7/2000 | |
INHALT |
Theologie in Luzern |
Absicht dieser unvermeidlicherweise gedrängten Darstellung ist es, auf unentbehrliche Differenzierungen aufmerksam zu machen, die meines Erachtens leicht übersehen werden, wenn von Homosexualität oder Homophilie in der Heiligen Schrift die Rede ist. Damit ist auch schon die Grenze dieser Erwägungen gezogen. Sie beschränken sich ausschliesslich auf das biblische Segment des vielfältigen Problemkreises, den eine ethische Gesamtbeurteilung von Homophilie umfassend behandeln muss.
Das biblische Segment in der moraltheologischen Bewertung oder Kriteriologie der Homosexualität verdient sorgfältige Beachtung, weil es nicht leicht korrekt zu interpretieren ist. Dies geht zum Beispiel aus der Art und Weise hervor, wie das Stichwort Homosexualität in der neuen Auflage des berühmten Lexikons für Kirche und Theologie den biblischen Befund darstellt.<1> Es fehlt darin die abwägende exegetische Gewichtung der verschiedenen biblischen Stellungnahmen zu dieser Form des menschlichen geschlechtlichen Lebens.
In der alttestamentlichen Hermeneutik steht die Unterscheidung der Textarten
am Ausgangspunkt, in denen Homosexualität vorkommt. Erzählungen
stehen in anderen Horizonten als explizite Verbote im Gesetzeswerk des Pentateuch,
und innerhalb der Gebotssammlungen im Pentateuch ist jeweils der Zusammenhang
der Einzelvorschriften mit in die Deutung einzubeziehen. Diese Regel wird
überdies entscheidende Folgen für die Interpretation der Stellen
haben, wo Paulus im NT von Homosexualität spricht, weil für den
Apostel die ethischen Gesetze der Tora ihre uneingeschränkte Geltung
für die Jünger und Jüngerinnen Jesu bewahren.
Das Verbot gleichgeschlechtlichen Verkehrs findet sich in Lev 18,22 und
20,13. Es ist wichtig darauf zu achten, dass diese Verbote nur den homosexuellen
Geschlechtsakt zwischen Männern untersagen. Die Homosexualität
von Frauen ist nicht ausdrücklich ins Auge gefasst, und erst recht
gibt es kein Verbot der homophilen Neigung als solcher. Warum weiblich homophile
Geschlechtsakte nicht verboten sind, wird unten möglicherweise verständlicher
werden.
Die beiden Verbote sollen hier nicht von ihrer formalen, sprachlichen Seite
her charakterisiert werden (4). Im vorliegenden Zusammenhang genügt
es, zunächst ihren weiteren Kontext zu benennen. Sie stehen im so genannten
Heiligkeitsgesetz (Lev 1726), das ins 6. oder eher 5. Jh. v. Chr. datiert
wird. Der nähere Kontext von Lev 18 ist eine Sammlung von Inzest-Verboten
(Geschlechtsverkehr unter Verwandten verschiedenen Grades). Diese Inzest-Verbote,
18,618, wenden sich an den Mann (nicht an die Frau!). Ihnen angeschlossen
werden fünf weitere Formen von Geschlechtsverkehr mit Nicht-Verwandten,
die verboten sind: ein Mann mit einer menstruierenden und mit einer verheirateten
Frau, ein Mann mit einem Mann (unser Vers, 18,22), ein Mann mit einem Tier,
eine Frau mit einem Tier. Dazu tritt als 6. Verbot dasjenige der Darbringung
eines Kindes für Moloch (18,1923). Alle Verbote von Lev 18 zusammengenommen
ergeben die Zahl Zwanzig. Sie sind eingerahmt durch Ermahnungen, 18,25
und 18,2430. Ermahnungen und Verbote werden von Gott (JHWH) Mose im
Offenbarungszelt, Lev 1,1, mitgeteilt, damit er sie den Israeliten übermitteln
kann, Lev 18,1 und 1,2. Sie stellen somit in der Perspektive der Verfasser
des Gesetzes Gottes Wort und Willen dar, aber sie gehören nicht zum
allerinnersten und bedeutendsten Kern der Offenbarung, denn dieser wird
auf dem Berge kundgetan, vgl. Lev 25,1.
