4/2000

INHALT

Kirchliche Berufe

Kirche und schwule Seelsorger

von Gianfranco Christen

 

In meiner Familie wurde über gewisse Dinge nicht gesprochen. Dazu gehörte selbstverständlich die Sexualität. Alles, was mit dem Körper zu tun hatte, war mit einem unerklärlichen Makel behaftet. Die Selbstbefriedigung während der Pubertät löste in mir leidvolle Schuldgefühle aus, die ich mit Gebeten und Gute-Werke-Versprechen abzutragen suchte. Wir waren sehr katholisch.

Unter den Farben des Regenbogens <1>

Meine religiöse Erziehung und das seit je vorhandene Gefühl der Beheimatung in der Kirche und in allem Religiösen führten dazu, dass ich mich fürs Theologiestudium entschied. Während des ganzen Studiums wurde nie auf einer persönlichen Ebene über Sexualität gesprochen, auch im Priesterseminar Luzern nicht, wo ich die ersten drei Jahre wohnte. Gerade das erscheint mir heute als ungeheuerlich: Hier werden junge Männer zu Priestern gemacht, aber während der ganzen Ausbildung wird ihre Körperlichkeit ignoriert. Das heisst doch nichts anderes, als dass sexuelle Gefühle eigentlich nicht sein dürften. Denn nur was nicht sein darf, muss verborgen und verschwiegen bleiben. In dieser Zeit habe ich mich in einen Mann verliebt. Ich wollte es nicht, und habe mich mit viel Anstrengung dagegen gewehrt. Es war zwecklos, und das ist gut so, wie ich heute weiss. Aber damals war es schrecklich: Ich war nicht normal, etwas stimmte nicht mit mir. Ich verabscheute mich und wusste, dass die Kirche mein Tun als unnatürliche Verirrung und grosse Sünde verurteilt. In verschiedenen kirchlichen Stellungnahmen zur Homosexualität, mit denen ich mich in jener Zeit beschäftigte, las ich Begriffe wie «morbus» (Krankheit), «peccatum» (Sünde), «contra naturam» (wider die Natur) und gar «crimen» (Verbrechen). Nie hätte ich gewagt, mich meinem Beichtvater anzuvertrauen, so schlimm erschien mir mein Tun.
Irgendwann, es hat lange gedauert, habe ich gelernt, mein Schwulsein<2> vor mir selbst einzugestehen und anzunehmen. Ein weiterer Schritt war das Coming-out<3>, beginnend bei guten Freundinnen und Freunden, und dann immer weitere Kreise ziehend. Unglaublich war die Feststellung, dass es an der Theologischen Fakultät geradezu von Schwulen wimmelte. Einige standen offen zu ihrem Schwulsein und begannen, sich in ihrer schwulen Identität gegenseitig zu stärken, andere reagierten heimlich versteckt ihre sexuellen Gelüste aneinander ab und bereiteten sich im Übrigen auf ihr Priestertum vor. Einige wenige versuchten standhaft und treu, ihr Ideal des Zölibats zu halten. Nur einen kenne ich, der dabei auch noch eine wirkliche Zufriedenheit ausstrahlte.

«Adamim. Verein Schwule Seelsorger Schweiz»

1995 wurde in den Kinos ein bemerkenswerter Film von Antonia Bird gezeigt mit dem Titel «Der Priester». Dieser Film, der die Geschichte eines katholischen Priesters in Irland zeigt, der sich in einen Mann verliebt, hat vielen Seelsorgern Aspekte der eigenen Biographie aufgezeigt. Der Film gab Anlass zu vielen Diskussionen und zeigte das Bedürfnis, sich intensiv nicht nur mit dem Thema Homosexualität im Allgemeinen, sondern speziell innerhalb der Kirche auseinanderzusetzen. Daraus entstand der «Verein Schwule Seelsorger Schweiz».
Als Pfarrer, Priester, Pastoralassistenten, Diakone, kirchliche Jugendarbeiter, Ordensmänner, Katecheten, Spitalseelsorger und Theologen aus den verschiedenen Kirchen tauschen wir in regelmässigen Treffen über unsere Arbeit und darüber aus, wie es uns als schwule Seelsorger dabei ergeht. Immer wieder wird unsere kirchliche und gesellschaftliche Stellung reflektiert. Gemeinsam wollen wir gegen Diskriminierung vorgehen. In der befreienden Botschaft der Bibel finden wir unsere Spiritualität, die uns in unserer selbstbewussten Identität als schwule Seelsorger stärkt. So gross wie die Anzahl der Mitglieder, so unterschiedlich sind auch die verschiedenen Standorte.

