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INHALT |
Theologie |
Karl Rahner hat in einem Artikel zu unserem Thema schon in den fünfziger
Jahren die folgenden Sätze geschrieben: «Man kann heute manchmal
den Eindruck haben, es gebe in der Kirche Wahrheiten, die innerhalb der
Kirche zwar nicht, Ðin thesið ausdrücklich formuliert, bestritten
werden, aber dadurch zu Tode geschwiegen werden, dass man in dem Vollzug
des religiösen Lebens keine Notiz mehr von ihnen nimmt. Sie stehen
im Katechismus. Aber nicht auf den fleischlichen Tafeln des Herzens.»<1>
Man tut wohl niemandem Unrecht, wenn man behauptet, dass der Ablass und
die Ablasspraxis im Leben der allermeisten Katholiken und Katholikinnen
und auch im gottesdienstlichen Leben der Kirche keine Rolle mehr gespielt
haben.
Das änderte sich in dem Moment, als der Papst im Zusammenhang mit dem
grossen Jubeljahr auf eine alte Tradition zurückgriff und einen Jubiläumsablass
verkündete. Es geschah manchen zur Freude, vielen zum Ärger. Vor
allem ökumenisch interessierte Kreise und viele Protestanten waren
erstaunt und wohl auch entrüstet, dass hier eine alte, heiss umstrittene
Praxis, die man totglaubte, wieder zum Leben erstehen sollte. So schrieb
der sehr massvolle Kirchenratspräsident der Zürcher Landeskirche:
«Ich bedaure es, dass ausgerechnet zum Jubiläumsjahr 2000 nun
von Rom her etwas aufgenommen wird, was von der Kirchengeschichte her belastet
ist und von den Konfessionen sehr unterschiedlich beurteilt werden muss.»
Es war die Rede vom «Ablass als Stolperstein für die Ökumene».
Im Folgenden soll nun weder eine Apologetik für den Ablass noch eine
Polemik gegen den Ablass geliefert werden. Es geht um Information, um einige
Hinweise zur recht verworrenen und komplexen Geschichte des Ablasses, dann
um einige theologische Überlegungen und zuletzt um pastorale Gedanken.
Der Ablass ist nicht vom kirchlichen Lehramt oder von höheren kirchlichen Amtsstellen «eingeführt» worden. Der Ablass entwickelte sich im Rahmen der Volksfrömmigkeit aus der altchristlichen Busspraxis, ist also eingebettet in die altkirchliche Buss- und Beichtgeschichte. Darum können wir uns einige ausführlichere Fakten aus dieser Busspraxis und Bussgeschichte nicht ersparen, wenn wir den Ablass und die Ablasspraxis beurteilen wollen.
Das Schwergewicht liegt im christlichen Altertum eindeutig auf der persönlichen
Bussleistung, und diese ist bis zum Frühmittelalter öffentlich:
es ist «die grosse Reue und Klagebusse», die in einer wahrhaft
erschütternden Bussliturgie ihren Ausdruck fand. Dabei herrscht die
Strenge eindeutig vor, und diese einseitige Strenge war es auch, die dann
die öffentliche Busse in eine Sackgasse führte und zu Beginn des
Mittelalters ein praktisches Versagen dieser Art Busspraxis zur Folge hatte.
Der alten Christenheit stand das Ideal des «heiligen Christen»
vor Augen, des Getauften, für den nach dem grossen, einmaligen Sündennachlass
in der Taufe eine Todsünde ganz einfach nicht mehr in Frage kam. Lesen
wir einmal die Paulusbriefe, und wir spüren, wie Paulus dies als das
Normale und einzig Logische betrachtet. Doch schon Paulus wusste und nahm
es, wenn auch ungern und widerwillig, zur Kenntnis, dass dieses Ideal in
gar vielen Fällen sich nicht erfüllte. Schon zu seiner Zeit, und
erst recht in den folgenden Jahrhunderten, da die Christen sich noch allgemein
«Heilige» nannten, fielen sie reihenweise von ihren Postamenten!