Die Verbote werden fast ohne Begründung erlassen. Als eine Begründung
für das Verbot des gleichgeschlechtlichen Verkehrs unter Männern
dient der Ausdruck «Greuel», tô'e-bâ, Lev 18,23.
Es ist hier nicht der Platz für eine Analyse seiner Bedeutungskomponenten.
Er scheint so etwas wie unverträglich, inkompatibel mit göttlicher
Gegenwart im kultischen oder liturgischen Raum zu bedeuten. Aufschlussreicher
für das Verständnis der zwanzig Verbote des Kapitels sind bestimmte
Nebenbemerkungen in Lev 18. So begründet V. 18 das Verbot, in einen
polygamen Haushalt zwei Schwestern als zwei Gattinnen desselben Mannes einzuführen,
weil so die Schwestern zu Nebenbuhlerinnen gemacht würden. Zwischen
Geschwister darf kein Keil getrieben werden. Warum nicht? Welches Gut soll
durch eine solche Gesetzesdisposition geschützt werden? Das gute Einvernehmen
von Geschwistern ist offenbar ein schützenswertes Gut. Sie sind aufeinander
angewiesen und müssen sich im Leben Stützen sein können.
Dieses Ethos drückt das Sprichwort unübertrefflich aus: «Ein
Freund liebt zu jeder Zeit, aber ein Bruder (eine Schwester) ist für
die Zeit der Not geboren!» (Spr 17,17). Geschwister sind füreinander
Lebensversicherung. An wen soll man sich denn im Leben wenden, wenn nicht
an die eigenen Leute, die Geschwister, sobald Hilfe nötig ist?
Daraus darf somit verallgemeinert werden: die Inzest-Verbote in Lev 18 schützen
die durch die Geburts- und Ehesituation geschaffenen Beziehungen der Familienmitglieder
untereinander vor Beziehungsverwirrungen, welche den Individuen in der Familie
Frieden und Sicherheit im Schosse ihres Lebenskreises nehmen würden.
Dazu passt das Verbot, Kinder dem Moloch darzubringen, Lev 18,21. Weder
Kinder noch Eltern sollen je der Angst ausgesetzt sein, sich in der Situation
von Opfern oder Mördern begegnen zu müssen. Das Ehebruchsverbot,
18,20, schützt die fremde, aber auch die eigene Familie vor Übergriffen
und trägt damit zum Frieden in der Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft
bei. Das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Tieren, 18,23, setzt der Entmenschlichung
der Sexualität und damit der Zerstörung der besonderen Würde
des Menschen auch im Sexuellen eine Grenze. (Es zeigt sich hier deutlich,
dass manche biblische «Gesetze» nicht bloss eine funktionale,
sondern ebenso eine symbolische Bedeutung haben, weil das materiell Gebotene
über sich hinaus auf etwas Unsichtbares, Immaterielles weiterweist,
auf das es vor allem ankommt.)
Die Perspektive, die der Kontext von Lev 20,13 öffnet, ist von Lev
18 verschieden. Das durchgehende Thema von Lev 20 ist Mitverantwortung im
bösen Tun. Wer sein Kind für den Moloch tötet, begeht ein
Offizialdelikt, das die Gesamtgemeinschaft ahnden muss; andernfalls macht
sie sich mitschuldig mit dem Mörder seines Kindes, 20,25. Untersagte
Wahrsagung involviert Wahrsager und Klienten, die beide schuldig werden,
20,6; Verfluchung von Eltern ist ein Offizialdelikt, das heisst die fluchenden
Söhne oder Töchter dürfen von ihren Eltern und Verwandten
und müssen von den Zeugen angezeigt werden, 20,9, andernfalls würden
die Zeugen schuldig werden. Ehebruch ist Verantwortung beider, von Mann
und Frau, 20,10, usw.