Ein Exodus-Erlebnis

Einige wenige sind das Risiko des Outing eingegangen, die meisten sind aus Angst vor Arbeitsverlust und Repressionen durch die Kirchenleitung auf absolute Anonymität angewiesen. Zu viele schon haben ihren Dienst aufgeben müssen, weil sie sich geoutet haben, während andere ­ darunter sicher auch Bischöfe und Kardinäle ­, die ihre Sexualität verheimlichen und verborgen ausleben, unbehelligt bleiben, ja möglicherweise sogar einen Priester suspendieren, der offen über seine Sexualität spricht. Durch die klare Abweisung schwuler Seelsorger werden viele kirchliche Mitarbeiter zu einem Doppelleben gezwungen, weil sie ihre Arbeit, die sie lieben, nicht aufgeben wollen, aber auch weil sie einen Skandal vermeiden wollen und sich vor der Ungewissheit einer so herausgeforderten Zukunft fürchten. Die Kontaktaufnahme mit unserem Verein ist für viele ein erster Schritt, sich überhaupt mit dem Thema der eigenen Homosexualität zu beschäftigen und auch zu hören, wie andere schwule Seelsorger mit der Tatsache umgehen, dass sie von der Institution abgelehnt werden, für welche sie arbeiten und leben. Nach vielleicht Jahren des Schweigens, der Verdrängung, der Angst, des eigenen Schuldgefühls und des Hin- und Hergerissenseins zwischen dem moralischen Anspruch der Kirche einerseits und dem eigenen Gewissen und den ureigensten Gefühlen andererseits, wirkt es als enorme Befreiung ­ oder, theologisch formuliert, es wird zu einem Exodus-Erlebnis ­, wenn schwule Seelsorger einander erzählen können, wer sie wirklich sind als Mensch mit Leib und Seele, ohne Lügen, ohne Zensur. Aus der Erkenntnis, nicht allein zu sein, entsteht eine Kraft, die weiterwächst und dazu drängt, aktiv gegen Doppelmoral und Heimlichtuerei, gegen Unterdrückung und Pönalisierung durch die Gesellschaft und vor allem die Kirchen entgegenzutreten.

Aufmerksam machen

Ein wichtiges Anliegen ist es uns, die kirchliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit auf die Existenz schwuler Seelsorger aufmerksam zu machen. Und davon gibt es viele. Während meines Theologiestudiums waren 40­50% der männlichen Studierenden schwul, davon hatte etwa die Hälfte sexuellen Kontakt zu Männern. 1979 veröffentlichte der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller eine empirische Untersuchung, die zum Ergebnis kommt, dass etwa jeder fünfte katholische Priester gleichgeschlechtlich veranlagt ist. Nach seiner Erfahrung ­ er leitet in Deutschland ein Heim für psychisch erschöpfte Kleriker ­ nimmt der Anteil schwuler Priester und Ordensleute kontinuierlich zu.<4> Der Trierer Pastoralpsychologe Alwin Hammers geht sogar davon aus, dass etwa 25% aller Priester schwul sind.<5> Ganz anders sieht es der Freiburger Erzbischof und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Dr. Oskar Saier, der in einem Interview von einer «verschwindend geringe(n) Zahl von Einzelfällen»<6> spricht. Eine typische Aussage eines Kirchenleiters, der Augen und Ohren schliesst, um ja nicht schlafende Hunde aufzuwecken. Vielleicht weiss er tatsächlich nicht, wie verbreitet Homosexualität unter den Klerikern ist, denn es ist ja nur verständlich, dass schwule Priester sich nicht bei ihren Bischöfen melden, solange sie mit Arbeitsverlust rechnen müssen.

