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INHALT |
Kirchliche Berufe |
In meiner Familie wurde über gewisse Dinge nicht gesprochen. Dazu gehörte selbstverständlich die Sexualität. Alles, was mit dem Körper zu tun hatte, war mit einem unerklärlichen Makel behaftet. Die Selbstbefriedigung während der Pubertät löste in mir leidvolle Schuldgefühle aus, die ich mit Gebeten und Gute-Werke-Versprechen abzutragen suchte. Wir waren sehr katholisch.
Meine religiöse Erziehung und das seit je vorhandene Gefühl
der Beheimatung in der Kirche und in allem Religiösen führten
dazu, dass ich mich fürs Theologiestudium entschied. Während des
ganzen Studiums wurde nie auf einer persönlichen Ebene über Sexualität
gesprochen, auch im Priesterseminar Luzern nicht, wo ich die ersten drei
Jahre wohnte. Gerade das erscheint mir heute als ungeheuerlich: Hier werden
junge Männer zu Priestern gemacht, aber während der ganzen Ausbildung
wird ihre Körperlichkeit ignoriert. Das heisst doch nichts anderes,
als dass sexuelle Gefühle eigentlich nicht sein dürften. Denn
nur was nicht sein darf, muss verborgen und verschwiegen bleiben. In dieser
Zeit habe ich mich in einen Mann verliebt. Ich wollte es nicht, und habe
mich mit viel Anstrengung dagegen gewehrt. Es war zwecklos, und das ist
gut so, wie ich heute weiss. Aber damals war es schrecklich: Ich war nicht
normal, etwas stimmte nicht mit mir. Ich verabscheute mich und wusste, dass
die Kirche mein Tun als unnatürliche Verirrung und grosse Sünde
verurteilt. In verschiedenen kirchlichen Stellungnahmen zur Homosexualität,
mit denen ich mich in jener Zeit beschäftigte, las ich Begriffe wie
«morbus» (Krankheit), «peccatum» (Sünde), «contra
naturam» (wider die Natur) und gar «crimen» (Verbrechen).
Nie hätte ich gewagt, mich meinem Beichtvater anzuvertrauen, so schlimm
erschien mir mein Tun.
Irgendwann, es hat lange gedauert, habe ich gelernt, mein Schwulsein<2> vor mir selbst einzugestehen und anzunehmen.
Ein weiterer Schritt war das Coming-out<3>,
beginnend bei guten Freundinnen und Freunden, und dann immer weitere Kreise
ziehend. Unglaublich war die Feststellung, dass es an der Theologischen
Fakultät geradezu von Schwulen wimmelte. Einige standen offen zu ihrem
Schwulsein und begannen, sich in ihrer schwulen Identität gegenseitig
zu stärken, andere reagierten heimlich versteckt ihre sexuellen Gelüste
aneinander ab und bereiteten sich im Übrigen auf ihr Priestertum vor.
Einige wenige versuchten standhaft und treu, ihr Ideal des Zölibats
zu halten. Nur einen kenne ich, der dabei auch noch eine wirkliche Zufriedenheit
ausstrahlte.
1995 wurde in den Kinos ein bemerkenswerter Film von Antonia Bird gezeigt
mit dem Titel «Der Priester». Dieser Film, der die Geschichte
eines katholischen Priesters in Irland zeigt, der sich in einen Mann verliebt,
hat vielen Seelsorgern Aspekte der eigenen Biographie aufgezeigt. Der Film
gab Anlass zu vielen Diskussionen und zeigte das Bedürfnis, sich intensiv
nicht nur mit dem Thema Homosexualität im Allgemeinen, sondern speziell
innerhalb der Kirche auseinanderzusetzen. Daraus entstand der «Verein
Schwule Seelsorger Schweiz».
Als Pfarrer, Priester, Pastoralassistenten, Diakone, kirchliche Jugendarbeiter,
Ordensmänner, Katecheten, Spitalseelsorger und Theologen aus den verschiedenen
Kirchen tauschen wir in regelmässigen Treffen über unsere Arbeit
und darüber aus, wie es uns als schwule Seelsorger dabei ergeht. Immer
wieder wird unsere kirchliche und gesellschaftliche Stellung reflektiert.
