7/2000

INHALT

Theologie in Luzern

Homosexualität in biblischer Perspektive

von Adrian Schenker

 

Absicht dieser unvermeidlicherweise gedrängten Darstellung ist es, auf unentbehrliche Differenzierungen aufmerksam zu machen, die meines Erachtens leicht übersehen werden, wenn von Homosexualität oder Homophilie in der Heiligen Schrift die Rede ist. Damit ist auch schon die Grenze dieser Erwägungen gezogen. Sie beschränken sich ausschliesslich auf das biblische Segment des vielfältigen Problemkreises, den eine ethische Gesamtbeurteilung von Homophilie umfassend behandeln muss.

1. Das Problem der Deutung des biblischen Befundes

Das biblische Segment in der moraltheologischen Bewertung oder Kriteriologie der Homosexualität verdient sorgfältige Beachtung, weil es nicht leicht korrekt zu interpretieren ist. Dies geht zum Beispiel aus der Art und Weise hervor, wie das Stichwort Homosexualität in der neuen Auflage des berühmten Lexikons für Kirche und Theologie den biblischen Befund darstellt.<1> Es fehlt darin die abwägende exegetische Gewichtung der verschiedenen biblischen Stellungnahmen zu dieser Form des menschlichen geschlechtlichen Lebens.