Schwulsein gehört ganz einfach zur «Condition humaine»

Wie viel meines Schwulseins genetisch bedingt, aus einer «problematischen» Elternkonstellation oder in frühester Kindheit durch psychosoziale Faktoren «erworben» wurde, hat für mich heute keine grosse Bedeutung mehr. Ich fühle mich wohl, so wie ich bin. Irgendwie bin ich stolz darauf, mich als der behauptet zu haben, der ich bin, nämlich ein schwuler Mann. Und Schwulsein ­ das verkennt man oft ­ umfasst zahlreiche andere Aspekte als nur den der sexuellen Lust, die eben auf das gleiche Geschlecht ausgerichtet ist. Wie bei anderen Menschen ist auch bei uns die Sexualität nur ein Bereich des Lebens. Wenn ich aber beschreiben soll, wie sich das spezifisch Schwule äussert, wird es schwierig: Sicher wird der Schwule durch seinen oft schwierigen Weg bis zu seinem Coming-out grossherziger und toleranter, vielleicht auch sanftmütiger. Zudem sind Schwule hilfsbereit und gute Gesprächspartner. Oft wählen sie Berufe in sozialen, pädagogischen oder heilenden Bereichen. Sie haben ein Faible für die Kunst und ein ausgeprägtes ästhetisches Empfinden. Mit Frauen verbindet sie oft eine tiefe Freundschaft von einer Art, wie sie nur zwischen einer Frau und einem schwulen Mann möglich ist. Eine Ursache, die man immer wieder zu hören bekommt, möchte ich allerdings entschieden verneinen, nämlich die Verführungsthese. Niemals kann ein Mensch zur Homosexualität «verführt» werden, genauso wie ein Schwuler niemals zur Heterosexualität «verführt» werden kann. Obwohl die Homosexualität zum Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist, gibt es bis heute keine allgemein akzeptierte Erklärung ihrer Entstehungsbedingungen. Verschiedene empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass es keine monokausale Theorie für die Entstehung von Homosexualität gibt. Sie gehört ganz einfach zur «Condition humaine».
Viel wichtiger als die Frage nach der Entstehung erscheint mir heute, wie ich in der Gesellschaft ­ und damit auch in der Kirche ­ die Aufgabe meines Lebens erfüllen kann, nämlich erkennen zu lernen, wer ich bin und wie ich zu meinem wesentlichen Sein hinwachsen und hinreifen kann. Meine schwule Sexualität ist ein Wesensmerkmal meiner Persönlichkeit. Sie zu ignorieren und zu unterdrücken hiesse, mein Menschsein mit der Leiblichkeit nicht ernst zu nehmen. Nur die eigene Annahme führt in die Zukunft, und diese wiederum ist Voraussetzung dafür, dass ich auch andere Menschen in ihrem Anderssein akzeptieren kann.

Gegen Gottes Schöpfungsordnung?

Homophobe Menschen argumentieren gerne mit der Bibel, wenn es darum geht, Gründe für ihre Abneigung zu finden, dies einerseits zu Recht, denn in der Bibel finden sich einige Aussagen, welche die Homosexualität verurteilen, andererseits zu Unrecht, weil diese Menschen die Kontextualität dieser Texte vergessen und sich sträuben, Erkenntnisse der Bibelforschung zu akzeptieren. Können wir wirklich aus der Bibel herauslesen, dass die Homosexualität ein Greuel in Gottes Augen ist?
Bevor wir auf einige Bibelstellen eingehen, die von Homosexualität sprechen, müssen wir einige propädeutische Gedanken angehen: Die Bibel entstand in einer orientalischen Kultur, die vor 2000­3000 Jahren existierte, und für Menschen, die damals lebten. Zahlreiche Fragen und Probleme, die uns heute beschäftigen, waren für die Menschen damals undenkbar und unvorstellbar. Errungenschaften der Technik (und die daraus entstandenen Probleme) sowie auch wissenschaftliche Erkenntnisse der vergangenen Jahrhunderte, in unserem Zusammenhang besonders erwähnenswert die Forschungen im Bereich der Psychologie, Humanbiologie und Genetik, fehlten den Verfassern der Bibel gänzlich. Die Menschen damals waren eingegliedert in ein patriarchalisches System, in welchem Nachkommenschaft (vor allem männliche) einerseits Existenzabsicherung war, andererseits für Frau und Mann ganz einfach zur Lebensaufgabe gehörte. Kinderlosigkeit wurde als Strafe Gottes gedeutet und hatte gesellschaftliche Ausgrenzung zur Folge.