Gemeinsam wollen wir gegen Diskriminierung vorgehen. In der befreienden
Botschaft der Bibel finden wir unsere Spiritualität, die uns in unserer
selbstbewussten Identität als schwule Seelsorger stärkt. So gross
wie die Anzahl der Mitglieder, so unterschiedlich sind auch die verschiedenen
Standorte.
Einige wenige sind das Risiko des Outing eingegangen, die meisten sind aus Angst vor Arbeitsverlust und Repressionen durch die Kirchenleitung auf absolute Anonymität angewiesen. Zu viele schon haben ihren Dienst aufgeben müssen, weil sie sich geoutet haben, während andere darunter sicher auch Bischöfe und Kardinäle , die ihre Sexualität verheimlichen und verborgen ausleben, unbehelligt bleiben, ja möglicherweise sogar einen Priester suspendieren, der offen über seine Sexualität spricht. Durch die klare Abweisung schwuler Seelsorger werden viele kirchliche Mitarbeiter zu einem Doppelleben gezwungen, weil sie ihre Arbeit, die sie lieben, nicht aufgeben wollen, aber auch weil sie einen Skandal vermeiden wollen und sich vor der Ungewissheit einer so herausgeforderten Zukunft fürchten. Die Kontaktaufnahme mit unserem Verein ist für viele ein erster Schritt, sich überhaupt mit dem Thema der eigenen Homosexualität zu beschäftigen und auch zu hören, wie andere schwule Seelsorger mit der Tatsache umgehen, dass sie von der Institution abgelehnt werden, für welche sie arbeiten und leben. Nach vielleicht Jahren des Schweigens, der Verdrängung, der Angst, des eigenen Schuldgefühls und des Hin- und Hergerissenseins zwischen dem moralischen Anspruch der Kirche einerseits und dem eigenen Gewissen und den ureigensten Gefühlen andererseits, wirkt es als enorme Befreiung oder, theologisch formuliert, es wird zu einem Exodus-Erlebnis , wenn schwule Seelsorger einander erzählen können, wer sie wirklich sind als Mensch mit Leib und Seele, ohne Lügen, ohne Zensur. Aus der Erkenntnis, nicht allein zu sein, entsteht eine Kraft, die weiterwächst und dazu drängt, aktiv gegen Doppelmoral und Heimlichtuerei, gegen Unterdrückung und Pönalisierung durch die Gesellschaft und vor allem die Kirchen entgegenzutreten.
Ein wichtiges Anliegen ist es uns, die kirchliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit auf die Existenz schwuler Seelsorger aufmerksam zu machen. Und davon gibt es viele. Während meines Theologiestudiums waren 4050% der männlichen Studierenden schwul, davon hatte etwa die Hälfte sexuellen Kontakt zu Männern. 1979 veröffentlichte der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller eine empirische Untersuchung, die zum Ergebnis kommt, dass etwa jeder fünfte katholische Priester gleichgeschlechtlich veranlagt ist. Nach seiner Erfahrung er leitet in Deutschland ein Heim für psychisch erschöpfte Kleriker nimmt der Anteil schwuler Priester und Ordensleute kontinuierlich zu.<4> Der Trierer Pastoralpsychologe Alwin Hammers geht sogar davon aus, dass etwa 25% aller Priester schwul sind.<5> Ganz anders sieht es der Freiburger Erzbischof und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Dr. Oskar Saier, der in einem Interview von einer «verschwindend geringe(n) Zahl von Einzelfällen»<6> spricht. Eine typische Aussage eines Kirchenleiters, der Augen und Ohren schliesst, um ja nicht schlafende Hunde aufzuwecken. Vielleicht weiss er tatsächlich nicht, wie verbreitet Homosexualität unter den Klerikern ist, denn es ist ja nur verständlich, dass schwule Priester sich nicht bei ihren Bischöfen melden, solange sie mit Arbeitsverlust rechnen müssen.
