19/2001

INHALT

Berichte

1700-Jahr-Feier der Armenisch-Apostolischen Kirche

von Iso Baumer

 

Als sich die 1700 Jahre seit der Gründung der armenischen Kirche unter Gregor dem Erleuchter und König Trdat III. näherten, besann sich die Kirchenleitung auf eine sinnvolle Begehung dieses Gedächtnisses; es sollte nicht nur retrospektiv sein, sondern auf eine Erneuerung der ganzen Kirche, in der Heimat wie in der Diaspora, hinzielen. Eine grosse Jugendwallfahrt ist auf den Juli vorgesehen. Eine katechetische Erneuerung, eine Art Intensiv-Kurs von sechs Wochen, erfasst alle Jugendlichen in den Gemeinden. Es genügt nicht mehr, einfach Armenier zu sein, um der Kirche anzugehören: Man muss auch wissen, was man glaubt! Im Weiteren entfalten die Priester und Bischöfe ein weites Besuchsprogramm in den Städten, Dörfern und Familien. Auch organisatorische Anstrengungen werden gemacht, um die verschiedenen Bevölkerungs- und Altersgruppen zu erfassen. Dabei besinnen sie sich auch auf ihren Platz als Ortskirche in der Universalkirche und pflegen diese Kontakte intensiver als schon eh und je. In diesen Zusammenhang gehört die Tagung, die das Institut für Ökumenische Studien an der Theologischen Fakultät in Freiburg i.Ü. (Guido Vergauwen OP und Barbara Hallensleben, mit P. Basilius Welscher) zusammen mit dem Pfarrer der armenischen Gemeinde in Genf, Dr. Abel Oghlukian, von langer Hand vorbereitet hatten.

Die armenische Kirche

Die Armenisch-Apostolische Kirche führte sich auf die Apostel Thaddäus und Bartholomäus zurück; doch blieben die Christen vereinzelt und bildeten noch keine eigentliche zusammenhängende Kirche. Das geschah durch Gregor den Erleuchter zusammen mit dem armenischen König Trdat III., der im Jahre 301 seine ganze Nation zum Christentum führte. Zunächst wurde der Gottesdienst auf Griechisch oder Syrisch gefeiert. Die Erfindung des armenischen Alphabets durch den Mönch Mesrob-Maschtotz ein Jahrhundert später war eine kulturschaffende Tat ersten Ranges. Die Bibel, die Liturgie, die Kirchenväter wurden in rascher Folge übersetzt, eigene Werke wurden geschaffen, es brach sogleich das «Goldene Zeitalter der armenischen Literatur» aus. Als Durchgangsland im Kaukasus war Armenien stets der Begierde anderer Mächte ausgesetzt, der Römer, der Byzantiner, der Perser, der Araber, der Türken, und ihr Land war immer nur kürzere Zeit vollumfänglich unabhängig.
Am Konzil von 451 in Chalkedon bei Konstantinopel konnten sie nicht teilnehmen, weil sie in einem entscheidenden Krieg gegen die Perser und somit gegen deren Religion standen. Als sie die Konzilsdokumente mit den zentralen christologischen Fragen um «Natur» und «Person» zur Kenntnis bekamen, hatten sie den Eindruck, der alte Glaube sei darin verfälscht, und sie entschlossen sich, beim alten Glauben zu bleiben. Wer das semantische Feld dieser Begriffe im Armenischen und Griechischen (übrigens auch im Syrischen) bedenkt, begreift, dass es zu terminologischen Missverständnissen kommen konnte. Nur wurden diese dann als Unterschiede im Glauben betrachtet, und die Armenier galten fortan (mit den Syrern und Kopten) als schismatisch (und manche sagten sogar häretisch). Die historischen und linguistischen Forschungen des 20. Jahrhunderts haben ergeben, dass dem nicht so ist, und dass die Kirchen ­ auch ohne explizite Anerkennung der späteren Konzilien ­ den gleichen Glauben mit den Orthodoxen und den Römisch-Katholiken teilen (immer abgesehen von den bekannten «restlichen» Trennpunkten, denen man viel zu viel Gewicht beimisst).
Heute ist die armenische Kirche gegliedert in das Katholikossat (Katholikos hiess das Oberhaupt einer Kirche ausserhalb der Grenzen der Reichskirche) aller Armenier in Etschmiadzin und das Katholikossat von Kilikien (heute im Libanon); die beiden standen sich bisweilen eher reserviert, wenn nicht feindlich gegenüber, doch sind die Beziehungen heute ausgezeichnet. Sie haben sich beide bestimmte einigermassen getrennte Jurisdiktionsgebiete zugewiesen. Zum ersten gehören auch die beiden Patriarchate von Konstantinopel und Jerusalem. Man zögert, Zahlen zu nennen, da genaue Statistiken nicht vorhanden sind. Man kann von 6 bis 8 Millionen Gläubigen insgesamt ausgehen, von denen etwa ein Drittel im heutigen Armenien wohnt, ein Drittel in den verschiedenen Ländern der früheren Sowjetunion (vor allem im Süden) und ein Drittel in der Diaspora im Nahen Osten, Ägypten, Amerika und Europa. Das Trauma, woran die ganze Kirche heute noch leidet, ist der türkische Genozid 1895, 1909 und vor allem 1915, dem fast die Hälfte der damaligen armenischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Dass man der Türkei im Hinblick auf ihren Eintritt in die EU allenfalls die Kurdenfrage in Erinnerung ruft, aber viel zu wenig ihr damaliges und auch noch heutiges Verhalten zu den Christen, gehört zur Einäugigkeit der europäischen Politik.
Neben der Armenisch-Apostolischen Kirche gibt es noch eine kleine mit Rom verbundene Armenisch-Katholische und eine noch kleinere, aber sozial sehr wirksame Armenisch-evangelische Kirche, die miteinander gut auskommen.