Mit anderen Worten setzt Lev 20 die vorher in Lev 18 und an andern Stellen
erlassene und begründete Gesetzgebung voraus und bestimmt überall
dort, wo freie Mitwirkung eines Partners zum Zustandekommen einer bösen
Tat unentbehrlich war, die Mitverantwortung desselben als gegeben. Es gibt
ja Verstösse, die nicht allein, sondern nur in gemeinsamem Tun vollbracht
werden können und folglich gemeinsam verantwortet werden müssen.
Es ist das Vergehen von Komplizen.
1. Homosexuellen Geschlechtsverkehr unter Männern verbietet Lev
18,22 (und 20,13) aus analogen Gründen wie das ganze Kapitel Lev 18
eine Anzahl von bestimmten Formen des Geschlechtsverkehrs untersagt. Geschlechtsverkehr
impliziert eine Beziehung, die durch Leidenschaft (oder, wenn man lieber
will, durch Attraktivität), durch Intimität und durch eine gegenseitige
ausschliessliche Beanspruchung geprägt ist. Solche sexuellen Beziehungen
sind mit andern Beziehungen wie die von Eltern und Kind, von Geschwistern
untereinander usw. unvereinbar. Sie würden, träten sie zu diesen
andern Beziehungen hinzu, grösste Spannungen und Leiden verursachen.
Im Interesse des Friedens aller muss daher die besondere sexuell gestaltete
Beziehung von solchen andern schon bestehenden Beziehungen absolut fern
gehalten werden.
Männer stehen unter sich in Beziehung zueinander als Väter, als
Söhne, als Brüder, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Vorgesetze, Untergebene
usw. Nach dem Gesetzgeber des Heiligkeitsgesetzes würden solche Beziehungen
im Schosse der Familie und der weiteren Gesellschaft in der Regel schweren
Spannungen ausgesetzt, wenn zu ihnen sexuell gelebte Beziehungen hinzuträten.
Solche Spannungen würden die für die andern Beziehungen erforderlichen
Qualitäten gefährden.
2. Analoges gilt für die Frauen unter sich, obwohl das nicht ausdrücklich
gesagt wird. Die Gesetze und sittlichen Normen des AT haben nämlich
oft exemplarische Bedeutung, ähnlich dem Präzedenzfall mancher
Rechtssysteme. Ein Präzedenzfall birgt eine analoge Kraft, dank derer
ein ähnlich gelagerter Fall in ähnlicher Weise beurteilt werden
kann.
3. Es liegt zu Tage, dass die Verbote von Lev 18 (und 20) nicht durch die
in den Rahmenermahnungen des Kapitels (Lev 18,25.2430) geforderte
Spezifizität Israels im Unterschied zu Kanaanäern und Ägyptern,
Lev 18,3, begründet ist. Das sind Namen von Völkern, die formelhaft
als Gegenbeispiele von Gesellschaften zitiert werden, die das wohltätige,
Frieden stiftende Ethos Israels nicht leben. Keinesfalls geht es um die
historische Feststellung, bei Kanaanäern und Ägyptern hätten
alle diese Inzeste als erlaubt gegolten. Die Unterscheidung Israels von
den Nachbarn hat keine gebotsbegründende Funktion, sondern dient als
rhetorisches Mittel, um die schon begründeten israelitischen Gebote
als allen andern Gebotsmöglichkeiten überlegen und daher als die
im (internationalen) Vergleich besten Gebote zu erklären.