Wie sie freilich aus Bruchstücken wieder zusammengekittet und an ihren
erhabenen Platz zurückgestellt wurden, hat etwas Grossartiges an sich.
Beichte und Bussmaterie waren damals freilich nur die Todsünden. Eine
Busse im Sinne der öffentlichen Klagebusse und eine Unterwerfung unter
die Schlüsselgewalt in Bezug auf die Alltagssünden, die wir gewöhnlich
als lässliche Sünden bezeichnen, war jahrhundertelang schlechterdings
unbekannt. Unter die Todsünden rechnete man vornehmlich folgende drei:
Götzendienst, Mord und Ehebruch. Sicher kamen auch andere Sünden
in Frage; aber das kirchliche Bewusstsein hatte sich vor allem mit diesen
drei Kategorien zu befassen. Wer da schweren Anstoss erregt hatte, tat gut,
der Kirche fern zu bleiben, oder sich wenigstens nicht beim eucharistischen
Mahl sehen zu lassen. Am besten wartete er gar nicht erst die allgemeinen
Proteste seiner Mitchristen ab, sondern ging aus freien Stücken zum
Bischof, bekannte, im privaten Gespräch mit ihm, seine Schuld und ersuchte
um die grosse kirchliche Busse. Öffentlich war aber meist nicht das
individuelle Sündenbekenntnis, wohl aber in jedem Fall die Busse, die,
im Unterschied zu heute, vorerst völlig und in ihrer ganzen, oft unerhörten
Strenge erledigt sein musste, bevor eine Absolution in Frage kam. Die grosse,
«öffentliche Reue- und Klagebusse», wie man sie nannte,
begann mit dem allgemeinen Sündenbekenntnis, einer Art «Confiteor»
vor Bischof und Gemeinde. Es war dies die so genannte Exhomologese! Dieses
öffentliche Sündenbekenntnis, das aber nicht zu verwechseln ist
mit dem privaten, detaillierten, vor dem Bischof oder Presbyter, war eine
Einladung an die Gemeinde zum Fürbittgebet. Das Gebet der Gemeinde
aber ist das Gebet Christi, der beim Vater die Verzeihung erwirkt.
Nach der Exhomologese, dem Bekenntnis, vollzog der Bischof oder später
ein eigener «Busspriester» die zeitweilige Exkommunikation,
wie sie Paulus im ersten Korintherbrief am Blutschänder vollzieht,
und die nur auf dem Wege der öffentlichen Bussleistung wieder aufgehoben
werden konnte. Dieser Weg bekam von der Ostkirche her seine eigene Ordnung,
seine Liturgie. Der Büsser wurde, mit Vorliebe am Aschermittwoch, dem
Büsserstand eingereiht. Zeitweilig trug er dabei ein eigenes Bussgewand
und erhielt in der Kirche einen besonderen Platz angewiesen. Als Büsser
durchlief er nun vier Stufen, die langsam zur Reinigung führten: zuerst
gehörte er zum Grad der «Weinenden»; er musste am Eingang
des Gotteshauses stehen und die Eintretenden um ihre Gebete und Fürbitte
anflehen. Dann stieg er zum Grad der «Hörenden» auf; er
durfte jetzt dem Katechumenen-Gottesdienst beiwohnen. Später, in der
Klasse der «Liegenden», war es ihm sogar gestattet, während
des ganzen Gottesdienstes zu bleiben, aber nur kniend oder liegend. Selbstverständlich
war er noch ausgeschlossen vom Opfergang und vom eucharistischen Mahl. Das
galt ebenso für die oberste Klasse der Büsser, für die «Mitstehenden»,
die den ganzen Gottesdienst stehend mitfeiern durften. In welchen Graden
und wie lange die Büsser büssen mussten, bestimmte der Bischof.