Wie viel meines Schwulseins genetisch bedingt, aus einer «problematischen»
Elternkonstellation oder in frühester Kindheit durch psychosoziale
Faktoren «erworben» wurde, hat für mich heute keine grosse
Bedeutung mehr. Ich fühle mich wohl, so wie ich bin. Irgendwie bin
ich stolz darauf, mich als der behauptet zu haben, der ich bin, nämlich
ein schwuler Mann. Und Schwulsein das verkennt man oft umfasst
zahlreiche andere Aspekte als nur den der sexuellen Lust, die eben auf das
gleiche Geschlecht ausgerichtet ist. Wie bei anderen Menschen ist auch bei
uns die Sexualität nur ein Bereich des Lebens. Wenn ich aber beschreiben
soll, wie sich das spezifisch Schwule äussert, wird es schwierig: Sicher
wird der Schwule durch seinen oft schwierigen Weg bis zu seinem Coming-out
grossherziger und toleranter, vielleicht auch sanftmütiger. Zudem sind
Schwule hilfsbereit und gute Gesprächspartner. Oft wählen sie
Berufe in sozialen, pädagogischen oder heilenden Bereichen. Sie haben
ein Faible für die Kunst und ein ausgeprägtes ästhetisches
Empfinden. Mit Frauen verbindet sie oft eine tiefe Freundschaft von einer
Art, wie sie nur zwischen einer Frau und einem schwulen Mann möglich
ist. Eine Ursache, die man immer wieder zu hören bekommt, möchte
ich allerdings entschieden verneinen, nämlich die Verführungsthese.
Niemals kann ein Mensch zur Homosexualität «verführt»
werden, genauso wie ein Schwuler niemals zur Heterosexualität «verführt»
werden kann. Obwohl die Homosexualität zum Gegenstand unterschiedlicher
wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist, gibt es bis heute keine
allgemein akzeptierte Erklärung ihrer Entstehungsbedingungen. Verschiedene
empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass es keine monokausale Theorie
für die Entstehung von Homosexualität gibt. Sie gehört ganz
einfach zur «Condition humaine».
Viel wichtiger als die Frage nach der Entstehung erscheint mir heute, wie
ich in der Gesellschaft und damit auch in der Kirche die Aufgabe
meines Lebens erfüllen kann, nämlich erkennen zu lernen, wer ich
bin und wie ich zu meinem wesentlichen Sein hinwachsen und hinreifen kann.
Meine schwule Sexualität ist ein Wesensmerkmal meiner Persönlichkeit.
Sie zu ignorieren und zu unterdrücken hiesse, mein Menschsein mit der
Leiblichkeit nicht ernst zu nehmen. Nur die eigene Annahme führt in
die Zukunft, und diese wiederum ist Voraussetzung dafür, dass ich auch
andere Menschen in ihrem Anderssein akzeptieren kann.
Homophobe Menschen argumentieren gerne mit der Bibel, wenn es darum geht,
Gründe für ihre Abneigung zu finden, dies einerseits zu Recht,
denn in der Bibel finden sich einige Aussagen, welche die Homosexualität
verurteilen, andererseits zu Unrecht, weil diese Menschen die Kontextualität
dieser Texte vergessen und sich sträuben, Erkenntnisse der Bibelforschung
zu akzeptieren. Können wir wirklich aus der Bibel herauslesen, dass
die Homosexualität ein Greuel in Gottes Augen ist?
Bevor wir auf einige Bibelstellen eingehen, die von Homosexualität
sprechen, müssen wir einige propädeutische Gedanken angehen: Die
Bibel entstand in einer orientalischen Kultur, die vor 20003000 Jahren
existierte, und für Menschen, die damals lebten. Zahlreiche Fragen
und Probleme, die uns heute beschäftigen, waren für die Menschen
damals undenkbar und unvorstellbar. Errungenschaften der Technik (und die
daraus entstandenen Probleme) sowie auch wissenschaftliche Erkenntnisse
der vergangenen Jahrhunderte, in unserem Zusammenhang besonders erwähnenswert
die Forschungen im Bereich der Psychologie, Humanbiologie und Genetik, fehlten
den Verfassern der Bibel gänzlich. Die Menschen damals waren eingegliedert
in ein patriarchalisches System, in welchem Nachkommenschaft (vor allem
männliche) einerseits Existenzabsicherung war, andererseits für
Frau und Mann ganz einfach zur Lebensaufgabe gehörte. Kinderlosigkeit
wurde als Strafe Gottes gedeutet und hatte gesellschaftliche Ausgrenzung
zur Folge.