4. Es wäre ein Missverständnis, die zwanzig Gebote von Lev 18
als rituelle und daher geringfügige, irrationale, nur ethnologisch
erklärbare Vorschriften einzustufen, weil Ritualien äusserlich,
formal und ethisch indifferent wären. Ein solches Missverständnis
wird oft aus der Terminologie der Unreinheit abgeleitet, die Lev 18 und
20 dominiert. So wird zum Beispiel dort der Ehebruch (Lev 18,20) als Unreinheit
qualifiziert. Ebenso ist sexueller Verkehr mit einer Menstruierenden einem
Inzest gleichgestellt, 18,19, obwohl in diesem Fall der verhindernde Umstand
ja nur in den verunreinigenden Monatsregeln besteht, also in einem unvergleichlich
viel geringeren Hindernis als es ein Inzesthindernis ist. Aber der Schein
trügt. Die Begrifflichkeit rein-unrein wird oft auch auf nicht rein
rituelle Materien angewendet. Sie kann auch schwer wiegende ethische Verhaltensweisen
bezeichnen. Im Übrigen hat das Verbot des sexuellen Verkehrs mit Menstruierenden
wie manche andere Vorschriften symbolische Bedeutung. Indem
es einen sonst erlaubten sexuellen Verkehr an einem Punkt zeitweilig aufhebt,
deutet es an, dass Sexualverkehr kein absolutes, sondern ein relatives Recht
ist. Die sexuelle Attraktivität und die grundsätzlich gegebene
Verfügbarkeit zweier Personen für gegenseitigen Geschlechtsverkehr
ist an Rücksichten gebunden, die ebenfalls ihr Recht haben. Auf diese
Tatsache verweist in symbolischer, das heisst über sich hinauszeigender
Weise das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit einer menstruierenden Frau.
Es ist klar, dass ein solches symbolisches Gebot die Sexualität menschlicher
machen kann, und dass es deswegen trotz seines rituellen Charakters nicht
im Geringsten unwichtig ist, ganz im Gegenteil.
5. Das Verbot des Sexualverkehrs zwischen bestimmten Personenkategorien
in Lev 18 und 20 ist Teil des altisraelitischen und altorientalischen Sittlichkeits-
und Rechtsempfindens, das überall Ausgewogenheit zwischen widerstreitenden
Ansprüchen anstrebt. Das gehört zu seinem Wesen. Sexuelle Attraktivität
und daraus entstehende Bindungen sind einer dieser berechtigten Ansprüche.
Ihm gegenüber stehen andere Verhältnisse und Bindungen nicht-sexueller
Art, die ebenfalls ihren Anspruch anmelden, von sexueller Betätigung
frei zu bleiben.
Das Verbot gewisser Formen des Geschlechtsverkehrs wie jener der homosexuellen
Liebe erfolgt im Interesse dieser Ausgewogenheit der verschiedenen Bedürfnisse
innerhalb derselben Familiengruppe und zwischen den Familien und Individuen
in der Gesamtgesellschaft.
6. Im Alten Orient war homosexueller Geschlechtsverkehr bekannt, aber er
wurde nirgends, wie es scheint, uneingeschränkt und mit vorbehaltloser
Billigung praktiziert.<2> Auch die griechische
Polis der klassischen Zeit umgab ihn mit festen, genau einzuhaltenden Bedingungen.<3>
7. Lev 18 und 22 sind wohl kaum als neue Vorschriften zu betrachten, die
alte Verhaltensweisen verdrängt hätten. Dies ist schon wegen Gen
19 (siehe unten, Punkt 4) unwahrscheinlich, eine Erzählung, die einem
andern literarischen Milieu und vermutlich einer andern Zeit als das Heiligkeitsgesetz
entstammt. Aber auch aus einer andern, allgemeineren Erwägung ist diese
Annahme unwahrscheinlich, weil nämlich solche ethischen Verhaltensregeln
nicht rasch und leicht durch ihr Gegenteil ersetzt zu werden pflegen. Sie
gehören zur «histoire de longue dureé», zur Mentalitätsgeschichte,
die sich nur langsam wandelt. Im ganzen AT aber hören wir nirgends
auch nur die geringste Andeutung eines derartigen Wandels in der Wertung
der geschlechtlich gelebten Homosexualität.
Gleichgeschlechtlicher Verkehr erscheint in der Tora und in erzählendem
Zusammenhang. Naturgemäss geht es in diesem nicht um eine Vorschrift,
sondern um einen erzählten Vorgang. Fremde sollen den Bewohnern der
Stadt Sodom für geschlechtlichen Verkehr zur Verfügung gestellt
werden, Gen 19,5. Dies ist ein gravierendes Vergehen gegen das Gastrecht,
das Fremde, Männer und Frauen, vgl. Ri 19,2425, auch vor sexueller
Nötigung schützt. Die gleichgeschlechtliche Nötigung stellt
daher nicht das Vergehen dar, sondern einen erschwerenden Umstand desselben.