Die Tagung in Freiburg und der Gottesdienst in Genf

Erzbischof Hovnan Derderian von Montréal, zurzeit Leiter der Jubiläums-Feierlichkeiten in Armenien, überbrachte die Grüsse des Katholikos-Patriarchen aller Armenier, Karekin II. Er feierte auch am Sonntag mit dem Genfer Pfarrer und einem Pfarrer einer der acht armenischen Gemeinden von Marseille die Heilige Messe, an der der Apostolische Nuntius Pier Giacomo De Nicolò eine Grussadresse ausrichtete und Weihbischof Pierre Farine eine auf das Tagesevangelium bezogene tiefe Homilie hielt. Anschliessend verlas er eine Grussadresse von Bischof Amédée Grab von Chur, der seit seiner Genfer Zeit sehr freundschaftliche Beziehungen zu den Armeniern hat.
Die Vorträge beschlugen «Die Geschichte der Armenisch-Apostolischen Kirche als Quelle der Erneuerung» (Bischof Yeznik Petrossian, Etschmiadzin) und «Die Geschichte der Armenisch-Apostolischen Kirche in der Schweiz» (Dr. Abel Oghlukian), die vor allem mit dem Genozid einsetzt, aber schon früher eine entschiedene Einstellung des Schweizer Volkes und eine zaudernde des Bundesrates gegenüber den schrecklichen Ereignissen aufwies.<1> Dr. Giovanni Guaita aus Moskau, der mit dem früh verstorbenen Katholikos Karekin I. ein umfassendes Interview geführt hatte (es ist unterdessen in Französisch, Englisch, Russisch und Armenisch erschienen), zeichnete ein fesselndes Bild dieses grundgescheiten, offenen und frommen Kirchenmannes. Theologisch ausgerichtet waren die Ausführungen von Erzbischof Schahé Adschemian aus Erewan über das theologische Denken seiner Kirche und die neue Aspekte aufzeigende Vorlesung von Prof. Ernst Christoph Suttner über die kirchentrennenden Vorgänge in Chalkedon 451. Unter den drei Vertretern der Armenienkunde an der Universität Freiburg (Max von Sachsen, M.-A. van den Oudenrijn, Dirk Van Damme), die der Berichterstatter vorstellte, hatte sich der mittlere intensiv mit den Missionsbemühungen der Dominikaner bei den Armeniern befasst, was Dr. Oghlukian die Gelegenheit gab, die Geschichte vor allem der so genannten Fratres Unitores, gegründet 1330, nach armenischen Quellen zu schildern. Schliesslich kam das Verhältnis der armenischen Kirche zur ökumenischen Bewegung, vor allem aber auch zu den Orthodoxen (V. Phidas, Athen) und den Reformierten (H.R. Gazerian, Halle/Saale, an Stelle des verhinderten Prof. Hermann Goltz) zur Sprache.<2>
Vieles wurde gesprochen, sehr offen, sehr freundschaftlich, und manche symbolischen Gesten wurden mit Herzlichkeit ausgetauscht. Man konnte erfahren, wie tief etwa die Überlassung von Reliquien von Gregor dem Erleuchter an die armenische Kirche, wie sie Papst Johannes Paul II. vollzogen hat, sich ins Gedächtnis der Armenier prägt. Alle Beteiligten waren sich einig, dass ein grosser Schritt in ökumenischer Richtung gelungen war.