Befund Altes Testament

In Gen 19 wird die berühmte Sodom-und-Gomorra-Geschichte erzählt. Das eigentliche Thema ist hier nicht Homosexualität, sondern das Gastrecht. Im Hause Lots sind zwei Engel zu Gast. Einige Einwohner von Sodom treten vor die Haustür und fordern Lot auf, die Gäste herauszugeben. Die Absicht ist klar, sie sollen vergewaltigt werden. Lot ist aufgrund des Gastrechtes verpflichtet, seinen Gästen Schutz zu gewähren, deshalb bietet er den Raufbolden seine zwei jungfräulichen Töchter an. Nur dank göttlicher Hilfe entkommen die Gäste und Lots Familie den Sodomitern.
Sehr ähnlich ist die Erzählung in Ri 19. Auch hier wird das Gastrecht thematisiert. Ein Mann und seine Nebenfrau sind Gäste eines alten Mannes. Wieder kommen die Einwohner der Stadt und fordern vom Gastgeber, ihnen den Mann zu übergeben, um ihn zu vergewaltigen. Um das Gastrecht nicht zu verletzen, werden den Männern die eigene jungfräuliche Tochter und die Nebenfrau des Gastes (für welche das Gastrecht keine Geltung hat!) angeboten. Es kommt zur Massenvergewaltigung an der Nebenfrau des Gastes. Im Morgengrauen kommt die Frau zurück und bricht vor der Haustür zusammen. Niemand holt sie herein, niemand kümmert sich um sie...
In beiden Fällen wird zwar die Vergewaltigung als Schandtat bezeichnet, aber die eigentliche Moral der Geschichte ist nicht die Verurteilung von Homosexualität, sondern gefordert wird die strikte Einhaltung des Gastrechtes, koste es, was es wolle.
In Lev 28,22 wird Homosexualität als Greuel bezeichnet, ebenso in Lev 20,13, wo zudem die Todesstrafe gefordert wird. Wenn man die oben dargelegten Kultur- und Wissensunterschiede bedenkt, wird klar, dass diese beiden Stellen keine Grundlage mehr sein dürfen für eine Beurteilung der Homosexualität. (Und wer noch immer seine Zweifel hat, lese das gesamte «Heiligkeitsgesetz» in Lev 17­26 durch und fordere wenn schon dessen gesamte Einhaltung.)
Eine ganz andere Sichtweise von Homosexualität vermittelt die Erzählung der Beziehung zwischen dem jungen David und Jonatan. In der Totenklage (2 Sam 1,26) singt David: «Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonatan. /Du warst mir sehr lieb. /Wunderbarer war deine Liebe für mich / als die Liebe der Frauen.» Hier handelt es sich übrigens um die einzige Stelle in der Bibel, die von einer Liebesbeziehung zwischen zwei Männern spricht.

Befund Neues Testament

Paulus äussert sich an verschiedenen Stellen zur Homosexualität. Sein Urteil ist einfach und klar: Homosexualität darf nicht sein; sie verstösst gegen Gottes Gebot. Was versteht Paulus aber unter Homosexualität? In 1 Kor 6,9 und 1 Tim 1,9f. spricht er von Knabenschändern, Lustknaben und «Unzucht» (ohne diesen Begriff zu definieren, was der Kirche seit je die Möglichkeit gab, all das dort hinein zu packen, was ihr dienlich war).
In 1 Röm 1,23ff. wird polemisiert gegen Völker, die sich der Kultprostitution hingeben. Heterosexuelle Frauen und Männer verkehren in sexuellen Ritualen mit dem eigenen Geschlecht. Paulus bezeichnet dieses Tun als «Verirrung».
Paulus setzt Homosexualität gleich mit Knabenschändung und pseudoreligiösen Kultpraktiken. Eine naturgegebene Veranlagung zur Homosexualität gibt es für ihn nicht, auch eine personale, auf Liebe begründete Beziehung zwischen zwei Männern ist für ihn unvorstellbar. Zu einer Liebesbeziehung zwischen Männern oder Frauen nimmt Paulus keine Stellung, er verurteilt Knabenschändung und Kultprostitution. Seine Aussagen auf eine heutige Beurteilung zu übertragen heisst, den kulturellen und historischen Hintergrund dieser Aussagen nicht zu beachten. Ähnlich sind die Stellen in 1 Kor 11,13 und 1 Kor 14,34 zu werten, die von den Frauen eine Kopfverhüllung und absolutes Redeverbot in Gottesdiensten fordern.

Und Jesus?