Im Unterschied zu Abraham, der die Gäste ehrt, Gen 18,115 (Gen
18 und 19 bilden ja ein Diptychon über gewährtes Gastrecht mit
seinem Segen und verweigertes Gastrecht mit seinem Fluch), brechen die Leute
von Sodom das Gastrecht, weil sie die Unantastbarkeit der Beziehung von
Gastwirt und Gast der sexuellen Attraktion unterordnen, und zwar in einer
Form, die in Israel nicht nur zwischen Gastwirt und Gast, sondern generell
zwischen Gleichgeschlechtlichen unzulässig ist. Der Erzähler stellt
im Verlangen der Sodomiter nach gleichgeschlechtlichem sexuellen Umgang
einen qualifizierten Bruch des Gastrechts dar, und darin ist implizit die
Missbilligung des homosexuellen Geschlechtsverkehrs enthalten.
Die Freundschaft Davids und Jonatans hat dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit
nichts mit homosexuellem Verkehr der Freunde zu tun, obgleich dies immer
wieder behauptet wird.<4> Die Texte, 1
Sam 18,14.20, erzählen von einer innigen Freundschaft, in der
man homoerotische Züge erkennen mag, wenn man will. Jonatan schenkt
David sein Gewand und seine Waffen, 18,4. Dies ist kein Tausch der Gewänder
beider Freunde, und es ist nicht sicher, ob dieses Geschenk des Königssohnes
homoerotisch gedeutet werden muss. Andere Deutungsmöglichkeiten sind
im Zusammenhang des Motivs der Eifersucht des Königs Saul auf David
narrativ wahrscheinlicher, vgl. 1 Sam 20.
In seiner Totenklage über den gefallenen Jonatan singt David: «Es
ist mir weh um dich, mein Bruder Jonatan; du warst mir lieb überaus;
wunderbarer war die Liebe zu dir für mich als die Liebe zu Frauen!»
(2 Sam 1,26). Die Bestimmungen des Wortes «Liebe» können
auch als subjektive Genetive gefasst werden: «wunderbarer war deine
Liebe für mich als die Liebe von Frauen (für mich)». Diese
Verse zwingen nicht, die Liebe der beiden Freunde als geschlechtlich gelebte
Liebe zu verstehen. Das Wort «Liebe» bedeutet im Hebräischen
auch Freundschaft ohne sexuelle Konnotation. Eine Freundschaft kann so teuer
werden wie geschlechtliche Liebe. Eine solche ist auch durch den Vergleich
der Freundschaft zwischen David und «seinem Bruder» Jonatan
mit der Liebe von oder zu Frauen nicht erwiesen, denn der Dichter kann durchaus
die (sexuelle) Liebe zu Frauen oder eine von Frauen erwiesene Liebe mit
einer nicht sexuell gelebten Freundschaft (die gibt es ja ganz gewiss!)
verglichen haben.
In 2 Sam 1,26 liegen die Dinge also so, dass der Text geschlechtlich gelebte
Freundschaft zwischen David und Jonatan keineswegs als die einzige mögliche
Bedeutung zulässt. Bedenkt man nun ferner, dass Gen 19, Lev 18 und
22 für Israel die Ablehnung gleichgeschlechtlich vollzogener Liebe
als alte und allgemeine Ansicht wahrscheinlich machen, ist die Deutung 1
Sam 18,14.20, und besonders von 2 Sam 1,26, auf gleichgeschlechtlich
gelebte Liebe zwischen den beiden Freunden gerade die unplausibelste Interpretation.
Zusammengefasst: eine Erzählung, Gen 19, berichtet vom Versuch, das
Gastrecht durch Nötigung von Fremden zu gleichgeschlechtlichem Verkehr
zu brechen. Das eigentliche Vergehen ist die schwere Missachtung des Fremden.