Dazu wurden persönliche Busswerke gefordert, in deren Bestimmung man
immer mehr ins Einzelne ging. An der Spitze steht dabei das Gebet, dann
Fasten und Almosen, die drei klassischen Bussmittel des Altertums. Dazu
kommen: Abkürzung des Schlafes, geschlechtliche Enthaltsamkeit, Verzicht
auf Streben nach weltlichen Ehren (Ambrosius). Die Bussforderungen sind
im Allgemeinen, vor allem nach dem konstantinischen Frieden (313), äusserst
hart. Man machte gerade nach dem Einströmen der grossen Massen in die
Kirche, nach dem Mailänder Toleranzedikt, den aussichtslosen Versuch,
dem erschreckenden Absinken des sittlichen und religiösen Niveaus im
4. Jahrhundert dadurch zu trotzen. Man wollte den Gedanken der Elite, der
doch irgendwie die ersten drei Jahrhunderte beherrschte, nicht einfach kampflos
preisgeben.
Einige Beispiele sollen von dieser Strenge einen Begriff geben. Die Synode
von Ancyra (314) bestimmt für vorsätzlichen Mord lebenslängliche
Busse, für Götzendienst und Unzucht je nach den Umständen
zwei bis dreissig Jahre; für Abtreibung der Leibesfrucht 10 Jahre.
So waren mehrjährige, ja lebenslängliche Bussen keine Seltenheit.
Das rigorose Spanien verlangt auf dem 1. Konzil von Toledo (400) lebenslängliche
Busse für Giftmischer, 20 bis 30 Jahre für Bestialität. Im
Gegensatz dazu kennt Rom, das sich im Allgemeinen immer durch kluges Mass
auszeichnete, schon sehr bald für die gewöhnlichen Vergehen die
vierzigtägige Busse während der Fastenzeit. Es finden sich davon
viele Spuren in unserer Fastenliturgie in den Tagesmessen der Fastenzeit.
War die Busszeit abgelaufen, erfolgte, meist am Hohen Donnerstag, durch
feierliche Handauflegung des Bischofs die Rekonziliation, die Wiederaufnahme
in die kirchliche Gemeinschaft und damit die erneute Zulassung zur Eucharistie
in der Osternacht. Sie entspricht dem, was wir heute die Lossprechung nennen,
und bildet den eigentlich sakramentalen Akt der kirchlichen Schlüsselgewalt.
Im normalen Christenleben war freilich eine solche Busse anfänglich
gar nicht nötig. Wer ein im Grossen und Ganzen anständiges Leben
führte und nicht öffentlich Anstoss erregte, «beichtete»
das ganze Leben hindurch nicht anders als bei Gott im Gebete.
Zwei Tatsachen haben dann am Ende des Altertums dazu beigetragen, dass
die im Grund grossartig gedachte Bussliturgie der alten Kirche sich auf
einem toten Geleise festfuhr und zur praktischen Wirkungslosigkeit verurteilt
wurde.
