Symbolbild Borderline
Schweiz

Tag der Kranken: Wie gehen Kirchen mit psychisch Kranken um?

Zürich, 28.2.15 (kath.ch) Die IV scheitere oft bei der Integration psychisch kranker Menschen, titelte der Tages-Anzeiger diese Woche. Der Bundesrat möchte daher die Betreuung psychisch Kranker verstärken. Zum Tag der Kranken publiziert kath.ch ein Interview mit einer Boderline-Betroffenen, welche auch die Kirchen zu mehr Mut im Umgang mit psychisch Kranken auffordert.

Sylvia Stam

Sie haben die Diagnose Borderline. Was heisst das?

Selina Huber: Man bezeichnet damit eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung. Das äussert sich bei Betroffenen sehr unterschiedlich. Ein Symptom, das wohl die meisten kennen, sind extreme Stimmungsschwankungen: Aus geringem Anlass kann es einem auf einmal sehr schlecht gehen. Wenn beispielsweise ein Mensch, der mir sehr wichtig ist, nicht zu einem abgemachten Termin kommen kann, kann das bei mir eine heftige Krise auslösen. Ich fühle mich dann von dieser Person völlig im Stich gelassen.

Was geht in solchen Momenten konkret in Ihnen vor?

Huber: Ich habe einerseits grosse Ängste. Damit wiederhole ich alte Kindheitserfahrungen, dass ein Mensch mich im Stich lassen wird. Gleichzeitig bin ich mir darüber im Klaren, dass ich solche alten Ängste wiederhole und hasse mich dafür. Dieser Selbsthass geht bei mir so weit, dass ich finde, ich hätte Strafe verdient. Den Druck, den ich habe, weil ich mich so allein gelassen fühle, kann ich loswerden, indem ich mich selber verletze, durch Kratzen, Ritzen oder Schlagen.

Kommt das häufig vor?

Huber: Solche Gedanken, dass ich Strafe verdient hätte, habe ich alle paar Tage. Der Wunsch, mich selbst zu verletzen, tritt unter Umständen ziemlich schnell auf. Aber ich habe inzwischen gelernt, damit umzugehen, sodass ich es nur noch sehr selten tue.

Was hilft Ihnen, wenn es Ihnen schlecht geht?

Huber: Einerseits mache ich eine Therapie, daneben sind im Alltag so genannte «Skills» hilfreich. Das sind Tätigkeiten, die verhindern, dass ich mir selber schädige. Zum Beispiel kann ich einen Igelball in der Hand drücken, das tut ziemlich weh, aber es verletzt nicht. Im Winter nehme ich Eis oder Schnee in die Hand.

Eine andere Ressource ist die Religion, das Beten. Ich stelle mir Jesus vor, wie er mich sieht. Und Jesus ist mir ja gut gesinnt. Selbst wenn ich mich selber hasse, kann ich mir das vorstellen. Therapeutisch gesprochen ist das eine Imagination.

Sie nehmen auch seelsorgerliche Gespräche in Anspruch. Was müssen Seelsorger im Umgang mit Ihnen beachten?

Huber: In solchen Gesprächen ist es für mich wichtig, dass Seelsorger erkennen, wann ich tatsächlich überfordert bin, und mir das dann auch glauben. Selbst wenn das manchmal spirituellen Grundprinzipien widerspricht. Es gibt zum Beispiel Situationen, in denen ich sage: «Ich brauche unbedingt Kontakt zu Person X.» Eine übliche seelsorgerliche Reaktion ist dann: «Es kann sein, dass die Person sich meldet, es kann aber auch sein, dass sie sich nicht meldet. Du musst offen sein.» Offenheit für das Wirken Gottes ist ein spiritueller Grundsatz, und im Prinzip kann ich dem auch zustimmen. Aber wenn ich in einer Situation bin, wo ich sage: «Ich brauche das unbedingt!», bringt es mich in grosse Not, wenn ich dann auch noch aufgeladen bekomme: «Du musst jetzt aber offen sein!». Das führt dazu, dass ich mich auch noch dafür bestrafe, dass ich nicht offen sein kann.