2. Die beiden Verbote in der Tora

In der alttestamentlichen Hermeneutik steht die Unterscheidung der Textarten am Ausgangspunkt, in denen Homosexualität vorkommt. Erzählungen stehen in anderen Horizonten als explizite Verbote im Gesetzeswerk des Pentateuch, und innerhalb der Gebotssammlungen im Pentateuch ist jeweils der Zusammenhang der Einzelvorschriften mit in die Deutung einzubeziehen. Diese Regel wird überdies entscheidende Folgen für die Interpretation der Stellen haben, wo Paulus im NT von Homosexualität spricht, weil für den Apostel die ethischen Gesetze der Tora ihre uneingeschränkte Geltung für die Jünger und Jüngerinnen Jesu bewahren.
Das Verbot gleichgeschlechtlichen Verkehrs findet sich in Lev 18,22 und 20,13. Es ist wichtig darauf zu achten, dass diese Verbote nur den homosexuellen Geschlechtsakt zwischen Männern untersagen. Die Homosexualität von Frauen ist nicht ausdrücklich ins Auge gefasst, und erst recht gibt es kein Verbot der homophilen Neigung als solcher. Warum weiblich homophile Geschlechtsakte nicht verboten sind, wird unten möglicherweise verständlicher werden.
Die beiden Verbote sollen hier nicht von ihrer formalen, sprachlichen Seite her charakterisiert werden (4). Im vorliegenden Zusammenhang genügt es, zunächst ihren weiteren Kontext zu benennen. Sie stehen im so genannten Heiligkeitsgesetz (Lev 17­26), das ins 6. oder eher 5. Jh. v. Chr. datiert wird. Der nähere Kontext von Lev 18 ist eine Sammlung von Inzest-Verboten (Geschlechtsverkehr unter Verwandten verschiedenen Grades). Diese Inzest-Verbote, 18,6­18, wenden sich an den Mann (nicht an die Frau!). Ihnen angeschlossen werden fünf weitere Formen von Geschlechtsverkehr mit Nicht-Verwandten, die verboten sind: ein Mann mit einer menstruierenden und mit einer verheirateten Frau, ein Mann mit einem Mann (unser Vers, 18,22), ein Mann mit einem Tier, eine Frau mit einem Tier. Dazu tritt als 6. Verbot dasjenige der Darbringung eines Kindes für Moloch (18,19­23). Alle Verbote von Lev 18 zusammengenommen ergeben die Zahl Zwanzig. Sie sind eingerahmt durch Ermahnungen, 18,2­5 und 18,24­30. Ermahnungen und Verbote werden von Gott (JHWH) Mose im Offenbarungszelt, Lev 1,1, mitgeteilt, damit er sie den Israeliten übermitteln kann, Lev 18,1 und 1,2. Sie stellen somit in der Perspektive der Verfasser des Gesetzes Gottes Wort und Willen dar, aber sie gehören nicht zum allerinnersten und bedeutendsten Kern der Offenbarung, denn dieser wird auf dem Berge kundgetan, vgl. Lev 25,1.
Die Verbote werden fast ohne Begründung erlassen. Als eine Begründung für das Verbot des gleichgeschlechtlichen Verkehrs unter Männern dient der Ausdruck «Greuel», tô'e-bâ, Lev 18,23. Es ist hier nicht der Platz für eine Analyse seiner Bedeutungskomponenten. Er scheint so etwas wie unverträglich, inkompatibel mit göttlicher Gegenwart im kultischen oder liturgischen Raum zu bedeuten. Aufschlussreicher für das Verständnis der zwanzig Verbote des Kapitels sind bestimmte Nebenbemerkungen in Lev 18. So begründet V. 18 das Verbot, in einen polygamen Haushalt zwei Schwestern als zwei Gattinnen