Die erste Tatsache ist der unselige Grundsatz von der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit
der grossen Kirchenbusse. Zum ersten Mal erscheint diese Lehre von der «poenitentia
una», von der nur einmal gewährten Möglichkeit, die öffentliche
Kirchenbusse zu leisten, in einer Bussschrift des 2. Jahrhunderts, die den
seltsamen Titel trägt: «Der Hirte des Hermas». Rigoristische
Irrlehren wie der Montanismus und der Novatianismus und dann vor allem der
geistesgewaltige, aber fanatische Afrikaner Tertullian haben das ihrige
dazu beigetragen, dieser unseligen Auffassung in Theorie und Praxis zum
Siege zu verhelfen. Ja, Tertullian ging sogar so weit, gewisse Sünden
als unvergebbar von der Busse überhaupt auszuschliessen. Darin ist
ihm die offizielle Kirche nicht gefolgt. Die Lehre von der nur einmal zu
gewährenden Busse aber wurde leider durch Jahrhunderte zum feststehenden
Prinzip und starr durchgeführt. Man stellte die einmalige Busse der
einmaligen Taufe gegenüber. Brach der Mensch das zweite Mal in schwerer
Sache sein Gelöbnis gegenüber Gott, so konnte er mit einem erneuten
Heilmittel nicht mehr rechnen. Die Kirche wird für ihn beten, und in
der Todesstunde wurde ihm wohl auch die Wegzehrung gereicht. Ein eigentliches
Eintreten in den Stand der Büsser aber kam nur einmal in Frage. Eine
solche Auffassung, die vor 313, als der Elite-Geist die junge Kirche noch
beherrschte, noch tragbar war, hatte später, als die grossen Massen
in die Kirche einströmten, katastrophale Folgen. Die Gefahr, während
eines langen Lebens immer wieder in schwere Schuld zu fallen, und die trotzdem
nur einmalige Möglichkeit, die kirchliche Verzeihung zu erlangen, veranlasste
immer mehr Christen, die Busse und die kirchliche Vergebung erst auf dem
Totenbette zu erbitten. Damit kam man erstens um strenge Bussleistungen
und entging dazu der Gefahr, nach erfolgter Rekonziliation wieder in schwere
Sünde zu fallen. Immer mehr wurde die Beichte so zu einer ausschliesslichen
Vorbereitung auf den Tod.
Dieses möglichst weite Hinausschieben der Beichte wurde dann noch gefördert
durch eine zweite Tatsache: die lebenslängliche Bussverpflichtung.
Zur Unwiederholbarkeit kam also eine zweite, beinahe untragbare Forderung
hinzu, nämlich die Forderung, ja der strenge Befehl, nach übernommener
Busse für den Rest des Lebens überhaupt auf das «weltliche
Leben» zu verzichten und wie im Ordensstande zu leben. So mutete man
beispielsweise Eheleuten zu, nach geleisteter Busse auf den ehelichen Verkehr
für den ganzen Rest ihres Lebens zu verzichten. Die kirchliche Busse
wird so zu einem Gelübde steter Keuschheit, der Büsser wird zum
Mönch. An diesen Übersteigerungen und Masslosigkeiten musste das
kirchliche Bussverfahren scheitern. Wie sollte man die verweltlichten Durchschnittschristen
dazu bringen, nicht nur der Sünde, sondern auch einem an sich erlaubten
Weltleben für immer zu entsagen und dafür eine Art Mönchsleben
einzutauschen?
So kam es, dass im Verlauf des 5. und 6. Jahrhunderts die kirchliche Busse
für das normale Christenleben immer mehr ausschied und zu einem blossen
Mittel der Vorbereitung auf den Tod wurde. Ja, man ging sogar so weit, den
Leuten dieses möglichst weite Hinausschieben zur Busse zu empfehlen
und jungen Leuten die Busse, abgesehen von äusserster Todesgefahr,
zu verweigern. Es kam zu einem katastrophalen Ausfall des Busssakramentes
für das christliche Leben. Auf dem Sterbebette wurde es dann schlechthin
von allen erbeten, sei es aus Notwendigkeit wegen schwerer Schuld, sei es
aus blosser Devotion. Die Kirchenbusse wird zur Krankenbusse und verliert
damit die eigentliche, lebensformende Kraft.
So musste sich eine Reform der kirchlichen Busse aufdrängen, indem
man vom starren Grundsatz ihrer Unwiederholbarkeit abging. Sie kam im Mittelalter,
vor allem durch die iro-schottischen und angelsächsischen Mönche.