Anmerkungen

1 Einen Beitrag über die Armenisch-Apostolische Kirche in der Schweiz von Pfarrer Dr. Abel Oghulukian werden wir demnächst in diesen Spalten veröffentlichen.

2 Die Vorträge der Tagung können ab sofort bestellt werden beim Institut für ökumenische Studien, Universität Freiburg i.Ü., Telefon 026-3007432, Fax 026-3009783, E-Mail Richard.Kager@unifr.ch


"Ich sterbe nicht stoisch, sondern christlich"

von Alois Steiner

 

Maurice Bavaud, 1916­1941, war wohl der einzige Schweizer, der aktiv versuchte, Hitler durch ein Attentat umzubringen.<1> Mit seltener Klarheit erkannte er schon früh, dass der deutsche Führer eine Gefahr für die Menschheit, für die Christenheit und nicht zuletzt für die Schweiz darstellte, deren Unabhängigkeit durch ihn bedroht war. Bavaud sah, dass in Deutschland die katholische Kirche und die katholischen Organisationen bedroht waren, und er glaubte, mit seiner geplanten Tat der Menschheit einen Dienst zu erweisen.
Der Neuenburger stammte aus einer kinderreichen katholischen Familie. Er absolvierte eine Berufslehre als technischer Zeichner in der Uhrenfabrik Favag. Aufgrund seiner Neigungen zog es ihn jedoch mehr zur Literatur hin, was ihn schliesslich in ein französisches Seminar führte, wo er sich auf dem zweiten Bildungsweg zum Missionar ausbilden lassen wollte. Er absolvierte sein Theologiestudium im Seminar der Väter vom Heiligen Geist in St. Jlan (Bretagne). 1938 brach er sein Studium ab und kehrte nach Neuenburg zurück.
In diesem kritischen Jahr 1938 muss er seinen Entschluss gefasst haben, Hitler zu töten. Ohne jemanden auch nur die geringste Andeutung zu machen, verliess er am 9. Oktober die Schweiz und fuhr nach Deutschland. Zu diesem Zweck kaufte er eine Pistole samt Munition und versuchte herauszufinden, wo Hitler in der Öffentlichkeit auftauchte. Als Motivation für sein Vorhaben kann nur eine Vorahnung von Hitlers verbrecherischen Taten und deren grauenhaften Folgen angenommen werden.

Auf der Ehrentribüne in München

Es gelang Bavaud, am 9. November 1938 beim Gedenkmarsch der Nazi-Grössen in München einen Platz auf der Ehrentribüne zu erhalten. Das geplante Attentat konnte er dort allerdings nicht ausführen. Die Distanz zum vorbeimarschierenden Hitler war zu gross für seine kleinkalibrige Waffe, und die zum Hitlergruss erhobenen Arme der vor ihm stehenden SA-Männer verdeckten ihm die Sicht. In den folgenden Tagen versuchte er hartnäckig, das Ziel doch noch zu erreichen, allerdings erfolglos. Da ihm inzwischen das Geld ausgegangen war, wollte er Deutschland verlassen. Er wurde jedoch am 12. November in der Eisenbahn verhaftet, weil er keine Fahrkarte besass. Man fand bei ihm die Pistole und einige verdächtige Dokumente. Die Untersuchungen begannen: Er wurde wegen Fahrkartenbetrug und unbefugten Waffentragens zuerst für zwei Monate Gefängnis gebüsst und anschliessend der Gestapo übergeben.
Da die Nazijustiz hinter Bavaud keinen Einzeltäter, sondern einen katholischen Kreis von Verschwörern witterte, zog sich die Untersuchung und dadurch die Einzelhaft über 30 Monate in die Länge. Gegenüber der Gestapo machte der junge Neuenburger teilweise unter Folter widersprüchliche Aussagen. In der Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof in Berlin am 18. Dezember 1939 sagte Maurice Bavaud aus, er hätte den Attentatsplan allein aus sich heraus gefasst. Bavauds Verteidiger Wallau, der Freispruch beantragte, erwähnte nichts von einem Komplott, das ihn entlastet und möglicherweise vor der Guillotine bewahrt hätte.

