42/2000 | |
INHALT |
Lesejahr B |
Jeremia wurde als Prophet für die Völker berufen (Jer 1,5;
vgl. SKZ 4/1998). In der Tat nehmen die Orakel über Israels Nachbarvölker
im Jeremiabuch breiten Raum ein (Jer 4651 in der hebräischen und
Jer 25,1432,24 in der griechischen Überlieferung). Nach Jeremias
Tod wurden weitere Aussagen zum Thema Israel und die Völker ins Jeremiabuch
aufgenommen, weit in die nachexilische Zeit hinein.
Zu diesen Texten gehört wahrscheinlich auch der Lesungstext aus dem
so genannten Trostbuch für Efraim (Jer 30f.), ein Jubelruf auf die
Heimkehr aus der Gola in Gestalt eines symmetrisch aufgebauten JHWH-Wortes:
A Jakob, Haupt der Völker (31,7a)
B Geleit von JHWH (31,7b8a)
X Grosse Gemeinde (31,8b)
B' Geleit von JHWH (31,9a)
A' Efraim, Erstgeborener von Israels Vater
(31,9b)
Zu A/A': Das Volk der Heimkehrer wird mit drei verschiedenen Namen bezeichnet.
Jakob gilt als Vater seiner zwölf Stämme. Israel ist sein Ehrenname,
der in den Erzelternerzählungen mit der Geschichte von Jakobs Kampf
mit der göttlichen Gestalt am Jabbok erklärt wird. Efraim schliesslich
ist ein Sohn Josefs, der von Jakob zum Leidwesen seines älteren Bruders
Manasse den Erstgeburtssegen Jakobs empfängt. Da in diesem Text Gott
Vater Israels genannt wird, ist klar, dass der Titel «Erstgeborener»
(bökor) als Ehrenname zu verstehen ist. Hinter den familiengeschichtlich
dargestellten Ereignissen verbergen sich politische Entwicklungen. Überraschen
mag vielleicht, dass sich die Heimkehrer mit dem im Nordreich verorteten
Efraim und nicht mit Juda identifizierten. Doch Jerusalem war zur Zeit der
Deportation, besonders seit den Reformen unter Joschija, auch ein Sammelbecken
der Aristokratie aus den nördlich der Stadt gelegenen Gebieten. Mit
der Vaterschaft Gottes sollte der auf Jakob/Israel/Efraim ruhende Segen
(des Vaters) herausgestrichen werden, der in der Repatriierung des Volkes
konkrete Gestalt anzunehmen begann. Damit wurde demokratisierend auf das
ganze Volk übertragen, was in früheren Zeiten nur der König
für sich beanspruchen durfte: die Gottessohnschaft des Erstgeborenen
(2 Sam 7,14; Ps 89,27f.; vgl. SKZ 1/1999). Ausserdem klang mit dem Begriff
«Erstgeborener» die Exodus-Tradition an, wonach die Erstgeburt
Ägyptens von JHWH getötet wurde, damit sein eigener Erstgeborener,
Jakob/Israel, in die Freiheit entlassen werden konnte. Schon bei Hosea wurde
dieses Exodus-Motiv mit dem Namen Efraim verbunden (Hos 10,11).
Zu B/B': JHWH präsentiert sich in diesen Versen als Begleiter und Beschützer
seines Volkes, das auf ebener Strasse entlang wasserführender Bäche
nach Hause zurückkehrt. Die aus der assyrischen Deportationsrhetorik
stammenden Motive sind besonders aus den Texten der Zweiten Jesajas bekannt
(vgl. SKZ 47/1999). Mit dem Nordland ist Mesopotamien gemeint, zu dem hin
die Strassen von Palästina aus, dem fruchtbaren Halbmond folgend, zunächst
nach Norden führen.