Von ihm gibt es überhaupt keine Aussage zur Homosexualität. Aber: Das Herzstück der Lehre Jesu ist die Botschaft vom Reich Gottes. In der Bergpredigt entfaltet er, wer ins Reich Gottes Einlass finden wird und er zählt auf, welche Verhaltensweisen wegführen vom Reich Gottes. Da lesen wir unter anderem vom Nichtschwören und vom Gebot der Gewaltlosigkeit. Diese Forderungen sind so deutlich und sonnenklar. Allerdings hat sich die Kirche an dieses von Jesus ausgesprochene und vorgelebte Gebot selber nie gehalten. Hier waren die Kirchenmänner listig genug, mit den fünf «Bedingungen für einen gerechten Krieg» (Thomas von Aquin) eine Ausnahmeregelung zu finden, um Gewalt «gerecht» anzuwenden. Inquisition, Zwangstaufen, Religionskriege usw. scheinen diesem Gebot nicht widersprochen zu haben.
Unglaublich hartnäckig und menschenfeindlich hingegen sind die kirchlichen Forderungen im Bereich der Sexualität. Zwangsläufig muss man sich fragen, wieso die Gewaltlosigkeit von der Kirche nie eingefordert wurde, bei der Sexualität aber eine unverständliche, unerbittlich rigorose Haltung aufrecht erhalten wird. Das Schlüsselwort kann nur «Macht» heissen. Die Kirchenleiter haben sich wohl gehütet, Kriege und Gewalt als absolut nicht vereinbar mit der Botschaft Christi anzuprangern, denn Gewalttaten nutzte die Kirche allzu oft selber in der ebenso langen wie leidvollen Geschichte der vergangenen 2000 Jahre, um ihre Macht zu erhalten oder auszudehnen. Um Macht geht es auch in den kirchlichen Forderungen im Bereich der Sexualität. Denn diese sollen beim Menschen ein Gefühl der Sündigkeit hervorrufen, um ihn erlösungsbedürftig in die Arme der Kirche zu zwingen. Nur verkennen die Kirchenherren, dass junge Menschen jegliche kirchliche Indoktrination abweisen, erstens einmal, weil sie als mündige Menschen immer mehr lernen das zu tun, was sie mit ihrem Gewissen vereinbaren können, und zweitens, weil sie die Doppelmoral der Kirche längst schon entlarvt haben.
Jesus selber sagt nichts über die Homosexualität. Wäre sie ihm ein Greuel und wäre homosexuelles Verhalten ein Hindernis auf dem Weg ins Reich Gottes, gäbe es eine konkrete Aussage darüber. Dürfen wir aufgrund der Lehre und des Lebens Jesu nicht viel eher davon ausgehen, dass ihm keine Form von Zuneigung, Liebe, Verantwortungsgefühl und Partnerschaft «sündig» erscheint, wenn sie aus dem Herzen kommt, egal, ob diese Liebe zwischen Mann­Frau oder zwei Menschen des gleichen Geschlechts besteht?