In Gen 19 wird die berühmte Sodom-und-Gomorra-Geschichte erzählt.
Das eigentliche Thema ist hier nicht Homosexualität, sondern das Gastrecht.
Im Hause Lots sind zwei Engel zu Gast. Einige Einwohner von Sodom treten
vor die Haustür und fordern Lot auf, die Gäste herauszugeben.
Die Absicht ist klar, sie sollen vergewaltigt werden. Lot ist aufgrund des
Gastrechtes verpflichtet, seinen Gästen Schutz zu gewähren, deshalb
bietet er den Raufbolden seine zwei jungfräulichen Töchter an.
Nur dank göttlicher Hilfe entkommen die Gäste und Lots Familie
den Sodomitern.
Sehr ähnlich ist die Erzählung in Ri 19. Auch hier wird das Gastrecht
thematisiert. Ein Mann und seine Nebenfrau sind Gäste eines alten Mannes.
Wieder kommen die Einwohner der Stadt und fordern vom Gastgeber, ihnen den
Mann zu übergeben, um ihn zu vergewaltigen. Um das Gastrecht nicht
zu verletzen, werden den Männern die eigene jungfräuliche Tochter
und die Nebenfrau des Gastes (für welche das Gastrecht keine Geltung
hat!) angeboten. Es kommt zur Massenvergewaltigung an der Nebenfrau des
Gastes. Im Morgengrauen kommt die Frau zurück und bricht vor der Haustür
zusammen. Niemand holt sie herein, niemand kümmert sich um sie...
In beiden Fällen wird zwar die Vergewaltigung als Schandtat bezeichnet,
aber die eigentliche Moral der Geschichte ist nicht die Verurteilung von
Homosexualität, sondern gefordert wird die strikte Einhaltung des Gastrechtes,
koste es, was es wolle.
In Lev 28,22 wird Homosexualität als Greuel bezeichnet, ebenso in Lev
20,13, wo zudem die Todesstrafe gefordert wird. Wenn man die oben dargelegten
Kultur- und Wissensunterschiede bedenkt, wird klar, dass diese beiden Stellen
keine Grundlage mehr sein dürfen für eine Beurteilung der Homosexualität.
(Und wer noch immer seine Zweifel hat, lese das gesamte «Heiligkeitsgesetz»
in Lev 1726 durch und fordere wenn schon dessen gesamte Einhaltung.)
Eine ganz andere Sichtweise von Homosexualität vermittelt die Erzählung
der Beziehung zwischen dem jungen David und Jonatan. In der Totenklage (2
Sam 1,26) singt David: «Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonatan.
/Du warst mir sehr lieb. /Wunderbarer war deine Liebe für mich / als
die Liebe der Frauen.» Hier handelt es sich übrigens um die einzige
Stelle in der Bibel, die von einer Liebesbeziehung zwischen zwei Männern
spricht.
Paulus äussert sich an verschiedenen Stellen zur Homosexualität.
Sein Urteil ist einfach und klar: Homosexualität darf nicht sein; sie
verstösst gegen Gottes Gebot. Was versteht Paulus aber unter Homosexualität?
In 1 Kor 6,9 und 1 Tim 1,9f. spricht er von Knabenschändern, Lustknaben
und «Unzucht» (ohne diesen Begriff zu definieren, was der Kirche
seit je die Möglichkeit gab, all das dort hinein zu packen, was ihr
dienlich war).
In 1 Röm 1,23ff. wird polemisiert gegen Völker, die sich der Kultprostitution
hingeben. Heterosexuelle Frauen und Männer verkehren in sexuellen Ritualen
mit dem eigenen Geschlecht. Paulus bezeichnet dieses Tun als «Verirrung».
Paulus setzt Homosexualität gleich mit Knabenschändung und pseudoreligiösen
Kultpraktiken. Eine naturgegebene Veranlagung zur Homosexualität gibt
es für ihn nicht, auch eine personale, auf Liebe begründete Beziehung
zwischen zwei Männern ist für ihn unvorstellbar. Zu einer Liebesbeziehung
zwischen Männern oder Frauen nimmt Paulus keine Stellung, er verurteilt
Knabenschändung und Kultprostitution. Seine Aussagen auf eine heutige
Beurteilung zu übertragen heisst, den kulturellen und historischen
Hintergrund dieser Aussagen nicht zu beachten. Ähnlich sind die Stellen
in 1 Kor 11,13 und 1 Kor 14,34 zu werten, die von den Frauen eine Kopfverhüllung
und absolutes Redeverbot in Gottesdiensten fordern.
