42/2000

INHALT

Lesejahr B

Gott als Vater

Thomas Staubli zu Jer 31,7-9

 

Bibel: Heimkehr als Erstgeborene

Jeremia wurde als Prophet für die Völker berufen (Jer 1,5; vgl. SKZ 4/1998). In der Tat nehmen die Orakel über Israels Nachbarvölker im Jeremiabuch breiten Raum ein (Jer 46­51 in der hebräischen und Jer 25,14­32,24 in der griechischen Überlieferung). Nach Jeremias Tod wurden weitere Aussagen zum Thema Israel und die Völker ins Jeremiabuch aufgenommen, weit in die nachexilische Zeit hinein.
Zu diesen Texten gehört wahrscheinlich auch der Lesungstext aus dem so genannten Trostbuch für Efraim (Jer 30f.), ein Jubelruf auf die Heimkehr aus der Gola in Gestalt eines symmetrisch aufgebauten JHWH-Wortes:

A Jakob, Haupt der Völker (31,7a)
B Geleit von JHWH (31,7b­8a)
X Grosse Gemeinde (31,8b)
B' Geleit von JHWH (31,9a)
A' Efraim, Erstgeborener von Israels Vater
(31,9b)

Zu A/A': Das Volk der Heimkehrer wird mit drei verschiedenen Namen bezeichnet. Jakob gilt als Vater seiner zwölf Stämme. Israel ist sein Ehrenname, der in den Erzelternerzählungen mit der Geschichte von Jakobs Kampf mit der göttlichen Gestalt am Jabbok erklärt wird. Efraim schliesslich ist ein Sohn Josefs, der von Jakob zum Leidwesen seines älteren Bruders Manasse den Erstgeburtssegen Jakobs empfängt. Da in diesem Text Gott Vater Israels genannt wird, ist klar, dass der Titel «Erstgeborener» (bökor) als Ehrenname zu verstehen ist. Hinter den familiengeschichtlich dargestellten Ereignissen verbergen sich politische Entwicklungen. Überraschen mag vielleicht, dass sich die Heimkehrer mit dem im Nordreich verorteten Efraim und nicht mit Juda identifizierten. Doch Jerusalem war zur Zeit der Deportation, besonders seit den Reformen unter Joschija, auch ein Sammelbecken der Aristokratie aus den nördlich der Stadt gelegenen Gebieten. Mit der Vaterschaft Gottes sollte der auf Jakob/Israel/Efraim ruhende Segen (des Vaters) herausgestrichen werden, der in der Repatriierung des Volkes konkrete Gestalt anzunehmen begann. Damit wurde demokratisierend auf das ganze Volk übertragen, was in früheren Zeiten nur der König für sich beanspruchen durfte: die Gottessohnschaft des Erstgeborenen (2 Sam 7,14; Ps 89,27f.; vgl. SKZ 1/1999). Ausserdem klang mit dem Begriff «Erstgeborener» die Exodus-Tradition an, wonach die Erstgeburt Ägyptens von JHWH getötet wurde, damit sein eigener Erstgeborener, Jakob/Israel, in die Freiheit entlassen werden konnte. Schon bei Hosea wurde dieses Exodus-Motiv mit dem Namen Efraim verbunden (Hos 10,11).
Zu B/B': JHWH präsentiert sich in diesen Versen als Begleiter und Beschützer seines Volkes, das auf ebener Strasse entlang wasserführender Bäche nach Hause zurückkehrt. Die aus der assyrischen Deportationsrhetorik stammenden Motive sind besonders aus den Texten der Zweiten Jesajas bekannt (vgl. SKZ 47/1999). Mit dem Nordland ist Mesopotamien gemeint, zu dem hin die Strassen von Palästina aus, dem fruchtbaren Halbmond folgend, zunächst nach Norden führen.
Zu X: Im Zentrum des Hymnus steht die «grosse Gemeinde» (qahal gadol), die solche Lieder ja sang. Der Ausdruck «Gemeinde» verweist auf den besonderen kultischen Status der Heimgeführten und wie die Ausdrücke «Haupt» und «Erstgeborener» auf das elitäre Selbstbewusstsein der Autoren/Autorinnen dieses Textes. Ihm entsprach eine umfassende nach innen gerichtete Solidarität, wie sie sich in der ausdrücklichen Nennung der Blinden und Lahmen, der Schwangeren und Wöchnerinnen (vgl. Kasten) unter den Heimkehrern/Heimkehrerinnen zeigt.