Zu X: Im Zentrum des Hymnus steht die «grosse Gemeinde» (qahal
gadol), die solche Lieder ja sang. Der Ausdruck «Gemeinde» verweist
auf den besonderen kultischen Status der Heimgeführten und wie die
Ausdrücke «Haupt» und «Erstgeborener» auf das
elitäre Selbstbewusstsein der Autoren/Autorinnen dieses Textes. Ihm
entsprach eine umfassende nach innen gerichtete Solidarität, wie sie
sich in der ausdrücklichen Nennung der Blinden und Lahmen, der Schwangeren
und Wöchnerinnen (vgl. Kasten) unter den Heimkehrern/Heimkehrerinnen
zeigt.
«Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich Gott aller, die ihn fürchten» (Ps 103,13). Auch wenn Israel für sich den Rechtsanspruch des Erstgeborenen beanspruchte, so war doch klar, dass Gott der Vater aller Menschen ist, die ihn fürchten. In diesem Sinne ruft die heidenchristliche Kirche Gott zu Recht als «Unser Vater» an. Die dadurch ausgedrückte Geschwisterschaft mit Jüdinnen und Juden, ja mit allen Menschen, die Gottes Wohlgefallen gefunden haben, kann und muss die Basis für eine ökumenische Gesinnung sein.
Andererseits kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass die Lesung und viele andere biblische Texte ein VaterSohn-Image vermitteln, das von Männern, die einen Ausstieg aus der patriarchalen Gesellschaft unterstützen, nicht mehr verantwortet werden kann. Bereits in der Bibel wird das Recht des Erstgeborenen ja permanent in Frage gestellt, indem Gott oft mit Hilfe der Frauen den Zweitgeborenen den Ehrenplatz zukommen lässt. An die Stelle festgeschriebener patriarchaler Hierarchien muss die Anerkennung individueller Qualitäten bzw. Charismen treten, die auch zwischen den Geschlechtern keine Schranken mehr zieht.
Literaturhinweis: Annette Böckler, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000.
Im Uterus (vgl. SKZ 17/1998) wird der Embryo vom göttlichen Handwerker
in geheimnisvoller Weise (2 Makk 7,22) getöpfert (Jer 1,5), gebaut
(Ijob 10,8) bzw. gewoben (Ps 139,13). Nur Gott hat Zugriff auf den Mutterschoss,
kann ihn öffnen oder verschliessen (vgl. 1 Sam 1,10f.). In den Schwangeren
ist Gottes segensreiches Wirken daher besonders präsent. Die Schwangere
als Gefäss des Heiligen Geistes ist speziell zur Prophetie disponiert
(Lk 1,46ff.). Schwangere als Ausdruck göttlicher Segnung waren im Palästina
der späten Eisenzeit und der Perserzeit (ca. 7.4. Jh. v. Chr.)
als Andachtsfiguren aus Terrakotta verbreitet. Ihren Bauch rieben die Schwangeren
mit Öl ein. Dazu verwendeten sie unter anderem ägyptisch inspirierte
so genannte Gravidenfläschchen. Auch die nilpferdgestaltige ägyptische
Gottheit Toëris, Schutzgöttin der Schwangeren, war in Palästina
zu bestimmten Zeiten auf Amuletten und so genannten Zaubermessern präsent.
Die Lebensgefahr für Gebärende war sehr gross, und besonders prekär
die Zeit des Wochenbetts. In Ägypten wurde die Wöchnerin in der
so genannten Wochenlaube von einer Freundin gepflegt. Schutzgeist der Wochenlaube
war Bes (vgl. SKZ 3334/2000), der ab der Perserzeit auch als Allgott
verehrt wurde (vgl. Bild). Dass die Wöchnerin einen besonderen Status
genoss, wird im Ersten Testament nur negativ greifbar, insofern sie gewissen
kultischen Tabus unterstand, die bei männlichen Kindern vierzig, bei
weiblichen achtzig Tage lang dauerten (Lev 12,4f.). Wahrscheinlich spiegelt
sich damit auf der rituellen Ebene die unterschiedliche Wertung von Mädchen
und Knaben (vgl. Lev 27,27). Die priesterlich verordnete Reinigungspflicht
der Wöchnerin hat in der katholischen Kirche zur Aussegnung der Frauen
vor dem ersten Messgang nach der Geburt geführt eine Unsitte,
die erst nach dem 2. Vatikanischen Konzil allmählich verschwand.