Von ihm gibt es überhaupt keine Aussage zur Homosexualität.
Aber: Das Herzstück der Lehre Jesu ist die Botschaft vom Reich Gottes.
In der Bergpredigt entfaltet er, wer ins Reich Gottes Einlass finden wird
und er zählt auf, welche Verhaltensweisen wegführen vom Reich
Gottes. Da lesen wir unter anderem vom Nichtschwören und vom Gebot
der Gewaltlosigkeit. Diese Forderungen sind so deutlich und sonnenklar.
Allerdings hat sich die Kirche an dieses von Jesus ausgesprochene und vorgelebte
Gebot selber nie gehalten. Hier waren die Kirchenmänner listig genug,
mit den fünf «Bedingungen für einen gerechten Krieg»
(Thomas von Aquin) eine Ausnahmeregelung zu finden, um Gewalt «gerecht»
anzuwenden. Inquisition, Zwangstaufen, Religionskriege usw. scheinen diesem
Gebot nicht widersprochen zu haben.
Unglaublich hartnäckig und menschenfeindlich hingegen sind die kirchlichen
Forderungen im Bereich der Sexualität. Zwangsläufig muss man sich
fragen, wieso die Gewaltlosigkeit von der Kirche nie eingefordert wurde,
bei der Sexualität aber eine unverständliche, unerbittlich rigorose
Haltung aufrecht erhalten wird. Das Schlüsselwort kann nur «Macht»
heissen. Die Kirchenleiter haben sich wohl gehütet, Kriege und Gewalt
als absolut nicht vereinbar mit der Botschaft Christi anzuprangern, denn
Gewalttaten nutzte die Kirche allzu oft selber in der ebenso langen wie
leidvollen Geschichte der vergangenen 2000 Jahre, um ihre Macht zu erhalten
oder auszudehnen. Um Macht geht es auch in den kirchlichen Forderungen im
Bereich der Sexualität. Denn diese sollen beim Menschen ein Gefühl
der Sündigkeit hervorrufen, um ihn erlösungsbedürftig in
die Arme der Kirche zu zwingen. Nur verkennen die Kirchenherren, dass junge
Menschen jegliche kirchliche Indoktrination abweisen, erstens einmal, weil
sie als mündige Menschen immer mehr lernen das zu tun, was sie mit
ihrem Gewissen vereinbaren können, und zweitens, weil sie die Doppelmoral
der Kirche längst schon entlarvt haben.
Jesus selber sagt nichts über die Homosexualität. Wäre sie
ihm ein Greuel und wäre homosexuelles Verhalten ein Hindernis auf dem
Weg ins Reich Gottes, gäbe es eine konkrete Aussage darüber. Dürfen
wir aufgrund der Lehre und des Lebens Jesu nicht viel eher davon ausgehen,
dass ihm keine Form von Zuneigung, Liebe, Verantwortungsgefühl und
Partnerschaft «sündig» erscheint, wenn sie aus dem Herzen
kommt, egal, ob diese Liebe zwischen MannFrau oder zwei Menschen des
gleichen Geschlechts besteht?
Die erste Verlautbarung, die sich ausschliesslich mit der Homosexualität
beschäftigt, erschien 1986. Dieses «Schreiben der Kongregation
für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche
über die Seelsorge für homosexuelle Personen» erklärt
unmissverständlich: «Einzig und allein in der Ehe kann der Gebrauch
der Geschlechtskraft moralisch gut sein. Deshalb handelt eine Person, die
sich homosexuell verhält, unmoralisch.»<7>
Das Dokument unterscheidet zwischen «Neigung» und «Verhalten».