Stellungnahmen des katholischen Lehramtes

Die erste Verlautbarung, die sich ausschliesslich mit der Homosexualität beschäftigt, erschien 1986. Dieses «Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen» erklärt unmissverständlich: «Einzig und allein in der Ehe kann der Gebrauch der Geschlechtskraft moralisch gut sein. Deshalb handelt eine Person, die sich homosexuell verhält, unmoralisch.»<7> Das Dokument unterscheidet zwischen «Neigung» und «Verhalten». Während der Neigung zur Homosexualität eine gewisse Entschuldigung entgegengebracht wird, weil Neigungen grundsätzlich nicht sündhaft sein können, wird die Handlung klar als Sünde bezeichnet<8>. Schwule und Lesben sind von der Kirche zur Keuschheit verurteilt. Eine präpotente Anmassung ist die Aussage: «Wie es bei jeder moralischen Unordnung der Fall ist, so verhindert homosexuelles Tun die eigene Erfüllung und das eigene Glück, weil es der schöpferischen Weisheit Gottes entgegensteht.»<9> Natürlich stimmt es, ich finde nicht die ganze Erfüllung und das ganze Glück in meiner schwulen Partnerschaft; betrachtet man aber die Scheidungsraten, wird deutlich, dass die heterosexuelle Ehe ebenso keine Garantie für Erfüllung und Glück ist. Auch wenn meine Beziehung nicht nur aus Glück und Erfüllung besteht, so fühle ich mich in meiner Haut und in der Beziehung zu dem Mann, den ich liebe, sehr wohl.
Im 1993 erschienenen «Weltkatechismus» wird unter den Passagen Nrn. 2357­2359 inhaltlich zusammengefasst, was schon in früheren Schreiben erklärt wurde. Schlecht sind homosexuelle Handlungen, weil sie «gegen das natürliche Gesetz» verstossen und die «Weitergabe des Lebens beim Geschlechtsakt ausgeschlossen» wird. Deshalb sind sie «in keinem Fall zu billigen». Die Kirche beharrt darauf, der Sexualität nur dann Geltung und moralische Akzeptanz zu geben, wenn sie innerhalb der Ehe geschieht und offen für die Nachkommenschaft ist. Immerhin findet sich im Weltkatechismus auch noch eine sinnvolle Aussage über den Umgang mit Schwulen und Lesben, nämlich: «Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen.»<10> Nur, welche Relevanz hat ein solch einzelner Satz nebst allen anderen verurteilenden Äusserungen, wenn zudem die Interpretation, was als ungerechte Zurückweisung zu gelten hat und was nicht, von der Purpur tragenden Kurie bestimmt wird?
Alle diese Verlautbarungen des katholischen Lehramtes<11> sind für lesbische und schwule Menschen, die kirchliche Aussagen überhaupt noch aufnehmen, nicht nur tief verletzend, sondern durch Urteile, die ihnen eine Minderwertigkeit attestieren oder den Makel der Sünde aufdrücken, diskriminierend. Schwule und Lesben haben die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Erstens sie verdrängen ihre Sexualität und damit einen Teil ihres Menschseins. Sicher kein Weg zu Glück und Erfüllung. Bedenkt man, welch lebensbejahende Kraft der Sexualität erwächst, kann die Negation der eigenen Triebdynamik nur zu Depressionen führen. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, sich mit einem Doppelleben und Heimlichtuerei abzufinden, oder, dritte Möglichkeit, sich endgültig von der Kirche zu verabschieden.

Homosexualität ist ein Wert

In der Gesellschaft finden lesbische Frauen und schwule Männer immer stärkere Akzeptanz<12>, und junge Menschen wachsen mit dem Wissen heran, dass menschliche Liebe und Sexualität verschiedene Ausprägungen kennt. Eine Beziehung wird nicht mehr daran gemessen, ob sie durch eine juridische Form oder sakramentale Handlung abgesegnet ist, sondern daran, welche Rolle Werte wie Liebe, Partnerschaftlichkeit, Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit, Verbindlichkeit und Dauerhaftigkeit spielen, unabhängig davon, ob es eine schwule, lesbische oder heterosexuelle Beziehung ist. Lesben und Schwule wünschen sich eine Gesellschaft und eine Kirche, die sie nicht nur aus einer scheinbar toleranten Haltung existieren lässt, sondern Menschen, die die Liebe zwischen zwei Frauen oder Männern als gleichwertige Möglichkeit akzeptieren lernen. So fordert es auch der Theologe Christian Käufl: «Homosexuelle Beziehung muss... nicht erst gesondert begründet und gestattet werden, sondern sie ist aufgrund des Menschseins Homosexueller ein Wert. Von daher bedarf es nicht einer Bewertung des Phänomens an sich ­ wie es auch keine Bewertung der heterosexuellen Beziehung an sich gibt ­, sondern der Frage nach der konkreten bzw. nicht vorhandenen Beziehung.»<13>
So verdächtig eifrig und defensiv, wie sich die Kirchenleitung an der traditionellen Sexualethik festklammert, darf man wohl nicht einmal einen Ansatz einer Richtungsänderung erwarten. Die Veränderung wird von unten beginnen ­ das heisst, sie hat bereits begonnen ­ und wird, wenn auch sehr langsam, doch stetig weiterschreiten. Frauen und Männer in den Pfarreien wehren sich immer mehr gegen unmenschliche, anachronistische Forderungen der Kirche, indem sie sie gar nicht mehr beachten. So habe ich es auch in meiner Pfarrei erfahren. Evangelikale Kreise haben meine Entlassung als Jugendarbeiter gefordert, weil sie mir eine Vorbildfunktion absprechen und in mir eine Gefahr für die Jugendlichen sehen<14>. Nur Dank grosser Unterstützung durch den Pfarreirat und die Kirchenvorsteherschaft habe ich diesem Druck standhalten können. Mein Lebenspartner und ich finden in unserer Pfarrei (und im Kleinstadtleben) Akzeptanz und Anerkennung.

