20/2000 | |
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Das Interview |
Vor 35 Jahren schickte der Bischof von St. Gallen den Diözesanpriester Dr. theol. Karl Josef Romer nach Brasilien. Dort lehrte er zunächst als Professor der Dogmatik in Bahia. 1972 folgte er seinem Vorgesetzten, Erzbischof Eugênio de Araûjo Sales, nach Rio de Janeiro. Seit 1975 Weihbischof von Rio, ist er heute zuständig für die theologische Ausbildung am Priesterseminar, für die Weiterbildung des Klerus, für die Katholische Universität sowie für die Sozialen Werke der Kirche von Rio. Weihbischof Romer ist der theologische Berater von Kardinal Sales und gilt allgemein als dessen rechte Hand. Der Schweizer Journalist Dr. Hermann Schlapp besuchte ihn in Rio und begleitete ihn durch die Favelas; im Auftrag der SKZ führte er mit Weihbischof Romer das folgende Interview.
Die Sekten sind eine Zeit lang unglaublich rasch gewachsen. Es hat sich allerdings erwiesen, dass dieses explosive Wachstum nicht von Dauer war. Vieles war nur Strohfeuer. Viele sind in die katholische Kirche zurückgekommen. Andere blieben leider verwirrt auf offenem Felde liegen. Allzu viele mussten enttäuscht feststellen, dass man ihnen unter Verheissung des Himmels oder Androhung von Höllenstrafen lediglich das Geld aus der Tasche gezogen hatte. Darum sind die Sekten heute keineswegs mehr so erfolgreich, wie sie es waren.
Wir waren selber überrascht, dass sich in der Stadt Rio bei der letzten Volkszählung etwas über 82 Prozent als katholisch erklärt haben.
Diese Behauptung geht von absolut falschen Vorstellungen aus. Von einer solchen Enttäuschung oder Abwendung von der Kirche ist kaum etwas zu sehen. Es kann in einzelnen Fällen sein, dass Leute, die sich in den letzten zwanzig Jahren immer mehr vom tieferen Lebensstrom der Kirche entfernt haben, in oft gut gemeinter, jedoch ideologisch belasteter Haltung nicht mehr (oder noch nicht) zurückgefunden haben in die Kirche. Das sind belegbare, schmerzliche Einzelfälle.
Ich möchte, wie ich das bereits früher getan habe, eine vierfache
Typologie der Befreiungstheologie aufstellen. Danach werden sie nicht nur
meine Haltung, sondern die Frage dieser Theologie an sich besser verstehen:
Als erste, nicht besonders grosse, aber tatsächlich extremste Gruppe
der Befreiungstheologie nenne ich jene, die die Lösung in einem radikalen,
mehr oder weniger marxistisch-ideologischen Kommunismus mit Klassenkampf
und all seinen fürchterlichen Begleiterscheinungen suchten. Einige
dieser Leute scheinen in eine schwere Glaubenskrise geraten zu sein.
Die zweite Gruppe vertrat die Meinung: Kommunismus ja, ideologischer Marxismus
nein. Das hat zum Beispiel Leonardo Boff mehrmals gesagt. Er betrachtete
den praktischen Kommunismus als das Modell. Nach einer Russlandreise erklärte
er, er habe im Kommunismus jenes Landes beredte Zeichen des Reiches Gottes
gesehen. Diese Äusserung hat ihm besonders im gewaltsam geteilten Deutschland
viel Sympathie entzogen. Einmal sagte Bischof Lorscheiter in meiner Gegenwart
zu ihm, er solle doch aufhören, diesen alten Kadaver, der schon lange
verwest sei, auszugraben. Darauf erklärte Boff, er spreche ja gar nicht
vom korrupten russischen, sondern vom chinesischen Kommunismus. Viele schüttelten
über derartige Äusserungen nur noch den Kopf. Die Anhänger
auch dieser Gruppe sprachen bewusst vom Klassenkampf, waren sich aber wohl
nicht bewusst, dass nach Engels die Seele des Klassenkampfes der Hass ist.
Die dritte Gruppe ist eigentlich eine kulturelle Richtung: Man soll den
Menschen das Recht geben, ihre alt angestammten Kulturen zu bewahren. Diese
Kulturen sollten nicht von anderen, auch nicht vom Christentum, verdrängt
werden. Das ist eine grosse Idee. Auch Papst Johannes Paul II. ist ein starker
Verteidiger der Kulturen der Völker. Die Frage der Motive bleibt dabei
offen.