desselben Mannes einzuführen, weil so die Schwestern zu Nebenbuhlerinnen gemacht würden. Zwischen Geschwister darf kein Keil getrieben werden. Warum nicht? Welches Gut soll durch eine solche Gesetzesdisposition geschützt werden? Das gute Einvernehmen von Geschwistern ist offenbar ein schützenswertes Gut. Sie sind aufeinander angewiesen und müssen sich im Leben Stützen sein können. Dieses Ethos drückt das Sprichwort unübertrefflich aus: «Ein Freund liebt zu jeder Zeit, aber ein Bruder (eine Schwester) ist für die Zeit der Not geboren!» (Spr 17,17). Geschwister sind füreinander Lebensversicherung. An wen soll man sich denn im Leben wenden, wenn nicht an die eigenen Leute, die Geschwister, sobald Hilfe nötig ist?
Daraus darf somit verallgemeinert werden: die Inzest-Verbote in Lev 18 schützen die durch die Geburts- und Ehesituation geschaffenen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander vor Beziehungsverwirrungen, welche den Individuen in der Familie Frieden und Sicherheit im Schosse ihres Lebenskreises nehmen würden. Dazu passt das Verbot, Kinder dem Moloch darzubringen, Lev 18,21. Weder Kinder noch Eltern sollen je der Angst ausgesetzt sein, sich in der Situation von Opfern oder Mördern begegnen zu müssen. Das Ehebruchsverbot, 18,20, schützt die fremde, aber auch die eigene Familie vor Übergriffen und trägt damit zum Frieden in der Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft bei. Das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Tieren, 18,23, setzt der Entmenschlichung der Sexualität und damit der Zerstörung der besonderen Würde des Menschen auch im Sexuellen eine Grenze. (Es zeigt sich hier deutlich, dass manche biblische «Gesetze» nicht bloss eine funktionale, sondern ebenso eine symbolische Bedeutung haben, weil das materiell Gebotene über sich hinaus auf etwas Unsichtbares, Immaterielles weiterweist, auf das es vor allem ankommt.)
Die Perspektive, die der Kontext von Lev 20,13 öffnet, ist von Lev 18 verschieden. Das durchgehende Thema von Lev 20 ist Mitverantwortung im bösen Tun. Wer sein Kind für den Moloch tötet, begeht ein Offizialdelikt, das die Gesamtgemeinschaft ahnden muss; andernfalls macht sie sich mitschuldig mit dem Mörder seines Kindes, 20,2­5. Untersagte Wahrsagung involviert Wahrsager und Klienten, die beide schuldig werden, 20,6; Verfluchung von Eltern ist ein Offizialdelikt, das heisst die fluchenden Söhne oder Töchter dürfen von ihren Eltern und Verwandten und müssen von den Zeugen angezeigt werden, 20,9, andernfalls würden die Zeugen schuldig werden. Ehebruch ist Verantwortung beider, von Mann und Frau, 20,10, usw.
Mit anderen Worten setzt Lev 20 die vorher in Lev 18 und an andern Stellen erlassene und begründete Gesetzgebung voraus und bestimmt überall dort, wo freie Mitwirkung eines Partners zum Zustandekommen einer bösen Tat unentbehrlich war, die Mitverantwortung desselben als gegeben. Es gibt ja Verstösse, die nicht allein, sondern nur in gemeinsamem Tun vollbracht werden können und folglich gemeinsam verantwortet werden müssen. Es ist das Vergehen von Komplizen.