Kirche: Ein Vater, viele Geschwister

«Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich Gott aller, die ihn fürchten» (Ps 103,13). Auch wenn Israel für sich den Rechtsanspruch des Erstgeborenen beanspruchte, so war doch klar, dass Gott der Vater aller Menschen ist, die ihn fürchten. In diesem Sinne ruft die heidenchristliche Kirche Gott zu Recht als «Unser Vater» an. Die dadurch ausgedrückte Geschwisterschaft mit Jüdinnen und Juden, ja mit allen Menschen, die Gottes Wohlgefallen gefunden haben, kann und muss die Basis für eine ökumenische Gesinnung sein.

Welt: Väter und Söhne in neuen Rollen

Andererseits kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass die Lesung und viele andere biblische Texte ein Vater­Sohn-Image vermitteln, das von Männern, die einen Ausstieg aus der patriarchalen Gesellschaft unterstützen, nicht mehr verantwortet werden kann. Bereits in der Bibel wird das Recht des Erstgeborenen ja permanent in Frage gestellt, indem Gott ­ oft mit Hilfe der Frauen ­ den Zweitgeborenen den Ehrenplatz zukommen lässt. An die Stelle festgeschriebener patriarchaler Hierarchien muss die Anerkennung individueller Qualitäten bzw. Charismen treten, die auch zwischen den Geschlechtern keine Schranken mehr zieht.

 

Literaturhinweis: Annette Böckler, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines Gottesbildes, Gütersloh 2000.


Schwangere und Wöchnerinnen

Im Uterus (vgl. SKZ 17/1998) wird der Embryo vom göttlichen Handwerker in geheimnisvoller Weise (2 Makk 7,22) getöpfert (Jer 1,5), gebaut (Ijob 10,8) bzw. gewoben (Ps 139,13). Nur Gott hat Zugriff auf den Mutterschoss, kann ihn öffnen oder verschliessen (vgl. 1 Sam 1,10f.). In den Schwangeren ist Gottes segensreiches Wirken daher besonders präsent. Die Schwangere als Gefäss des Heiligen Geistes ist speziell zur Prophetie disponiert (Lk 1,46ff.). Schwangere als Ausdruck göttlicher Segnung waren im Palästina der späten Eisenzeit und der Perserzeit (ca. 7.­4. Jh. v. Chr.) als Andachtsfiguren aus Terrakotta verbreitet. Ihren Bauch rieben die Schwangeren mit Öl ein. Dazu verwendeten sie unter anderem ägyptisch inspirierte so genannte Gravidenfläschchen. Auch die nilpferdgestaltige ägyptische Gottheit Toëris, Schutzgöttin der Schwangeren, war in Palästina zu bestimmten Zeiten auf Amuletten und so genannten Zaubermessern präsent.
Die Lebensgefahr für Gebärende war sehr gross, und besonders prekär die Zeit des Wochenbetts. In Ägypten wurde die Wöchnerin in der so genannten Wochenlaube von einer Freundin gepflegt. Schutzgeist der Wochenlaube war Bes (vgl. SKZ 33­34/2000), der ab der Perserzeit auch als Allgott verehrt wurde (vgl. Bild). Dass die Wöchnerin einen besonderen Status genoss, wird im Ersten Testament nur negativ greifbar, insofern sie gewissen kultischen Tabus unterstand, die bei männlichen Kindern vierzig, bei weiblichen achtzig Tage lang dauerten (Lev 12,4f.). Wahrscheinlich spiegelt sich damit auf der rituellen Ebene die unterschiedliche Wertung von Mädchen und Knaben (vgl. Lev 27,2­7). Die priesterlich verordnete Reinigungspflicht der Wöchnerin hat in der katholischen Kirche zur Aussegnung der Frauen vor dem ersten Messgang nach der Geburt geführt ­ eine Unsitte, die erst nach dem 2. Vatikanischen Konzil allmählich verschwand.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2000