Wenn Gott verloren geht

(Bild: Mabel Amber/pixabay.com)

 

Die Sprache, die einmal ausschwang, Dich zu loben,
Zieht sich zusammen, singt nicht mehr
In unserem Essigmund (...)
Irgendwo anders hinter sieben Siegeln
Stehn Deine Psalmen neuerdings aufgeschrieben (...)
Mit denen, die Dich auf alte Weise
Erkennen wollen, gehst Du unsanft um.
Vor Deinen Altären lässt Du ihr Herz veröden,
In Deinen schönen Tälern schlägst Du sie
Mit Blindheit. Denen, die Dich zu loben versuchen,
Spülst Du vor die Füsse den aufgetriebenen Leichnam.
Denen, die anheben von Deiner Liebe zu reden,
Kehrst Du das Wort im Mund um, lässt sie heulen
Wie Hunde in der Nacht.
Du willst vielleicht gar nicht, dass von Dir die Rede sei.
Einmal nährtest Du Dich von Fleisch und Blut,
Einmal vom Lobspruch. Einmal vom Gesang
Der Räder. Aber jetzt vom Schweigen.
Unsere blinden Augen sammelst Du ein
Und formst daraus den Mondsee des Vergessens.
Unsere gelähmten Zungen sind Dir lieber
Als die tanzenden Flammen Deines Pfingstwunders,
Sicherer wohnst Du als im Gotteshause
Im Liebesschatten der verzagten Stirn.

 

Diese Zeilen trug Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) im Jahr 1951 aus ihrem «Tutzinger Gedichtkreis» bei einer Tagung in der gleichnamigen Akademie über Möglichkeiten heutigen religiösen Sprechens vor. Es handelt sich um ein Gebet als Antigebet, eine als Klagepsalm vorgetragene Reflexion über das Vertriebenwerden aus altvertrauten Gottesvorstellungen und hergebrachter religiöser Rede, die noch in der Auflehnung gläubig ist. Moderne Naturwissenschaft, Weltkrieg und Shoah erzwangen die Erkundung unerhört anderer Gottespräsenzen an befremdlichen Orten unter paradoxen Signalen ihres Gegenteils: «Dein Fernsein Deine Nähe, | Dein Zuendesein Dein Anfang, | Deine Kälte Dein Feuer, | Deine Gleichgültigkeit Dein Zorn.»

Christoph Gellner*

 

* Dr. theol. Christoph Gellner (Jg. 1959) ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer TBI in Zürich und nimmt Lehraufträge an den Universitäten Freiburg i. Ü., Luzern und Zürich wahr.

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Editorial

Frau ohne Leidenschaft
 

«Vor uns erstreckte sich nichts als ebener, harter Sand. Jamila zuckte kurz mit den zarten Ohren, und legte dann los: Die Vollblut-Araberstute glitt mit weitausgreifendem, weichem, kraftvollem Trab dahin, als trüge sie nichts, und wechselte mit zwei kleinen Hüpfern in einen Galopp, der alles übertraf, was ich jemals auf einem Pferd erlebt hatte. In scheinbar müheloser Perfektion flogen wir dahin, federnd, luftig, den Boden nur noch in grossen Abständen kurz berührend. Wind kühlte mein Gesicht, mein Herz füllte sich mit purer Freude und vollkommenem Glück!» Mein Gegenüber, dem ich dieses horizonterweiternde Ereignis in der jordanischen Wüste tief bewegt berichtete, brach unvermittelt in Tränen aus. Perplex fragte ich nach, mir keines Fehlers bewusst: «Du hast diese Leidenschaft mit den Pferden, die dich brennen lässt und dich mit gleissender Lebensfreude erfüllt, ich aber habe nichts, nicht das Geringste, was mich begeistert, mir Flügel wachsen lässt oder mich so gefangen nimmt, dass ich an nichts anderes mehr denken kann.» Und die Tränen flossen noch ergiebiger. Verzagt betrachtete ich diese 30-jährige, hübsche, erfolgreiche und sympathische Frau. Nie im Leben hätte ich von ihr solch eine Reaktion erwartet. Und ich hatte mir auch nie überlegt, was es heisst, keine Leidenschaft zu haben. Ich erkannte, wie begnadet ich doch bin. Nur: Was sollte ich nun meinem Gegenüber raten? «Siddhartha» von Hermann Hesse? Letzte Woche brach sie nach Marokko auf. Möge Gott ihr die Gnade erweisen.
 

Brigitte Burri