3. Ergebnis: sieben Folgerungen

1. Homosexuellen Geschlechtsverkehr unter Männern verbietet Lev 18,22 (und 20,13) aus analogen Gründen wie das ganze Kapitel Lev 18 eine Anzahl von bestimmten Formen des Geschlechtsverkehrs untersagt. Geschlechtsverkehr impliziert eine Beziehung, die durch Leidenschaft (oder, wenn man lieber will, durch Attraktivität), durch Intimität und durch eine gegenseitige ausschliessliche Beanspruchung geprägt ist. Solche sexuellen Beziehungen sind mit andern Beziehungen wie die von Eltern und Kind, von Geschwistern untereinander usw. unvereinbar. Sie würden, träten sie zu diesen andern Beziehungen hinzu, grösste Spannungen und Leiden verursachen. Im Interesse des Friedens aller muss daher die besondere sexuell gestaltete Beziehung von solchen andern schon bestehenden Beziehungen absolut fern gehalten werden.
Männer stehen unter sich in Beziehung zueinander als Väter, als Söhne, als Brüder, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Vorgesetze, Untergebene usw. Nach dem Gesetzgeber des Heiligkeitsgesetzes würden solche Beziehungen im Schosse der Familie und der weiteren Gesellschaft in der Regel schweren Spannungen ausgesetzt, wenn zu ihnen sexuell gelebte Beziehungen hinzuträten. Solche Spannungen würden die für die andern Beziehungen erforderlichen Qualitäten gefährden.
2. Analoges gilt für die Frauen unter sich, obwohl das nicht ausdrücklich gesagt wird. Die Gesetze und sittlichen Normen des AT haben nämlich oft exemplarische Bedeutung, ähnlich dem Präzedenzfall mancher Rechtssysteme. Ein Präzedenzfall birgt eine analoge Kraft, dank derer ein ähnlich gelagerter Fall in ähnlicher Weise beurteilt werden kann.
3. Es liegt zu Tage, dass die Verbote von Lev 18 (und 20) nicht durch die in den Rahmenermahnungen des Kapitels (Lev 18,2­5.24­30) geforderte Spezifizität Israels im Unterschied zu Kanaanäern und Ägyptern, Lev 18,3, begründet ist. Das sind Namen von Völkern, die formelhaft als Gegenbeispiele von Gesellschaften zitiert werden, die das wohltätige, Frieden stiftende Ethos Israels nicht leben. Keinesfalls geht es um die historische Feststellung, bei Kanaanäern und Ägyptern hätten alle diese Inzeste als erlaubt gegolten. Die Unterscheidung Israels von den Nachbarn hat keine gebotsbegründende Funktion, sondern dient als rhetorisches Mittel, um die schon begründeten israelitischen Gebote als allen andern Gebotsmöglichkeiten überlegen und daher als die im (internationalen) Vergleich besten Gebote zu erklären.
4. Es wäre ein Missverständnis, die zwanzig Gebote von Lev 18 als rituelle und daher geringfügige, irrationale, nur ethnologisch erklärbare Vorschriften einzustufen, weil Ritualien äusserlich, formal und ethisch indifferent wären. Ein solches Missverständnis wird oft aus der Terminologie der Unreinheit abgeleitet, die Lev 18 und 20 dominiert. So wird zum Beispiel dort der Ehebruch (Lev 18,20) als Unreinheit qualifiziert. Ebenso ist sexueller Verkehr mit einer Menstruierenden einem Inzest gleichgestellt, 18,19, obwohl in diesem Fall der verhindernde Umstand ja nur in den verunreinigenden Monatsregeln besteht, also in einem unvergleichlich viel geringeren Hindernis als es ein Inzesthindernis ist. Aber der Schein trügt. Die Begrifflichkeit rein-unrein wird oft auch auf nicht rein rituelle Materien angewendet. Sie kann auch schwer wiegende ethische Verhaltensweisen bezeichnen. Im Übrigen hat das Verbot des sexuellen Verkehrs mit Menstruierenden ­ wie manche andere Vorschriften ­ symbolische Bedeutung. Indem es einen sonst erlaubten sexuellen Verkehr an einem Punkt zeitweilig aufhebt, deutet es an, dass Sexualverkehr kein absolutes, sondern ein relatives Recht ist. Die sexuelle Attraktivität und die grundsätzlich gegebene Verfügbarkeit zweier Personen für gegenseitigen Geschlechtsverkehr ist an Rücksichten gebunden, die ebenfalls ihr Recht haben. Auf diese Tatsache verweist in symbolischer, das heisst über sich hinauszeigender Weise das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit einer menstruierenden Frau. Es ist klar, dass ein solches symbolisches Gebot die Sexualität menschlicher machen kann, und dass es deswegen trotz seines rituellen Charakters nicht im Geringsten unwichtig ist, ganz im Gegenteil.
5. Das Verbot des Sexualverkehrs zwischen bestimmten Personenkategorien in Lev 18 und 20 ist Teil des altisraelitischen und altorientalischen Sittlichkeits- und Rechtsempfindens, das überall Ausgewogenheit zwischen widerstreitenden Ansprüchen anstrebt. Das gehört zu seinem Wesen. Sexuelle Attraktivität und daraus entstehende Bindungen sind einer dieser berechtigten Ansprüche. Ihm gegenüber stehen andere Verhältnisse und Bindungen nicht-sexueller Art, die ebenfalls ihren Anspruch anmelden, von sexueller Betätigung frei zu bleiben.
Das Verbot gewisser Formen des Geschlechtsverkehrs wie jener der homosexuellen Liebe erfolgt im Interesse dieser Ausgewogenheit der verschiedenen Bedürfnisse innerhalb derselben Familiengruppe und zwischen den Familien und Individuen in der Gesamtgesellschaft.
6. Im Alten Orient war homosexueller Geschlechtsverkehr bekannt, aber er wurde nirgends, wie es scheint, uneingeschränkt und mit vorbehaltloser Billigung praktiziert.<2> Auch die griechische Polis der klassischen Zeit umgab ihn mit festen, genau einzuhaltenden Bedingungen.<3>
7. Lev 18 und 22 sind wohl kaum als neue Vorschriften zu betrachten, die alte Verhaltensweisen verdrängt hätten. Dies ist schon wegen Gen 19 (siehe unten, Punkt 4) unwahrscheinlich, eine Erzählung, die einem andern literarischen Milieu und vermutlich einer andern Zeit als das Heiligkeitsgesetz entstammt. Aber auch aus einer andern, allgemeineren Erwägung ist diese Annahme unwahrscheinlich, weil nämlich solche ethischen Verhaltensregeln nicht rasch und leicht durch ihr Gegenteil ersetzt zu werden pflegen. Sie gehören zur «histoire de longue dureé», zur Mentalitätsgeschichte, die sich nur langsam wandelt. Im ganzen AT aber hören wir nirgends auch nur die geringste Andeutung eines derartigen Wandels in der Wertung der geschlechtlich gelebten Homosexualität.