Desiderate an die Kirche

Trotz einer gewissen Skepsis, ob es in sichtbarer Zukunft eine Veränderung geben wird, möchte ich abschliessend einige Wünsche an die Kirchenleitung anbringen, die es vielleicht eines Tages ermöglichen, ehrlich und ernsthaft miteinander ins Gespräch zu kommen:

  1. Die Kirchenleitungen müssen die Homosexualität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter thematisieren.
  2. Die Kirchenleitungen müssen wahrnehmen, dass die Anzahl schwuler Männer im kirchlichen Dienst sehr gross ist. (Über lesbische Frauen im kirchlichen Dienst kann ich keine Angaben machen.)
  3. Die Theologie muss die Ergebnisse der Humanwissenschaften rezipieren.
  4. Die biblischen Aussagen zur Homosexualität dürfen nicht mehr durch eine biblizistisch-fundamentalistische Exegese beurteilt werden; Anwendung müssen die historisch-kritische Methode und die Hermeneutik finden.
  5. In der Pastoralkonstitution «Gaudium et Spes» hat das Zweite Vatikanische Konzil die «Würde des sittlichen Gewissens»<15> gepriesen. Das Gewissen wird bezeichnet als die «verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen». Sehr interessant ist die Aussage von der «Treue zum Gewissen» bezüglich der «wahrheitsgemässe(n) Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen».<16> Leider ist dies bis heute eine Aussage ohne Relevanz geblieben. Noch immer werde ich nicht als mündiger Christ wahrgenommen, der mittels seines Gewissens selbst bestimmen kann, welche Lebensform er sittlich verantworten kann.
  6. Die Sexualität gehört wesentlich zu unserem Menschsein. Ihr haftet nichts Sündhaftes an, im Gegenteil, sie ist ein Geschenk Gottes. Homosexualität ist weder Krankheit noch Verbrechen, vielmehr ist sie eine Möglichkeit, wie sich Liebe und Sexualität konkret gestalten.

Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen (Weisheit 11,24).

 

Gianfranco Christen ist Präsident von «Adamim. Verein Schwule Seelsorger Schweiz» (Postfach 8044, 3001 Bern).


Anmerkungen

1 Der Regenbogen ist für Lesben und Schwule Symbol für ein neues Selbstbewusstsein auf dem Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichberechtigung.

2 Lange Zeit galt der Begriff «schwul» als Schimpfwort gegen homosexuelle Männer. Inzwischen benutzen ihn selbstbewusste Homosexuelle selber und entziehen dem Begriff damit die negative Konnotation.

3 Ein Begriff aus der amerikanischen Befreiungsbewegung lesbischer und schwuler Menschen. Gemeint ist das Hervortreten von Lesben und Schwulen an die Öffentlichkeit.

4 Vgl. «Angst vor den Schwulen. Homosexualität unter katholischen Klerikern», in: Spiegel-Archiv 18/97, Seite 128f.

5 Ebd.

6 Interview mit Erzbischof Dr. Oskar Saier. SWF 1 ­ Sonntagmorgen am Sonntag, 19. Januar 1997 ­ zum Thema «Homosexualität und geistliche Berufe».

7 Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen vom 30. Oktober l986, Abschnitt 7.

8 In der «Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik» vom 29.12.1975 wird davor gewarnt, die «Neigung» der Homosexuellen als «natürlich» zu beurteilen, wenn daraus eine Rechtfertigung erfolgt für homosexuelle Lebensgemeinschaften. Vgl. Abschnitt 2.

9 Ebd.

10 Katechismus der Katholischen Kirche («Weltkatechismus»), München 1993, Nr. 2358.

11 Eine gute Zusammenstellung aller kirchlichen Dokumente zur Homosexualitäts-Debatte findet sich in: Jens Weizer, Vom andern Ufer. Schwule fordern Heimat in der Kirche, Düsseldorf 1995.

12 So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstitutes Link, die vor kurzem durchgeführt wurde, 68% der Befragten für eine registrierte Partnerschaft aus. Vgl. Bernhard Bircher, Kühlschrankfamilien, in: Die Weltwoche, Nr. 38 vom 23.9.1999.

13 Christian Käufl, in: «Werkstatt Schwule Theologie», 4. Jahrgang, 4/97, Seite 197.

14 Wann hören die Menschen endlich auf, Homosexualität mit Pädophilie zu verwechseln, die es bei Heterosexuellen genauso gibt!

15 Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute «Gaudium et Spes», Nr. 16. Zitiert aus: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Feiburg i.Br. 1979.

16 Ebd.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2000