Es bleibt das Verdienst der iro-angelsächsischen Kirche, beim Anbruch einer neuen Zeit, in ihrer frischen Unbefangenheit durch die Einführung der wiederholbaren Privatbeichte einen segensreichen Wandel gegen schwersten Widerstand in den südlichen Ländern, vorab in Spanien, erzwungen zu haben. Die keltische Kirche war wegen ihrer Abgeschlossenheit in Fragen des Kultes und der Disziplin schon immer eigene Wege gegangen. Sie hatte in ihrer Busspraxis die allgemeine Fehlentwicklung nicht mitgemacht und kannte stets die private öftere Busse. Sie bestand im privaten Sündenbekenntnis vor dem Priester, der Übernahme von meist recht handfesten, saftigen Busswerken und der abschliessenden Rekonziliation. Diese neue Praxis verlangte zwei Dinge: eine Erweiterung der Beichtmaterie und eine reichere Vielfalt der Kirchenbussen. Beides boten die nunmehr aufkommenden Bussbücher, die umfangreiche Sündenkataloge entwickelten und für jede Schuld, wie ein heilsames Rezept, die entsprechende Busse verzeichneten. Diese «Tarifbussen» waren absolut nicht billig und brauchten oft ziemlich Zeit. Gebet und Fasten standen im Vordergrund. Dazu kam Enthaltung vom ehelichen Verkehr, der Verzicht auf das Tragen von Waffen und das Almosen. Später kommen dazu Pilgerfahrten nach Rom, Santiago de Compostela und Jerusalem, Klostereintritt und Geisseln. Weil solche handfesten Bussen vielen bald beschwerlich wurden und die Beichthäufigkeit darunter litt, erfand man die so genannten Redemptionen, leichtere Bussen, für die ursprünglich angeordnete Sühne. Die Bussbücher nannten denn auch gleich diese Auswegsmöglichkeiten, die aus Gebet und Almosen bestanden und das Ablasszeitalter einleiteten. Eine gewisse Gefahr der Veräusserlichung und der sittlichen Entleerung war damit ohne Zweifel gegeben. Am bedenklichsten wurde die Sache dann, wenn man sich für Geld durch andere in der Bussleistung vertreten liess, und etwa ein Grossgrundbesitzer aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts eine entsprechende Zahl zum Fasten gedungener Männer seine siebenjährige Busse in drei Tagen erledigen liess.
Es gilt ein Satz von Bernhard Poschmann: «Die Kirche kommt zum
Ablass, ohne davon etwas zu merken.» Und es ist eben dieses Unauffällige,
Unprogrammatische seiner Entstehung und Einbürgerung, was seine Geschichte
so undurchsichtig macht. Die Entwicklung der Frömmigkeit und ihrer
Bedürfnisse geht dabei voran; die theologische Reflexion, Kritik oder
Rechtfertigung und die nachfolgende kirchenamtliche Einordnung erfolgen
erst nachträglich.
Zwei Elemente der altkirchlichen Busspraxis und der frühmittelalterlichen
Ablösung durch die irischen Mönche spielen dabei im Ablass eine
Hauptrolle:
Die ältesten geschichtlich bezeugten Ablässe stammen von Bischöfen
Südfrankreichs aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Sie
wurden für Almosen und Kirchenbesuch erteilt. Immer noch steht aber
ein konkreter Busserlass im Vordergrund, freilich verbunden mit einer Absolution,
also einer Fürbitte, meist deprekativer Natur. Der Busserlass war konkret
vollziehbar, indem etwa das für ein Jahr auferlegte Bussfasten um Tage
oder Wochen reduziert wurde. Die Wirkung der Absolution hingegen wird Gott
anheim gestellt im Sinn eben der hier erfolgten Fürbitte, der aber,
weil sie amtlich erfolgte, besondere Wirkkraft zugeschrieben wurde.
Anfänglich waren die Ablässe noch selten. Wichtig wurde der aus
Frankreich stammende Papst Urban II. (10881099) mit dem ersten Kreuzzugablass.