4. Homosexualität ausserhalb des Gebotskontextes im AT

Gleichgeschlechtlicher Verkehr erscheint in der Tora und in erzählendem Zusammenhang. Naturgemäss geht es in diesem nicht um eine Vorschrift, sondern um einen erzählten Vorgang. Fremde sollen den Bewohnern der Stadt Sodom für geschlechtlichen Verkehr zur Verfügung gestellt werden, Gen 19,5. Dies ist ein gravierendes Vergehen gegen das Gastrecht, das Fremde, Männer und Frauen, vgl. Ri 19,24­25, auch vor sexueller Nötigung schützt. Die gleichgeschlechtliche Nötigung stellt daher nicht das Vergehen dar, sondern einen erschwerenden Umstand desselben. Im Unterschied zu Abraham, der die Gäste ehrt, Gen 18,1­15 (Gen 18 und 19 bilden ja ein Diptychon über gewährtes Gastrecht mit seinem Segen und verweigertes Gastrecht mit seinem Fluch), brechen die Leute von Sodom das Gastrecht, weil sie die Unantastbarkeit der Beziehung von Gastwirt und Gast der sexuellen Attraktion unterordnen, und zwar in einer Form, die in Israel nicht nur zwischen Gastwirt und Gast, sondern generell zwischen Gleichgeschlechtlichen unzulässig ist. Der Erzähler stellt im Verlangen der Sodomiter nach gleichgeschlechtlichem sexuellen Umgang einen qualifizierten Bruch des Gastrechts dar, und darin ist implizit die Missbilligung des homosexuellen Geschlechtsverkehrs enthalten.
Die Freundschaft Davids und Jonatans hat dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts mit homosexuellem Verkehr der Freunde zu tun, obgleich dies immer wieder behauptet wird.<4> Die Texte, 1 Sam 18,1­4.20, erzählen von einer innigen Freundschaft, in der man homoerotische Züge erkennen mag, wenn man will. Jonatan schenkt David sein Gewand und seine Waffen, 18,4. Dies ist kein Tausch der Gewänder beider Freunde, und es ist nicht sicher, ob dieses Geschenk des Königssohnes homoerotisch gedeutet werden muss. Andere Deutungsmöglichkeiten sind im Zusammenhang des Motivs der Eifersucht des Königs Saul auf David narrativ wahrscheinlicher, vgl. 1 Sam 20.
In seiner Totenklage über den gefallenen Jonatan singt David: «Es ist mir weh um dich, mein Bruder Jonatan; du warst mir lieb überaus; wunderbarer war die Liebe zu dir für mich als die Liebe zu Frauen!» (2 Sam 1,26). Die Bestimmungen des Wortes «Liebe» können auch als subjektive Genetive gefasst werden: «wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe von Frauen (für mich)». Diese Verse zwingen nicht, die Liebe der beiden Freunde als geschlechtlich gelebte Liebe zu verstehen. Das Wort «Liebe» bedeutet im Hebräischen auch Freundschaft ohne sexuelle Konnotation. Eine Freundschaft kann so teuer werden wie geschlechtliche Liebe. Eine solche ist auch durch den Vergleich der Freundschaft zwischen David und «seinem Bruder» Jonatan mit der Liebe von oder zu Frauen nicht erwiesen, denn der Dichter kann durchaus die (sexuelle) Liebe zu Frauen oder eine von Frauen erwiesene Liebe mit einer nicht sexuell gelebten Freundschaft (die gibt es ja ganz gewiss!) verglichen haben.
In 2 Sam 1,26 liegen die Dinge also so, dass der Text geschlechtlich gelebte Freundschaft zwischen David und Jonatan keineswegs als die einzige mögliche Bedeutung zulässt. Bedenkt man nun ferner, dass Gen 19, Lev 18 und 22 für Israel die Ablehnung gleichgeschlechtlich vollzogener Liebe als alte und allgemeine Ansicht wahrscheinlich machen, ist die Deutung 1 Sam 18,1­4.20, und besonders von 2 Sam 1,26, auf gleichgeschlechtlich gelebte Liebe zwischen den beiden Freunden gerade die unplausibelste Interpretation.
Zusammengefasst: eine Erzählung, Gen 19, berichtet vom Versuch, das Gastrecht durch Nötigung von Fremden zu gleichgeschlechtlichem Verkehr zu brechen. Das eigentliche Vergehen ist die schwere Missachtung des Fremden. Die beabsichtigte Form des durch Nötigung erzwungenen Geschlechtsverkehrs ist dabei der homosexuelle Verkehr. Implizit ist dadurch sexuell gelebte Homosexualität missbilligt. Dies ist ein erschwerender Umstand. (Solche Nötigung würde übrigens heute auch von Befürwortern homosexueller Beziehungen ganz gewiss verurteilt!) Ferner ist mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Erzählung von Davids und Jonatans Freundschaft, 1 Sam 18,1­4.20, und in der Totenklage Davids über Jonatan, 2 Sam 1,26, nicht von homosexueller geschlechtlicher Liebe die Rede.
Die bisweilen angeführten Texte in Ri 19,24­25 und Gen 10,22 haben wohl mit Homosexualität nichts zu tun.