Die vierte Gruppe ist die Befreiungstheologie, die nicht von einem politischen
Modell, sondern vom Evangelium ausgeht. Man muss im Namen Gottes den Menschen
ernst nehmen und ihn in jeder Hinsicht zur Entfaltung bringen: in seiner
Freiheit und unverzichtbaren Würde als Individuum, aber ebenso als
Gemeinschaftswesen. Das aber ist im Grunde seit hundert Jahren die Soziallehre
der katholischen Kirche.
Natürlich ist es nicht so, wie in Europa immer wieder behauptet wurde, die Befreiungstheologen seien für die Befreiung der Armen und die so genannt konservativen Theologen für die Erhaltung des ungerechten Zustandes der Welt. Das ist eine absolute Verzeichnung. Es geht uns allen um die Befreiung der Armen. Auch Dom Helder Camara hat immer klar betont, dass es der Kirche in Rio eindeutig um den Dienst an den Armen gehe...
Der Glaube der Kirche lehrt uns, dass kein geschichtliches Modell absolute Norm sein kann, weder die Aristokratie oder die Monarchie, noch der Kommunismus, der Liberalismus oder die Demokratie. Leitbild kann nur der Mensch in seiner unersetzbaren Würde und Einmaligkeit als Individuum und in seiner Offenheit auf die Gemeinschaft hin sein. Nur von diesem anthropologischen und theologischen Punkt aus kann und darf der Christ seinen spezifischen Beitrag an die Welt leisten. Dieser sein Beitrag muss nachher in konkrete politische Forderungen übersetzt werden. Das ist die entscheidende Aufgabe intelligenter Männer und Frauen, der Laien, die kompetent in der Welt stehen, um sie zu gestalten. Jedes System, ob links oder rechts, eine oft stumpfsinnige Einteilung, muss immer wieder in Hinblick auf die genannte Menschenwürde hinterfragt werden.
Es freut mich überaus, wenn Menschen sagen, ich handle richtig. Dem Vorwurf aber, meine theologische Auffassung sei nicht richtig, weil sie nicht befreiungstheologisch sei, möchte ich entgegenhalten, dass meine Theologie sogar radikal befreiungstheologisch ist. Aber wahre Befreiungstheologie muss sich am Glauben messen lassen. Der Glaube ist das Mass, nicht die Theologie. So muss auch die Befreiungstheologie, die an der Not der Welt mitleidet, aus den Quellen des Glaubens schöpfen.
Auch ich bin schon in der Schusslinie der Banditen gestanden. Aber ich habe die Überzeugung und der Herrgott möge mir die Kraft geben, diese durchzustehen , dass ich meinem Glauben untreu würde, wenn ich solchem Druck nachgäbe. Die meisten Favelas-Bewohner sind sehr liebe, wertvolle Menschen, die Gottes Feuer in sich tragen. Sie sind vor Gottes Antlitz so wertvoll wie wir, ja viele sind wertvoller. Sie sind meine geliebten, leidenden, Brüder und Schwestern.
Wir müssen schon konkret werden. Menschen, die sich in ihren armseligen Hütten einschliessen müssen, weil sich in ihrer Umgebung Banditen untereinander oder mit der Polizei Feuergefechte liefern, leben in Angst. Kaum jemand wagt sich nachts aus dem Hause, weil unangemeldet die Schiesserei beginnen kann. Drogenschieber, die Traficantes, verlangen manchmal unter Androhung des Todes, dass ein Junge in den Drogenring einsteigt. Armut und Angst sind der bittere Alltag so vieler Favelas-Bewohner. Wie kann ich ihnen helfen? Ihnen einfach das Vaterunser beibringen? Zwar bete ich immer mit ihnen. Sie beten freudig, fast mit einer mystischen Liebe. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen ihnen vor allem auch beibringen, dass sie vor dem Herrgott und vor der Welt würdige, vollwertige Menschen sind, auch wenn sie, im Urteil der Welt, auf der letzten Stufe der politisch-sozialen Lebenspyramide stehen. Vor Gott und meinem Gewissen sind sie genau so wertvoll wie der Bundespräsident oder der Bischof. Doch allein das zu sagen genügt auch nicht. Ich muss ihnen in der Tat helfen, das Selbstbewusstsein wieder zu erlangen.