Während der Neigung zur Homosexualität eine gewisse Entschuldigung
entgegengebracht wird, weil Neigungen grundsätzlich nicht sündhaft
sein können, wird die Handlung klar als Sünde bezeichnet<8>. Schwule und Lesben sind von der Kirche zur
Keuschheit verurteilt. Eine präpotente Anmassung ist die Aussage: «Wie
es bei jeder moralischen Unordnung der Fall ist, so verhindert homosexuelles
Tun die eigene Erfüllung und das eigene Glück, weil es der schöpferischen
Weisheit Gottes entgegensteht.»<9>
Natürlich stimmt es, ich finde nicht die ganze Erfüllung und das
ganze Glück in meiner schwulen Partnerschaft; betrachtet man aber die
Scheidungsraten, wird deutlich, dass die heterosexuelle Ehe ebenso keine
Garantie für Erfüllung und Glück ist. Auch wenn meine Beziehung
nicht nur aus Glück und Erfüllung besteht, so fühle ich mich
in meiner Haut und in der Beziehung zu dem Mann, den ich liebe, sehr wohl.
Im 1993 erschienenen «Weltkatechismus» wird unter den Passagen
Nrn. 23572359 inhaltlich zusammengefasst, was schon in früheren
Schreiben erklärt wurde. Schlecht sind homosexuelle Handlungen, weil
sie «gegen das natürliche Gesetz» verstossen und die «Weitergabe
des Lebens beim Geschlechtsakt ausgeschlossen» wird. Deshalb sind
sie «in keinem Fall zu billigen». Die Kirche beharrt darauf,
der Sexualität nur dann Geltung und moralische Akzeptanz zu geben,
wenn sie innerhalb der Ehe geschieht und offen für die Nachkommenschaft
ist. Immerhin findet sich im Weltkatechismus auch noch eine sinnvolle Aussage
über den Umgang mit Schwulen und Lesben, nämlich: «Man hüte
sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen.»<10> Nur, welche Relevanz hat ein solch einzelner
Satz nebst allen anderen verurteilenden Äusserungen, wenn zudem die
Interpretation, was als ungerechte Zurückweisung zu gelten hat und
was nicht, von der Purpur tragenden Kurie bestimmt wird?
Alle diese Verlautbarungen des katholischen Lehramtes<11>
sind für lesbische und schwule Menschen, die kirchliche Aussagen überhaupt
noch aufnehmen, nicht nur tief verletzend, sondern durch Urteile, die ihnen
eine Minderwertigkeit attestieren oder den Makel der Sünde aufdrücken,
diskriminierend. Schwule und Lesben haben die Wahl zwischen drei Möglichkeiten:
Erstens sie verdrängen ihre Sexualität und damit einen Teil ihres
Menschseins. Sicher kein Weg zu Glück und Erfüllung. Bedenkt man,
welch lebensbejahende Kraft der Sexualität erwächst, kann die
Negation der eigenen Triebdynamik nur zu Depressionen führen. Eine
zweite Möglichkeit besteht darin, sich mit einem Doppelleben und Heimlichtuerei
abzufinden, oder, dritte Möglichkeit, sich endgültig von der Kirche
zu verabschieden.
In der Gesellschaft finden lesbische Frauen und schwule Männer immer
stärkere Akzeptanz<12>, und junge
Menschen wachsen mit dem Wissen heran, dass menschliche Liebe und Sexualität
verschiedene Ausprägungen kennt. Eine Beziehung wird nicht mehr daran
gemessen, ob sie durch eine juridische Form oder sakramentale Handlung abgesegnet
ist, sondern daran, welche Rolle Werte wie Liebe, Partnerschaftlichkeit,
Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit, Verbindlichkeit und Dauerhaftigkeit spielen,
unabhängig davon, ob es eine schwule, lesbische oder heterosexuelle
Beziehung ist. Lesben und Schwule wünschen sich eine Gesellschaft und
eine Kirche, die sie nicht nur aus einer scheinbar toleranten Haltung existieren
lässt, sondern Menschen, die die Liebe zwischen zwei Frauen oder Männern
als gleichwertige Möglichkeit akzeptieren lernen. So fordert es auch
der Theologe Christian Käufl: «Homosexuelle Beziehung muss...
