlich aussichtslose) Versuch, flächendeckend für alle Gemeinden so lange wie möglich wenigstens einen Priester bereitzustellen (natürlich in «kooperativer Gemeindeleitung» mit anderen verantwortlichen Diensten, unter anderem auch gelegentlich mit einem Kaplan oder einigen pensionierten Priestern). Denn hierbei scheint mir die steigende strukturelle Überforderung und somit auch Unattraktivität des Berufs eines Gemeindepriesters vorprogrammiert zu sein.<6>
Soweit zu dem ersten Akzent, der vor allem die zukünftige Rolle des Priesters im Kreis der pastoral Verantwortlichen betrifft. Nun zum zweiten Akzent, bei dem es um die künftige Beziehung des Priesters zu den Gläubigen insgesamt geht.

2.2 Der Koinonia-Dienst des Priesters in der Eucharistie

Im Hinblick auf die Gemeinschaft der Gläubigen insgesamt wird vermutlich am ehesten wieder die traditionelle «real-symbolische» Integration durch den Priester aufgewertet werden. Das bedeutet konkret: Die Eucharistie als wirksames Realsymbol der Communio und der Bündelung aller kirchlicher Grundvollzüge wird noch viel stärker als bisher die hervorgehobene Weise des priesterlichen Integrations- und Leitungsdienstes sein, ohne dass er darauf reduziert werden kann und darf. Die Gründe dafür sind vielfach: primär das Gewicht der diesbezüglichen kirchlichen Tradition seit dem 3. Jahrhundert, das sich in Notzeiten noch viel stärker bemerkbar macht als ohnehin schon; dann aber auch die erneuerte und allgemein rezipierte Communio- und Eucharistie-Theologie des 2. Vatikanischen Konzils; ebenso die in der Gemeinde-Spiritualität fast aller Ortskirchen der Welt weiterhin ungebrochen geltende Verbindung von Priester und Eucharistiefeier; und schliesslich die relative Eindeutigkeit, mit der dieser Dienst in der kirchlichen Öffentlichkeit von allen wahrgenommen und als priesterlicher Dienst identifiziert werden kann. All das wird meines Erachtens dazu beitragen, dass für die künftige Glaubenssituation bei uns die Eucharistie (samt den damit unmittelbar verbundenen sakramentalen und kerygmatischen Diensten) sehr dominant als das Proprium des priesterlichen Dienstes hervortreten wird ­ jedenfalls viel mehr als uns von der konziliaren und nachkonziliaren Amtstheologie und unserer gewohnten Praxis her vertraut und lieb ist. Aber ob es uns passt oder nicht; ich bin ziemlich sicher, dass es so kommen wird, allein schon vom Blick auf die Kirchen in der so genannten «Dritten Welt» her. Diese Kirchen müssen schon lange mit sehr viel weniger Priestern und bedeutend grösseren pastoralen Räumen leben als wir und sind im Ganzen doch recht lebendige, kreative Kirchen. Ihr pastoraler Einfluss auf uns hier in Europa wird in Zukunft sicher stärker sein als umgekehrt.
Wiederum stellt sich die Frage: Wie stellen wir uns darauf ein? Es hat auch da wenig Sinn, diese Entwicklung nur zu schmähen, nur die (zweifellos bestehende) Gefahr einer Reduzierung des Priesters auf den klassischen Messpriester oder Kultdiener zu beschwören, der herumreist und nur aus dem Messkoffer lebt. Völlig d'accord! Aber ich denke, es liegen auch hier Chancen und Herausforderungen, die wir mit pastoraler und liturgischer Fantasie aufgreifen könnten.
Um der genannten Gefahr zu entgehen, wird es vor allem wichtig sein, die konziliare Eucharistie-Theologie lebendig zu halten: dass die Eucharistie eben nicht wieder bloss auf die Darbringung und «Wandlung» der Opfergaben durch den Priester reduziert wird, sondern in einem weiten ekklesiologischen Kontext angesiedelt bleibt; eben als einheitsstiftende Mitte des Volkes Gottes, das als ganzes Subjekt dieser Feier ist; als sakramentale Ermöglichung und konzentrische Bündelung aller wichtigen Lebensvollzüge der Kirche usw. Gerade wenn sich diese real-symbolische Integration in Zukunft immer weniger auf eine bestimmte Ortsgemeinde bezieht, sondern auf grössere pastorale Räume, wird dieser ekklesiologische Rahmen als Kriterium ausserordentlich wichtig sein: nämlich bei der Unterscheidung der Geister, wie oft am Sonntag am selben Ort eine Eucharistiefeier im Dienst dieser kirchlichen Communio sinnvoll gefeiert werden soll, oder wo, in welcher Kirche und für welches «Einzugsgebiet» sie stattfinden soll.<7>
Wenn wir uns heute schon auf diese Entwicklung wohlwollend und kritisch zugleich einstellen wollen, gehört dazu ­ neben der unaufgebbaren ekklesiologischen Verortung der Eucharistie ­ ganz entscheidend eine liebe- und fantasievolle Pflege der Eucharistiefeier sowohl durch die Priester wie auch durch möglichst viele andere Mitwirkende und durch alle Mitfeiernden. Zwei Dinge sind nach meiner Erfahrung da besonders wichtig:

  1. Einmal, dass die Eucharistie auch wirklich erfahrbar integrierend, also Koinonia-stiftend gefeiert wird: dass also möglichst viele Mitfeiernde auch aktiv als Träger der liturgischen Handlung auftreten; dass die verschiedenen Altersstufen und Lebenssituationen, gerade Kinder, Jugendliche, junge Familien ausdrücklich mit einbezogen werden, so dass es ihnen Freude macht, auch in einem normalen Sonntagsgottesdienst mitzufeiern. Nur so kann Kirche als Communio durchaus spürbar mit allen Sinnen erfahren werden; und auch der Priester selbst kann dabei erleben, wie sinngebend und erfüllend gerade diese sakramentale Mitte seines Berufes sein kann.
  2. Zum anderen hängt sehr viel davon ab, ob die Eucharistie auch in ihrer Symbolkraft sinnenhaft erfahrbar (eben «real-symbolisch») gefeiert wird. Sie darf weder im routinierten Abspulen des Ritus noch in der wuchernden Red- und Betseligkeit eines sich allzu spontan gebärdenden «Zelebrierens» verkommen. Wenn zum Beispiel Priester heute klagen, dass viele Gläubige kaum einen Unterschied mehr zwischen einer Eucharistiefeier und einem Wortgottesdienst mit Kommunionausteilung wahrnehmen (es sei denn gerade noch, dass in der Eucharistie die Hostien ­ wie früher für die Andacht, so heute ­ für den Wortgottesdienst mit Kommunionfeier bereitgestellt werden), dann liegt das eben nicht so sehr an der mangelnden theologischen Bildung unserer Gottesdienstgemeinden, sondern viel mehr an der von uns mitverschuldeten Verkümmerung der eucharistischen Symbolik. Einige Stichworte: Das Brotbrechen, das ja ursprünglich das zentrale eucharistische Symbol war, wird heute meist nur en passant vollzogen; die Kommunion unter beiden Gestalten wird fast immer den praktischen Erwägungen geopfert; die Einbeziehung der Gemeinde ins Hochgebet könnte durch eingeschaltete Liedrufe oder Ähnliches deutlich verstärkt werden; zentrale Passagen des Hochgebetes könnten gesungen werden; in der Gabenbereitung könnte deutlicher dargestellt werden, wie wichtig für Gott das wenige ist, das wir bringen, damit er es segne und zur Lebensspeise für uns werden lässt usw. Es ist so vieles in der Eucharistie verkümmert und zur Routine geworden. Darum ist es eben für das allgemeine Bewusstsein gleich-gültig geworden oder geblieben, ob die Hostien bei der Kommunion aus dem Tabernakel oder aus der Opferschale vom Altar ausgeteilt werden. Von daher braucht es niemanden zu wundern, wenn die Gläubigen bei einem gut gestalteten Wortgottesdienst mit Kommunionausteilung (was aber als Regelfall theologisch und liturgisch in der Tat doch recht frag-würdig ist) die volle Eucharistiefeier nicht sonderlich vermissen. Aber das ist weniger durch rechtliche Anordnungen zu verändern als durch eine bewusste «eucharistische Kultur».

Ich möchte es bei diesen Andeutungen belassen. Die beiden bescheidenen Perspektiven oder Entwicklungslinien für den priesterlichen Dienst ­ «Segensdienst» ad extra und «Koinonia-Dienst» ad intra ­ stehen offensichtlich in Spannung zueinander; aber in einer Hinsicht konvergieren sie auch auf das hin, was man sakrale, mystagogische oder sakramentale Kompetenz nennen kann. Diese Befähigung nicht nur nicht zu vernachlässigen, sondern sie fantasievoller zu pflegen und daraus ein menschlich und geistlich lebbares Profil für den priesterlichen Dienst zu gewinnen (ohne ihn darauf zu reduzieren!), das ist das Anliegen dieser Ausführungen.

 

Der Jesuit Medard Kehl ist Professor für Dogmatik an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt a.M. Der hier veröffentlichte Beitrag erschien zuerst in W. Schreer, G. Steins, Auf neue Art Kirche sein. Wirklichkeiten ­ Herausforderungen ­ Wandlungen. Festschrift für Bischof Dr. Josef Homeyer, München 1999, 167­177.


Anmerkungen

1 HK 50 (1996) 251­254.

2 Vgl. M. N. Ebertz, Kirche im Gegenwind, Freiburg i.Br. 1997, 64f.

3 M. N. Ebertz, aaO. 65f.; ders., Ein Ordnungsruf. Zur sakralen und funktionalen Autorität, in: Pastoralblatt 50 (1998) 58f.

4 Vgl. M. Kehl, Die Kirche, Würzburg 31994, 105­115; 432­438.

5 Vgl. E. Kunz, Die Lehre von der Eucharistie. Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript, Frankfurt a.M. 1997, 69.

6 Vgl. dazu auch meine Überlegungen hinsichtlich der Tendenz zu Mittelpunktsgemeinden oder «Kristallisationspunkten» des kirchlichen Lebens, in: Wohin geht die Kirche? Freiburg i.Br. 61997, 131ff.

7 Vgl. dazu den Fastenhirtenbrief von Bischof Franz Kamphaus: Unser Sonntagsgottesdienst (Limburg 12.2.1998).


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