5. Paulus

Im NT ist es neben dem nachpaulinischen 1. Timotheusbrief (1,10) Paulus, der im Römerbrief (1,26­27, vgl. 1 Kor 6,9) den homosexuellen Verkehr zwischen Männern und zwischen Frauen ablehnt. Die Begründung, die er dafür gibt, ist die eine Seite seiner Stellungnahme, die Tatsache der Ablehnung der sexuell gelebten Homosexualität die andere. Denn diese Ablehnung geht bei ihm aller Wahrscheinlichkeit nach der Begründung voraus. Dies ergibt sich aus der bleibenden Gültigkeit, die die ethischen Bestimmungen der Tora für den gläubigen Juden Paulus auch in der Kirche Jesu Christi bewahren, denn sie sind nach seiner Überzeugung von Gott offenbart worden. Eine Stelle wie 1 Kor 5,1­5 beweist dies, die das Inzestverbot von Lev 18,8; 20,11 zitiert und als absolut verbindlich auch für die Gläubigen Jesu betrachtet.
Paulus verhält sich in dieser Hinsicht wie Philo, der die Tora gläubig als von Gott gegebene Autorität annimmt und mit philosophischen Einsichten zu durchdringen und zu erklären versucht. Er leitet die Tora nicht aus diesem seinem philosophischen Horizont ab, sondern dieser Horizont erlaubt es ihm, die vorgegebene, von Begründungen unabhängige Gesetzgebung Gottes in ihrem Sinnreichtum zu erschliessen. Was immer somit Beweiskraft und Tragfähigkeit der Gebotsbegründungen sein mögen, die in der Tora erlassenen Gebote werden davon nicht berührt. Sie gelten auch dann, wenn der Interpret nur eine unzureichende Begründung vorbringt. Der Mangel liegt in einem solche Fall nicht am Gebot, sondern an seinem Erklärer.
Zusammenfassend: die wichtige hermeneutische Regel für Paulus hinsichtlich ethischer Materien ist die Unterscheidung zwischen den Geboten der Tora und ihrer Begründung. Jene sind von Gott gegeben und daher gültig; diese ist seine eigene theologische Reflexion, die er seiner Zeit und seiner theologischen Bildung verdankt. In eine Formel gefasst liesse sich sagen: Die Gebote sind göttlich, ihre Begründungen sind menschlich, oder die Gebote gehören zum Glauben, ihre Begründungen zur theologischen Reflexion über das Glaubensgut.
Daher verfehlt die Feststellung, Paulus sei in einem solchen Punkt von seiner Epoche, vom 1. Jh. n. Chr. abhängig, wo vor allem weibliche Homosexualität allgemein missbilligt worden sei<5>, den Kern der Sache. Dem Apostel mag eine solche Denkströmung willkommen gewesen sein, aber sie war für ihn nicht der eigentliche Grund, homosexuellen Verkehr von Männern und von Frauen abzulehnen.