Wir müssen diese Menschen zuallererst aus ihrer Vereinsamung befreien. Es werden Gemeinschaften gebildet, Einwohnergemeinden, in denen man miteinander lebt und arbeitet, einander hilft, gemeinsam vieles zu tragen und zu verändern. Da hat die Kirche eine ganz grosse, unaufgebbare Aufgabe. Wir helfen, dass die Männer und Frauen lernen, sich selbst zu helfen. Im gegenseitigen Vertrauen entdeckt der Mensch seine eigene Würde. Wir kämpfen gegen die Arbeitslosigkeit mit Kursen für Jugendliche. Wir bilden Frauen und Mädchen aus im Schneidern und Nähen, in der Kranken- und Säuglingspflege, auch werdende Mütter werden unterrichtet. Sie müssen genau so würdige Frauen sein können, wie jene, die in vornehmen Kliniken gebären.
Ja, sicher! Die Stadt und der Staat haben lange Jahre alles versucht, um das Leben in den Favelas unmöglich zu machen. Den Leuten wurde weder Strom noch Wasser gegeben. Sie wurden von der Polizei in entfernteste Aussengebiete verfrachtet. Zwischen 1967 und 1970 hat der Staat über 100000 Menschen aus der Stadt geschafft. Die Politiker wollten die Stadt von den Favelas säubern. Doch nach den drei Jahren war die Zahl der Favelas-Bewohner wesentlich grösser als vor der Vertreibung. Statt der 700000 waren es jetzt eine Million. Die Kirche hat sich seit den Sechzigerjahren dieser brutalen Politik ganz entschieden entgegengestellt. Wir waren der Auffassung, dass selbst Favelas ein Ort seien, in dem Menschen menschlicher werden können. Natürlich muss dafür in den Favelas die minimalste Basisstruktur geschaffen werden. In der Stadt Rio haben wir heute mindestens zwei Millionen Favelas-Bewohner.
Das erste war, wo immer möglich, das Wasser. Die Kirche hat dafür
gekämpft. Heute gibt es in vielen Hütten fliessendes Wasser. Dann
mussten dringend Abwasserkanäle installiert werden. Früher lag
aller Abfall vor den Hütten. Ich habe es selber noch gesehen wie sich
Schweine, Hühner und Kinder in den schmutzigen Strassen, in denen aller
Unrat herumlag, tummelten. Das ist heute viel seltener. Vieles davon konnte
inzwischen auch mit Hilfe der Stadt geändert werden. In
vielen Favelas-Hütten gibt es heute sogar Toiletten mit Wasserspülung.
Das Dritte war das Licht. Wasser, Abwasser und Licht also waren die drei
Grundfaktoren, um einigermassen menschenwürdig zu leben.
Dann kam die Schule für die Kinder. Damit entstand ein ganzer Kranz
von Problemen, aber auch von Hoffnungen: Beschäftigung der Erwachsenen,
Berufsausbildung für Jugendliche und für Erwachsene...
Diese Gefahr ist uns allen völlig bewusst. Es wäre leichtsinnig,
wenn man einfach über das hinwegreden würde. Aber wir machen ja
nicht nur das. Wenn wir einfach in die Favelas gingen, um Almosen und Rosenkränze
zu verteilen, den Leuten den Segen zu spenden, um dann befriedigt nach Hause
zu gehen, dann wäre dies grundsätzlich falsch. Die Favelas sind
ein Produkt eines grossen, komplizierten Apparates: Das ist die moderne
industrialisierte, oder wenn Sie wollen, die moderne liberalistische Welt.
Darum muss die Kirche als grosse Organisation auch auf ganz anderer Ebene
mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen. Der jetzige Kardinal von
Rio, Eugênio Sales, hat seit anfangs der Siebzigerjahre versucht,
die massgebenden Menschen, die in Regierung und Gesellschaft eine Entscheidungsfunktion
haben, in diesen grossen Prozess einzubeziehen. Mit ihnen sollen die Probleme
von Grund auf studiert werden. Es gab oft von der Kirche iniziierte und
von Laien geführte Tagungen, an denen Juristen, Wissenschaftler, Politiker,
Polizeikommandanten, Studenten und Favelas-Bewohner teilnahmen. Immer wieder
wurde gesagt, dieser Raum der Kirche sei die einzige Möglichkeit, ein
freies und offenes Wort zu sprechen und aufeinander zu hören. An andern
Orten käme es zu Ausschreitungen oder Polizeiinterventionen.
Grundsätzlich gilt: die Kirche darf nicht zum Aufstand mit Waffen rufen.