Da hier das zu leistende gute Werk, eben die Teilnahme am Kreuzzug, eine
enorme Leistung darstellte, erfolgte der Busserlass total, also vollkommen.
Schon in dieser Zeit sind auch Almosenablässe bezeugt.
Auch Pilgerfahrten nach Rom und an andere heilige Stätten wurden mit
einem Ablass versehen und auch hier wurde, wegen der überdurchschnittlichen
Leistung, ein vollkommener Ablass, also ein totaler Busserlass, gewährt.
Von Sündennachlass war nur im Zusammenhang mit den Absolutionen, also
mit dem fürbittenden Gebet die Rede. Der Unterschied von Sünde
und Sündenstrafe ist noch weitgehend unbekannt, wird auf jeden Fall
nicht akzentuiert bzw. reflektiert.
Der Ablass ist also, in der Nachfolge der alten öffentlichen Kirchenbusse,
anfänglich eine Unterstützung der persönlichen Bussbemühungen
(Redemptionen), verbunden mit einer Fürbitte, den Absolutionen. Der
wohl älteste bekannte Typ findet sich in den Kreuzzugablässen.
Soweit die Praxis seit dem 11. Jahrhundert, zur Zeit der Frühscholastik.
Reste der alten Bussordnungen sind hier noch erkennbar. Der Redemptionsgedanke
ist noch greifbar. Einen qualitativen Sprung erfolgt dann im Zusammenhang
mit der theologischen Durchdringung in der Hochscholastik, im 12. und 13.
Jahrhundert, in einer Zeit, wo die Bussleistungen auch im sakramentalen
Bereich der Beichte immer mehr in den Hintergrund treten.
Eine neue Betrachtungsweise findet nun in der Theologie des Ablasses ihren
Platz. Der Ablass ist nun nicht mehr in erster Linie Nachlass auferlegter
Busswerke, sondern Nachlass von Sündenstrafen, Nachlass der Fegfeuerstrafe.
Damit bekommt der Ablass ein neues transzendentes Gesicht. Er greift ins
Übernatürliche und zwar nicht nur, wie die alten Fürbitten
und Absolutionen, deprekativ, sondern autoritativ, kirchenamtlich. Man beruft
sich auf die Binde- und Lösegewalt der Heiligen Schrift. Der Ablass
bekommt eine transzendente Wirkung. Es kommt also zu einer dogmatischen
Umdeutung des Ablassbegriffs, und leicht werden dann Sündenstrafen
mit Sünden verwechselt, ein Missverständnis, das ja bis heute
nicht aus der Welt geschafft werden konnte. Ablass als Nachlass von Sünden,
Ablass als Nachlass von Sündenstrafen: Erlass der jenseitigen Sündenstrafen
(Fegfeuerstrafen), ehedem auf die Fürsprache der Heiligen und Märtyrer
erfleht, wird nun durch einen jurisdiktionellen Akt gewährt.
Zur weiteren Begründung kommt nun die Lehre vom Kirchenschatz dazu,
erstmals von Hugo von St.Cher 1230 vorgetragen. Im Kirchenschatz finden
sich die überreichen Verdienste Christi und die überquellenden
Verdienste der Heiligen. «Im Blut Christi und im Blut der Märtyrer
ist jede Sünde gestraft worden. Dies vergossene Blut ist im Schrein
der Kirche niedergelegt. Ein Schatz, dessen Schlüssel die Kirche hat,
so dass sie nach Belieben den Schrein öffnen und durch Gewährung
von Ablässen von dem Schatz mitteilen kann, wem sie will.» Die
Weiterentwicklung des Ablasses im hohen und späteren Mittelalter ist
durch folgende Merkmale charakterisiert:
Luthers 95 Thesen gegen den Ablass richten sich nicht nur gegen die Auswüchse (Grosshandelsgeschäft über eine Bank), sondern gegen die Vergegenständlichung und Verrechenbarkeit der Busse und des Werkes Christi.