Starke Persönlichkeit

Seine Familie hat ihn immer als Einzeltäter beurteilt. Dass er als starke, ungebrochene Persönlichkeit seinen letzten Gang in Berlin-Plötzensee ­ trotz langer Einzelhaft ­ antrat, beweist das eindrucksvolle Zeugnis seines Abschiedsbriefes aus der Todeszelle an seine Familie:

«Lieber Papa, liebe Mama
Ich las gerade den Nachweis der Existenz der Seele bei Descartes. Es war acht Uhr, als man mir ankündigte, diese Nacht sei die letzte, die ich hinieden verbringe. Ich war weit entfernt, auf so etwas gefasst zu sein; aber ich habe kaltes Blut bewahrt, was mir ein gutes Vorzeichen zu sein scheint, bis um sechs Uhr, dem Moment, wo mein Kopf fallen wird. Das ist ein fürchterlicher Moment, und er wäre ganz unerträglich ohne die Hoffnung auf einen Gott, der die Guten belohnt und die Schlechten bestraft. Ich sterbe also im Schoss der römischen katholischen Kirche. Mit Christus verzeihe ich alles, was es zu verzeihen gibt. Mein Herz empfindet nicht mehr den geringsten Groll gegen irgendwen. Ach wie wohltuend ist es zu verzeihen, vor allem in diesem Augenblick. Ich bitte auch meinen Vater im Himmel, meinen Feinden zu verzeihen. Ich selbst bitte alle um Vergebung, die mir etwas vorzuwerfen haben. Im übrigen hat während meines kurzen Lebens mein Herz nie wirklichen Hass empfunden. Ich sterbe nicht stoisch, sondern christlich.»

Am 14. Mai 1941 wurde Maurice Bavaud in Berlin-Plötzense enthauptet.

Versagen der Gesandtschaft in Berlin

Der Schweizer Gesandte in Berlin, Minister Frölicher, hatte den nicht ausgeführten Attentatsversuch als «verabscheuungswürdige Tat» abgestempelt und sich geweigert, Bavaud im Gefängnis zu besuchen. Diese Haltung des eher nazifreundlichen Gesandten passt genau zur schwachen Persönlichkeit, die damals die Interessen der Schweiz in Berlin gegenüber Nazideutschland zu vertreten hatte. Minister Frölicher weigerte sich, für den Häftling nachhaltig zu intervenieren. Im Januar 1940 empfahl er den deutschen Behörden zwar beiläufig, die Exekution nicht zu vollstrecken, aber ein formelles Begnadigungsgesuch wollte er nicht stellen. Die Deutschen konnten mit gutem Grund darauf vertrauen, dass die Schweiz gegen eine Hinrichtung nicht protestieren werde. Den Vorschlag von Vater Bavaud, seinen Sohn gegen einen inhaftierten Spion auszutauschen, lehnten die Bundesbehörden ab.

Wider das Vergessen

Am 19. Juni 1997 richtete Nationalrat Paul Rechsteiner eine Einfache Anfrage an den Bundesrat und erkundigte sich, wie die heutige Landesregierung den Fall Bavaud beurteile: «Wäre Bavauds Attentatsversuch erfolgreich verlaufen, hätte Hitler weder einen Angriffskrieg auslösen noch die Ermordung von Millionen von europäischen Jüdinnen und Juden anordnen können. Obschon Maurice Bavaud zu den Schweizer Helden jener Zeit gehört, ist er doch in der öffentlichen Meinung kaum präsent.»
Bundesrat Flavio Cotti zeichnete in seiner Antwort vom 1. April 1998 die nicht bis ins letzte Detail geklärte Haltung von Maurice Bavaud nach. Er wies anhand von Dokumenten des Bundesarchivs auf die schwache Haltung der Berliner Gesandtschaft hin: Am 4. Januar 1940 informierte die Gesandtschaft in Berlin das Eidgenössische Politische Departement (heute EDA) in Bern eingehend, wobei sie es als «für die Gesandtschaft ausserordentlich heikel» bezeichnete, «sich für eine Begnadigung zu verwenden». Frölicher setzte sich nicht vorbehaltlos für den Verurteilten ein. Cotti bestätigte die bitteren Feststellungen von Bundesrat René Felber aus dem Jahre 1989, die damaligen schweizerischen Behörden hätten Unterlassungen begangen, namentlich die Berliner Gesandtschaft. Der bundesrätliche Sprecher drückte den noch lebenden Angehörigen von Maurice Bavaud das Bedauern des Bundesrates aus: Maurice Bavaud habe möglicherweise geahnt, welches Verhängnis Hitler über die Welt und namentlich über Europa bringen würde. Dafür verdiene er Anerkennung und einen Platz in unserem Gedächtnis.<2>


Anmerkungen

1 Zum 60. Gedenktag der Hinrichtung von Maurice Bavaud durch Hitlers Schergen am 14. Mai 1941.

2 Dokumentation
Zum 60. Todestag wurde eine ausführliche Dokumentation zusammengestellt, die beim «Comité Maurice Bavaud», Postfach 273, 3006 Bern 16, zum Preis von Fr. 25.­ erhältlich ist.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001