«Wer die Armen zum bewaffneten Kampf aufhetzt», hat Helder Camara
einmal erklärt, «ist ein Verräter am Volk». Am Schluss
bezahlen die Armen, denn die andern sind besser bewaffnet als sie.
Zum Teil ist das grobe Unkenntnis der Tatsachen. Es war eine historisch sehr schwierige Situation. In solcher Lage gibt es keine genauen Verhaltensrezepte. Es ist immer ein Wagnis. Es braucht Klugheit und Mut. Dabei hat man nicht die Garantie, dass man in praktischen Dingen hundert Prozent richtig handelt. Ich habe viel von meinem Chef, Kardinal Sales, gelernt. Er hat während der Militärregierung die von ihm gegründeten landwirtschaftlichen Gewerkschaften weiter unterstützt. Diese waren die einzigen, die vom Regime nicht zerstört wurden. Versammlungen waren verboten; trotzdem hat Erzbischof Eugênio Sales die Landarbeiter zusammengerufen. Das Militär respektierte die grosse moralische Autorität dieses Bischofs. Wir hatten allerdings Spitzel vor Ort. Auch in meinen theologischen Vorlesungen, ohne dass ich davon wusste, hatte ich einen Major als Schüler, der mich beobachten musste. Ich war nicht regierungshörig, denn das Evangelium ist grösser als momentane Machthaber, es ist grösser als die französische Revolution. Wir haben immer wieder versucht, den Menschen aus dieser Weite heraus den Weg zu weisen. Man muss den Mut haben, Nein zu sagen, Nein zur Tortur, dieser Zerstörung der letzten Würde des Menschen. Da muss man ganz klar reden. Aber man muss ebenso klar sagen, dass ein Untergrundschütze, der auf einen braven Soldaten schiesst, wie ich es aus der Nähe erlebte, ein Mörder ist. Das Evangelium ist nicht auf die simple Formel zurückzuführen: Revolution ja, Opposition nein. Ohne Zweifel wäre Brasilien ein grosses Kuba geworden. Es war fast alles bereit für den Coup. Die Revolution, von vielen Militärputsch genannt, hat im unmittelbaren Effekt das Land davor bewahrt. Doch deswegen ist es nicht weniger grauenhaft, unter dem Deckmantel dieser Revolution brutalste Verfolgungen gegen mögliche Kommunisten zu machen. Solche grauenhafte Vergehen sind genau so Vergehen an der Menschheit, wie die Greuel und Millionenmorde eines Stalin.
Einfluss auf viele Gewissen! Wir haben damals oberste Militärs zusammengerufen.
Unter ihnen waren Katholiken. Das hätte kein anderer Bischof Brasiliens
machen können als nur unser Kardinal mit seiner von allen Seiten anerkannten
moralischen Kraft. Ich, damals als Ausländer, habe ihnen im Haus des
Kardinals einen spirituellen Vortrag über Gott, seine Gebote und die
Würde des Mensch halten müssen. Es war eine erdrückende Stimmung.
Zum Teil waren Viersterngeneräle anwesend, auch unter ihnen gab es
gegenseitiges Misstrauen. Einmal kniete einer der Generäle, als wir
unter uns waren, vor mir auf den Boden und fragte mich: «Sagen Sie
mir vor dem Herrn, was soll ich tun? Soll ich dem Kriegsminister den Degen
hinwerfen, oder soll ich weiter kämpfen und versuchen, so gut ich kann,
Gewalttaten zu verhindern? Sagen Sie, was verlangt Gott von mir?»
Meine Antwort war: «Halten Sie durch!»
Während des Militärregimes hat vor allem Kardinal Sales die politischen
Gefangenen besucht. Es waren zum Teil hochgebildete Professoren und Intellektuelle.
Wie sie an den Kardinal von Rio appellierten, habe ich einmal selber gehört.
Sie sagten: «Der einzige Bischof Brasiliens, der für uns etwas
Entscheidendes tun kann, ist der Kardinal Sales von Rio.» Es mag dies
eine Verabsolutierung gewesen sein, doch zeigt sie, dass dieser Bischof
ohne auf Menschen zu achten, einzig im Namen des Evangeliums handelte. Es
ist daher eine ungeheure Vereinfachung, wenn man den Kardinal und mich in
die Nähe der Militärs rückt und gar behauptet, wir hätten
dem Regime zugearbeitet. Wir haben die Freiheit und die Würde eines
jeden Gewissens verteidigt, und darum haben wir öffentlich gegen die
Gewalt beider Seiten geredet.