Das meiste, was hier zu sagen ist, ist schon im historischen Abschnitt
deutlich geworden. Vielleicht zur Verdeutlichung nur noch dies: Der Ablass
ist nach Karl Rahner eine Kombination der alten, als Gebet der Kirche wirksamen
Absolution von zeitlichen Sündenstrafen mit einem jurisdikisionellen
Erlass kirchlicher Bussstrafen. Dabei spielt der Gedanke der Sündenstrafen
eine wichtige Rolle.
Dass es Sündenfolgen gibt, das viele Sünden aus sich selber eine
Strafe entlassen, bittere Folgen nach sich ziehen, ist offensichtlich und
in der modernen Psychologie unbestritten. Es ist nicht Gott, der uns als
zorniger Richter Strafen auferlegt. Wir bestrafen uns meist selber, verhindern
die Reifung unserer Persönlichkeit. Die Tilgung solcher Sündenfolgen
kann ein leidvoller Prozess sein. Sünde und Schuld hindern den Reifungsprozess
meiner Persönlichkeit. Eine oft leidvolle Integrierung in meine Person
ist gefordert. Eine Läuterung meiner Person, die wir auch meinen, wenn
wir vom Fegfeuer reden. Man denkt dabei heute wohl an einen leidvollen Prozess,
der mit dem Sterbeprozess zusammen gesehen wird. Im Sterbevorgang reife
ich zu grösserer Vollkommenheit und gehe so ein in ein ewiges Leben.
Die Berufung auf den Kirchenschatz könnte einen Sinn bekommen, natürlich
in anderer Terminologie, wenn wir an die Lehre vom Leib Christi denken,
wie sie Paulus im ersten Korintherbrief entfaltet hat. Wir denken an die
Gemeinschaft der Heiligen, die wir im Credo bekennen. Wir gebrauchen den
modernen Begriff der Solidarität und von daher die Wichtigkeit der
stellvertretenden Fürbitte füreinander. Kirche als Glaubens- und
Gebetsgemeinschaft.
Und warum soll nicht auch eine dankbare, erinnernde Solidarität mit
unseren Verstorbenen möglich sein?
Als pastorale Überlegung kann ich schliessen mit einem Zitat von Karl Rahner: «Es ist nüchtern die Tatsache zu sehen, dass das religiöse Interesse am Ablass weitgehend, und zwar auch in religiös lebenden Kreisen, in der Kirche im Schwinden begriffen ist (oder vielleicht schon verschwunden ist). Die Formen der echten religiösen Heilssorge des Einzelnen haben tiefgreifende Wandlungen erfahren, sich verlagert auf die Feier der Eucharistie, das persönliche Gebet und das christliche Bestehen der tragischen Härte des profanen Daseins. Dazu kommt, dass der heutige Mensch sich schwer tut, sich für das Heil der verstorbenen Angehörigen mitverantwortlich zu fühlen. Es ist nicht zu erwarten, dass sich diese Situation verändern würde durch amtliche Empfehlungen des Ablasses oder durch neue Ablassverleihungen.»<3>
Josef Bommer ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universitären Hochschule Luzern.
1 Karl Rahner, Bemerkungen zur Theologie des Ablasses, in: Schriften zu Theologie, Band II, S. 185ff.
2 Vgl. das Märtyrerprivileg.
3 AaO. Benützte Literatur: Karl Rahner, Schriften zur Theologie II, Einsiedeln 1955, 185210 (Bemerkungen zur Theologie des Ablasses); ders, Schriften zur Theologie XI, Einsiedeln 1973, (Frühe Bussgeschichte in Einzeluntersuchungen); Bernhard Poschmann, Handbuch der Dogmengeschichte, Band IV, Faszikel 3: Busse und letzte Ölung; Josef Bommer, Von der Beichte und vom Beichten, Luzern/München 1962; dann die entsprechenden Lexikonartikel im LThK, RGG und HThT.