Die beabsichtigte Form des durch Nötigung erzwungenen Geschlechtsverkehrs
ist dabei der homosexuelle Verkehr. Implizit ist dadurch sexuell gelebte
Homosexualität missbilligt. Dies ist ein erschwerender Umstand. (Solche
Nötigung würde übrigens heute auch von Befürwortern
homosexueller Beziehungen ganz gewiss verurteilt!) Ferner ist mit hoher
Wahrscheinlichkeit in der Erzählung von Davids und Jonatans Freundschaft,
1 Sam 18,14.20, und in der Totenklage Davids über Jonatan, 2 Sam
1,26, nicht von homosexueller geschlechtlicher Liebe die Rede.
Die bisweilen angeführten Texte in Ri 19,2425 und Gen 10,22 haben
wohl mit Homosexualität nichts zu tun.
Im NT ist es neben dem nachpaulinischen 1. Timotheusbrief (1,10) Paulus,
der im Römerbrief (1,2627, vgl. 1 Kor 6,9) den homosexuellen Verkehr
zwischen Männern und zwischen Frauen ablehnt. Die Begründung,
die er dafür gibt, ist die eine Seite seiner Stellungnahme, die Tatsache
der Ablehnung der sexuell gelebten Homosexualität die andere. Denn
diese Ablehnung geht bei ihm aller Wahrscheinlichkeit nach der Begründung
voraus. Dies ergibt sich aus der bleibenden Gültigkeit, die die ethischen
Bestimmungen der Tora für den gläubigen Juden Paulus auch in der
Kirche Jesu Christi bewahren, denn sie sind nach seiner Überzeugung
von Gott offenbart worden. Eine Stelle wie 1 Kor 5,15 beweist dies,
die das Inzestverbot von Lev 18,8; 20,11 zitiert und als absolut verbindlich
auch für die Gläubigen Jesu betrachtet.
Paulus verhält sich in dieser Hinsicht wie Philo, der die Tora gläubig
als von Gott gegebene Autorität annimmt und mit philosophischen Einsichten
zu durchdringen und zu erklären versucht. Er leitet die Tora nicht
aus diesem seinem philosophischen Horizont ab, sondern dieser Horizont erlaubt
es ihm, die vorgegebene, von Begründungen unabhängige Gesetzgebung
Gottes in ihrem Sinnreichtum zu erschliessen. Was immer somit Beweiskraft
und Tragfähigkeit der Gebotsbegründungen sein mögen, die
in der Tora erlassenen Gebote werden davon nicht berührt. Sie gelten
auch dann, wenn der Interpret nur eine unzureichende Begründung vorbringt.
Der Mangel liegt in einem solche Fall nicht am Gebot, sondern an seinem
Erklärer.
Zusammenfassend: die wichtige hermeneutische Regel für Paulus hinsichtlich
ethischer Materien ist die Unterscheidung zwischen den Geboten der Tora
und ihrer Begründung. Jene sind von Gott gegeben und daher gültig;
diese ist seine eigene theologische Reflexion, die er seiner Zeit und seiner
theologischen Bildung verdankt. In eine Formel gefasst liesse sich sagen:
Die Gebote sind göttlich, ihre Begründungen sind menschlich, oder
die Gebote gehören zum Glauben, ihre Begründungen zur theologischen
Reflexion über das Glaubensgut.
Daher verfehlt die Feststellung, Paulus sei in einem solchen Punkt von seiner
Epoche, vom 1. Jh. n. Chr. abhängig, wo vor allem weibliche Homosexualität
allgemein missbilligt worden sei<5>, den
Kern der Sache. Dem Apostel mag eine solche Denkströmung willkommen
gewesen sein, aber sie war für ihn nicht der eigentliche Grund, homosexuellen
Verkehr von Männern und von Frauen abzulehnen.
Was ergibt der biblische Befund in dieser Perspektive, die, so hoffe
ich, bei all ihrer Raffung dennoch die Proportionen richtig zeichnet?