nicht erst gesondert begründet und gestattet werden, sondern sie ist
aufgrund des Menschseins Homosexueller ein Wert. Von daher bedarf es nicht
einer Bewertung des Phänomens an sich wie es auch keine Bewertung
der heterosexuellen Beziehung an sich gibt , sondern der Frage nach
der konkreten bzw. nicht vorhandenen Beziehung.»<13>
So verdächtig eifrig und defensiv, wie sich die Kirchenleitung an der
traditionellen Sexualethik festklammert, darf man wohl nicht einmal einen
Ansatz einer Richtungsänderung erwarten. Die Veränderung wird
von unten beginnen das heisst, sie hat bereits begonnen und
wird, wenn auch sehr langsam, doch stetig weiterschreiten. Frauen und Männer
in den Pfarreien wehren sich immer mehr gegen unmenschliche, anachronistische
Forderungen der Kirche, indem sie sie gar nicht mehr beachten. So habe ich
es auch in meiner Pfarrei erfahren. Evangelikale Kreise haben meine Entlassung
als Jugendarbeiter gefordert, weil sie mir eine Vorbildfunktion absprechen
und in mir eine Gefahr für die Jugendlichen sehen<14>.
Nur Dank grosser Unterstützung durch den Pfarreirat und die Kirchenvorsteherschaft
habe ich diesem Druck standhalten können. Mein Lebenspartner und ich
finden in unserer Pfarrei (und im Kleinstadtleben) Akzeptanz und Anerkennung.
Trotz einer gewissen Skepsis, ob es in sichtbarer Zukunft eine Veränderung geben wird, möchte ich abschliessend einige Wünsche an die Kirchenleitung anbringen, die es vielleicht eines Tages ermöglichen, ehrlich und ernsthaft miteinander ins Gespräch zu kommen:
Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen (Weisheit 11,24).
Gianfranco Christen ist Präsident von «Adamim. Verein Schwule Seelsorger Schweiz» (Postfach 8044, 3001 Bern).
1 Der Regenbogen ist für Lesben und Schwule Symbol für ein neues Selbstbewusstsein auf dem Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichberechtigung.
2 Lange Zeit galt der Begriff «schwul» als Schimpfwort gegen homosexuelle Männer. Inzwischen benutzen ihn selbstbewusste Homosexuelle selber und entziehen dem Begriff damit die negative Konnotation.
3 Ein Begriff aus der amerikanischen Befreiungsbewegung lesbischer und schwuler Menschen. Gemeint ist das Hervortreten von Lesben und Schwulen an die Öffentlichkeit.
4 Vgl. «Angst vor den Schwulen. Homosexualität unter katholischen Klerikern», in: Spiegel-Archiv 18/97, Seite 128f.
5 Ebd.
6 Interview mit Erzbischof Dr. Oskar Saier. SWF 1 Sonntagmorgen am Sonntag, 19. Januar 1997 zum Thema «Homosexualität und geistliche Berufe».
7 Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen vom 30. Oktober l986, Abschnitt 7.
8 In der «Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik» vom 29.12.1975 wird davor gewarnt, die «Neigung» der Homosexuellen als «natürlich» zu beurteilen, wenn daraus eine Rechtfertigung erfolgt für homosexuelle Lebensgemeinschaften. Vgl. Abschnitt 2.
9 Ebd.
10 Katechismus der Katholischen Kirche («Weltkatechismus»), München 1993, Nr. 2358.
11 Eine gute Zusammenstellung aller kirchlichen Dokumente zur Homosexualitäts-Debatte findet sich in: Jens Weizer, Vom andern Ufer. Schwule fordern Heimat in der Kirche, Düsseldorf 1995.
12 So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstitutes Link, die vor kurzem durchgeführt wurde, 68% der Befragten für eine registrierte Partnerschaft aus. Vgl. Bernhard Bircher, Kühlschrankfamilien, in: Die Weltwoche, Nr. 38 vom 23.9.1999.
13 Christian Käufl, in: «Werkstatt Schwule Theologie», 4. Jahrgang, 4/97, Seite 197.
14 Wann hören die Menschen endlich auf, Homosexualität mit Pädophilie zu verwechseln, die es bei Heterosexuellen genauso gibt!
15 Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute «Gaudium et Spes», Nr. 16. Zitiert aus: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Feiburg i.Br. 1979.
16 Ebd.