6. Ergebnis

Was ergibt der biblische Befund in dieser Perspektive, die, so hoffe ich, bei all ihrer Raffung dennoch die Proportionen richtig zeichnet?
1. Sexuell ausgeprägte Beziehungen unter Menschen stehen neben andern Beziehungen, in denen die sexuelle Attraktivität keine Rolle spielt, wie es Eltern-Kind-, Geschwister-, Arbeits-, Nachbarschafts- und viele andere Beziehungen sind. Nach der Bibel muss es solche Beziehungen geben, die ausdrücklich von Anziehung sexueller Art frei bleiben müssen. Dies ist im Interesse klarer Verhältnisse und im Interesse des Friedens und auch des Schutzes gewisser Personen und Gruppen vor Übergriffen, Pressionen oder Umwerbungen unentbehrlich. Das ist der Rahmen, in dem die Schrift von homosexuellem Verkehr unter Personen gleichen Geschlechts spricht. Es geht ihr nicht um Rituelles, das rein äusserlich wäre, und nicht um einen Brauch zum Zweck der Unterscheidung Israels von den andern Völkern.
2. Homosexualität ist biblisch immer nur als gelebter sexueller Umgang zwischen Menschen ins Auge gefasst. Zur Neigung und Veranlagung als solcher äussert sich die Bibel nicht.
3. Gebote der Tora sind von Erzählungen und andern Textarten zu unterscheiden. Die Tora hat in diesen Materien sowohl im Alten als auch im Neuen Testament (nach Paulus) ein entscheidendes Gewicht. Aber die alttestamentlichen Texte, die ausserhalb der Tora entweder tatsächlich oder vermeintlich von Homosexualität sprechen, stehen in keinem feststellbaren Widerspruch zum generellen Verbot, das in der Tora dem sexuell realisierten homoerotischen Verkehr gilt.
4. Bei Paulus ist zwischen dem Verbot der homosexuell gelebten Beziehung einerseits und seiner Begründung des Verbotes anderseits klar zu trennen. Ersteres übernimmt er als jüdischer Gläubiger als gültiges Gebot Gottes aus der Tora, letztere gewinnt er aus seiner zeitgemässen Bildung und aus seiner Reflexion. Das Gebot als solches ist aber von seiner Begründung unabhängig. Dadurch wird seine Begründung ein Stück weit relativiert.
5. Diese Überlegungen zur Homosexualität in biblischer Perspektive allein genügen selbstverständlich nicht. Es müssen viele andere Perspektiven hinzukommen, um dem ganzen ethischen Sachverhalt und damit den Menschen selbst gerecht zu werden. Aber vielleicht helfen diese Überlegungen jenen, denen die heilige Schrift eine unentbehrliche Etappe auf dem Weg zum richtigen Verständnis und damit zum richtigen Handeln in allen Fragen des Lebens ist.

 

Adrian Schenker ist ordentlicher Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.


Anmerkungen

1 W. Korff, Homosexualität, in: LThK 5 (Freiburg i.Br. 31996) 255­259, biblisch: Sp. 256. Vorzügliche Übersicht zur Homosexualität in der Antike: K. Hoheisel, Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) 16 (Stuttgart 1994) 289­364.

2 Hoheisel, Homosexualität, Sp. 293f. (Ägypten), 294­298 (Mesopotamien, Altsyrien). Am ehesten scheint Mesopotamien Homosexualität im Rahmen kultischen Geschlechtsverkehrs zur Verehrung «stark sexuell bestimmter Gottheiten» gekannt zu haben (Sp. 295f.). «Dennoch vermag die historische Forschung bisher keine befriedigende Stütze für die übliche Auffassung zu liefern, Homosexualität sei in Israels Umwelt Gewohnheit gewesen» (Sp. 297f.).

3 Hoheisel, Homosexualität, Sp. 299­312.

4 Z.B. Korff, Homosexualität, Sp. 256, spricht von «homoerotischer Zuwendung», die gebilligt worden wäre.

5 Argument von B. J. Brooten, Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus. Die weibliche Homoerotik bei Paulus, in: M. Barz, H. Leistner, U. Wild (Hrsg.), Hättest Du gedacht, dass wir so viele sind? Lesbische Frauen in der Kirche (Stuttgart 1987) 113­138, 216­222.


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