1. Sexuell ausgeprägte Beziehungen unter Menschen stehen neben andern
Beziehungen, in denen die sexuelle Attraktivität keine Rolle spielt,
wie es Eltern-Kind-, Geschwister-, Arbeits-, Nachbarschafts- und viele andere
Beziehungen sind. Nach der Bibel muss es solche Beziehungen geben, die ausdrücklich
von Anziehung sexueller Art frei bleiben müssen. Dies ist im Interesse
klarer Verhältnisse und im Interesse des Friedens und auch des Schutzes
gewisser Personen und Gruppen vor Übergriffen, Pressionen oder Umwerbungen
unentbehrlich. Das ist der Rahmen, in dem die Schrift von homosexuellem
Verkehr unter Personen gleichen Geschlechts spricht. Es geht ihr nicht um
Rituelles, das rein äusserlich wäre, und nicht um einen Brauch
zum Zweck der Unterscheidung Israels von den andern Völkern.
2. Homosexualität ist biblisch immer nur als gelebter sexueller Umgang
zwischen Menschen ins Auge gefasst. Zur Neigung und Veranlagung als solcher
äussert sich die Bibel nicht.
3. Gebote der Tora sind von Erzählungen und andern Textarten zu unterscheiden.
Die Tora hat in diesen Materien sowohl im Alten als auch im Neuen Testament
(nach Paulus) ein entscheidendes Gewicht. Aber die alttestamentlichen Texte,
die ausserhalb der Tora entweder tatsächlich oder vermeintlich von
Homosexualität sprechen, stehen in keinem feststellbaren Widerspruch
zum generellen Verbot, das in der Tora dem sexuell realisierten homoerotischen
Verkehr gilt.
4. Bei Paulus ist zwischen dem Verbot der homosexuell gelebten Beziehung
einerseits und seiner Begründung des Verbotes anderseits klar zu trennen.
Ersteres übernimmt er als jüdischer Gläubiger als gültiges
Gebot Gottes aus der Tora, letztere gewinnt er aus seiner zeitgemässen
Bildung und aus seiner Reflexion. Das Gebot als solches ist aber von seiner
Begründung unabhängig. Dadurch wird seine Begründung ein
Stück weit relativiert.
5. Diese Überlegungen zur Homosexualität in biblischer Perspektive
allein genügen selbstverständlich nicht. Es müssen viele
andere Perspektiven hinzukommen, um dem ganzen ethischen Sachverhalt und
damit den Menschen selbst gerecht zu werden. Aber vielleicht helfen diese
Überlegungen jenen, denen die heilige Schrift eine unentbehrliche Etappe
auf dem Weg zum richtigen Verständnis und damit zum richtigen Handeln
in allen Fragen des Lebens ist.
Adrian Schenker ist ordentlicher Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.
1 W. Korff, Homosexualität, in: LThK 5 (Freiburg i.Br. 31996) 255259, biblisch: Sp. 256. Vorzügliche Übersicht zur Homosexualität in der Antike: K. Hoheisel, Homosexualität, in: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) 16 (Stuttgart 1994) 289364.
2 Hoheisel, Homosexualität, Sp. 293f. (Ägypten), 294298 (Mesopotamien, Altsyrien). Am ehesten scheint Mesopotamien Homosexualität im Rahmen kultischen Geschlechtsverkehrs zur Verehrung «stark sexuell bestimmter Gottheiten» gekannt zu haben (Sp. 295f.). «Dennoch vermag die historische Forschung bisher keine befriedigende Stütze für die übliche Auffassung zu liefern, Homosexualität sei in Israels Umwelt Gewohnheit gewesen» (Sp. 297f.).
3 Hoheisel, Homosexualität, Sp. 299312.
4 Z.B. Korff, Homosexualität, Sp. 256, spricht von «homoerotischer Zuwendung», die gebilligt worden wäre.
5 Argument von B. J. Brooten, Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus. Die weibliche Homoerotik bei Paulus, in: M. Barz, H. Leistner, U. Wild (Hrsg.), Hättest Du gedacht, dass wir so viele sind? Lesbische Frauen in der Kirche (Stuttgart 1987) 113138, 216222.