Was wäre denn eine hilfreiche Reaktion in dieser Situation?

Huber: Mein Gegenüber müsste anerkennen, dass ich in dem Moment nicht offen sein kann, und zum Beispiel sagen: «Dann bete dafür und vertrau darauf, dass du bekommst, was dir so wichtig ist.» Ich glaube, dass Gott akzeptiert, dass ich nicht immer so denken kann, wie man als spirituell reifer Mensch denken sollte.

Gibt es von kirchlicher Seite her Angebote für psychisch Kranke?

Huber: Ich finde Citykirchen ungeheuer wertvoll. Da kann man unangemeldet zu einem Gespräch auftauchen. Das hat mir schon oft weitergeholfen. Angebote eigens für psychisch Kranke kenne ich nicht. Es gibt jedoch immer wieder spirituelle Angebote, wo gesagt wird, dass sie nicht geeignet seien für psychisch Kranke, zum Beispiel kontemplative Exerzitien. Das ist auch nicht ganz unberechtigt. Ich würde mir jedoch wünschen, dass die Kirche realisiert, dass auch Menschen, die von einer psychischen Krankheit betroffen sind, spirituelle Bedürfnisse haben und einen eigenen spirituellen Weg gehen. Dass uns der nicht abgesprochen wird.

Was für Angebote könnte denn die Kirche machen?

Huber: Gottesdienste für psychisch Kranke, in denen Rücksicht genommen wird auf deren Begrenzungen. Manchmal höre ich Predigten, in denen, im Versuch zu trösten, das Jenseits positiv dargestellt wird. Das ist für jemanden, der öfter unter Suizidgedanken leidet, sehr schwierig, weil er ja gerade hofft, dass es im Jenseits schöner ist. Man müsste das verbinden mit der Vorstellung, dass das Reich Gottes schon hier ist. Dass Gott hier und jetzt gegenwärtig ist und mir helfen kann.

Besinnungstage für Psychiatrie-Erfahrene fände ich genial! Wir sind ja nicht weniger religiös als die Durchschnittsbevölkerung. Ich würde es auch sehr hilfreich finden, mich mit anderen Betroffenen explizit über meinen Glauben und meine Störung austauschen zu können.

Sie möchten anonym bleiben. Was wäre nötig, damit Vorurteile abgebaut werden können und Sie sich nicht mehr verstecken müssten?

Huber: Eine differenziertere Sicht von psychischer Krankheit. Natürlich gibt es psychisch Kranke, die wenig belastbar sind. Aber es gibt auch Betroffene, die erfolgreich im Beruf arbeiten. Die Psychologieprofessorin Marsha Linehan, die eine der ersten wirksamen Borderline-Therapien entwickelt hat, hat öffentlich gemacht, dass sie selbst an Borderline litt. Selbst vielen Menschen im kirchlichen Dienst ist nicht bewusst, dass sie vermutlich einige Menschen mit psychischen Erkrankungen kennen und gar nichts davon bemerken, nicht zuletzt, weil diese aus Angst vor Stigmatisierung ihr Leiden geheim halten. (sys)

*Name von der Redaktion geändert.

 

Borderline

Borderline bedeutet eine tiefe Beeinträchtigung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen. Betroffene geraten schnell in heftige Gefühlszustände, die sie häufig schwer kontrollieren können. Als Ursache werden unter anderem Traumatisierungen in der frühen Kindheit angenommen. Der Begriff «Borderline» (Grenzlinie) kam auf, weil man diese Störung fälschlicherweise zwischen Neurosen und Psychosen ansiedelte. Bei Borderline handelt es sich jedoch um eine eigenständige Krankheit. Laut Angaben der Schweizerischen Stiftung «Pro Mente Sana» leiden ein bis zwei Prozent der Bevölkerung an einer Borderline-Störung, zwei Drittel davon sind Frauen.

 

Symbolbild Borderline |© Barbara Rüesch, Pro Mente Sana
28. Februar 2015 | 14:41
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