Szenenbild aus dem Film "Der Verdingbub" von Markus Imboden
Schweiz

Wiedergutmachungsinitiative: «Viele Betroffene spüren die Kirche nicht!»

Zürich, 25.6.15 (kath.ch) Der Bundesrat hat am Mittwoch, 24. Juni, einen indirekten Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative vorgelegt. Dieser sieht einen Solidaritätsfonds von 300 Millionen Franken für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor. Im Interview mit kath.ch äussert sich Guido Fluri, Begründer der Initiative, zum Gegenvorschlag und zur Mitverantwortung der Kirchen im Umgang mit den Opfern.

Sylvia Stam

Der Bundesrat hat sich am 24. Juni für einen Solidaritätsfonds von 300 Millionen Franken ausgesprochen. Er geht dabei von 12’000-15’000 Opfern aus, die Initiative von 20’000. Wie kommt es zu dieser unterschiedlichen Einschätzung?

Guido Fluri: Unsere Historiker sind von anderen Angaben ausgegangen als die des Bundesrates. Wir gehen immer noch davon aus, dass heute in der Schweiz 20’000 bis 25’000 Menschen an den Folgen der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen leiden. Wir hatten allein im letzten Jahrhundert gegen 500’000 Verdingkinder in diesem Land und es gab mehrere hundert Heimeinrichtungen.

Woran leiden diese Menschen heute noch?

Wenn ich diese Menschen besuche, stelle ich immer wieder fest, dass viele nicht über die traumatisierenden Erlebnisse reden können und wirklich vereinsamt sind. Sie können schlecht aus sich herauskommen und sich auch nicht gut ins soziale Leben integrieren. Das hat damit zu tun, dass sie in ihrer Kindheit menschliche Nähe nicht positiv erlebt haben. Es gibt einige ganz schwere Fälle, die sozusagen zerbrochen sind. Sie sind verwahrlost, sie müssen zum Teil mit 1700 Franken im Monat leben. Diese Menschen wollen aber oftmals kein Geld vom Staat annehmen.

Würden diese Menschen denn Geld aus dem Solidaritätsfonds annehmen?

Es gibt hier drei unterschiedliche Gruppierungen von Opfern: Es gibt Menschen wie die oben geschilderten, die von allem nichts wissen wollen. Diese Menschen haben teilweise ein grosses Misstrauen in den Staat und seine Institutionen. Dann gibt es solche, die offener sind, die das Geld annehmen würden und damit auch zufrieden wären. Und dann gibt es auch einzelne Opfer, denen ein Betrag von 20’000 Franken für die schwere Schädigung, die sie erlitten haben, nicht ausreichend erscheint.

Viele Heimeinrichtungen wurden unter christlicher Obhut geführt. Was erwarten Sie von den Kirchen?

Die Kirche – die katholische wie die reformierte – ist die moralische Instanz schlechthin. Sie gibt uns die Messlatte vor, nach der wir unser Leben führen sollen. Umso mehr muss sie jetzt, da es um die Aufarbeitung schwerster Missbrauchsfälle geht, an vorderster Front für eine umfassende Wiedergutmachung einstehen. Viele Opfer wurden in christlich geführten Institutionen missbraucht. Daraus resultiert eine grosse Verantwortung. Die Kirchenvertreter, die bei uns im Unterstützungskomitee sitzen, weisen hier den Weg, den die Kirche als Ganzes gehen muss.

Aber die Kirche ist ja in der Aufarbeitung der sexuellen Missbrauchsfälle aktiv geworden.

Rathausen und Fischingen (zwei kirchlich geführte Erziehungsheime, welche die Missbrauchsfälle aufgearbeitet haben, Anm.d.Red.) reichen nicht. Viele Betroffene sagen mir, sie spürten die die Kirche nicht! Die Sprache und Kultur der Kirche im Umgang mit den Missbrauchsfällen sind oftmals zu weit weg von den Betroffenen. Man kann nicht erwarten, dass die Opfer auf die Kirche zugehen, das ist für viele eine enorm hohe Hürde. Es braucht ein aktives Bemühen, an diese Menschen heranzukommen. Das wäre eine grosse Kraft.

Wird auch das Parlament den Vorschlag des Bundesrates stützen?

Ich habe das Gefühl, es wird eine Mehrheit geben für den Vorschlag des Bundesrates, aber man muss die Politiker abholen. Wenn mir ein Politiker sagt: «Ich musste morgens um vier Uhr auch beim Melken helfen und habe Schläge gekriegt, wenn ich schlechte Noten nach Hause brachte», dann halte ich ihm entgegen: «Sag das einer achtzigjährigen Frau, die mit 17 Jahren ein uneheliches Kind bekommen hat und sich hat unter Druck setzen lassen, dass sie sich sterilisieren lässt. Diesem Menschen hat man doch die Würde genommen!» Ich habe mit vielen Parlamentariern Gespräche geführt. Zentral sind die christlichen Parlamentarier, sie spielen eine Schlüsselrolle. Hier erhalten wir viel Unterstützung.

Falls das Parlament dem Vorschlag des Bundesrats zustimmt, werden Sie die Initiative dann zurückziehen?

Darüber lässt sich noch nichts Definitives sagen. Das zeitliche Argument ist ein gutes. Wenn der bundesrätliche Gesetzesvorschlag in beiden Räten durchkommt, können bis 2017 die ersten Zahlungen geleistet werden. Der Weg über die Initiative dauert eventuell drei bis fünf Jahre länger. Bis dahin werden Tausende von Opfern gestorben sein. Gleichzeitig kann es nicht sein, dass man auf dem Buckel der Opfer den Betrag herunterhandelt. Wir müssen daher abwarten, wie der weitere Prozess verläuft, bevor wir über einen Rückzug sprechen. (sys)

 

Artikel zum indirekten Gegenvorschlag des Bundes.

Stellungnahme von Justitia et Pax, der sozialethischen Kommission der Schweizer Bischofskonferenz, zum Gegenvorschlag des Bundes.

Szenenbild aus dem Film «Der Verdingbub» von Markus Imboden | © Ascot Elite
25. Juni 2015 | 15:12
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Guido Fluri, Begründer der Wiedergutmachungsinitiative |  © zVg Guido Fluri, Begründer der Wiedergutmachungsinitiative | © zVg

Guido Fluri, Begründer der Wiedergutmachungsinitiative

Nationales Kirchenopfer für den Soforthilfe-Fonds am 16. August!

Zur Linderung des Unrechts gibt es bereits jetzt einen Soforthilfe-Fonds. Diesen tragen auch die Kirchen mit. Die Schweizer Bischöfe haben darum für Sonntag, den 16. August, ein nationales Kirchenopfer beschlossen. Es soll nicht nur Geld für Geschädigte, die sich in einer finanziell schwierigen Situation befinden, gesammelt, sondern auch das Bewusstsein geschärft werden, dass in der Vergangenheit auch in kirchlichen Institutionen viel Leid geschah. Gleichzeitig soll es aber auch daran erinnern, dass die Sorge um die Menschen, gerade die Schwächsten, eine immer dauernde Aufgabe und Herausforderung für die Kirche ist. (Justitia et Pax, sozialethische Kommission der Schweizer Bischofskonferenz)