Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg
Schweiz

Sehnsucht nach Heimat und Sinn

Lenzburg AG, 4.12.17 (kath.ch) Das Stapferhaus im aargauischen Lenzburg lud unter dem Titel «Glaube als Heimat: Zwischen Bedürfnis und Bedrohung» den Theologen Thomas Wallimann-Sasaki und den Imam Sakib Halilovic zur Diskussion ein. Ein Eindruck aus diesem Gespräch: Heimat ist ein zartes Geschöpf.

Vera Rüttimann

Tee zur Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg | © Vera Rüttimann

Über dem Kulturhaus an der Ringstrasse West 19 thront ein 32-Meter-Riesenrad. Es ist das Symbol  der aktuellen Ausstellung «Heimat. Eine Grenzerfahrung» im Stapferhaus, die den Begriff Heimat und die damit verbunden Erinnerungen, Gefühle und Sehnsüchte ausleuchtet. Das sich drehende Fahrgeschäft weckt Assoziationen: Im Besucher steigen Gefühle hoch über verlorene Heimat, aktuelle Heimat und eine solche, die sich vielleicht erst zaghaft am Horizont abzuzeichnen beginnt. Besucher dieses Ortes finden am Eingang einen Heimweh-Tee, abgepackt in unterschiedliche Mischungen.

Glaube, der Sinn des Lebens

Als die gut zwei Dutzend Besucher am 3. Dezember das grosse Tor mit der poetisch-leuchtenden «Heimat»-Leuchtschrift durchschritten, spürten sie beim Ankommen, dass dieses Gefühl Menschen ganz unterschiedlicher Religionsgemeinschaften umtreibt. Immer weniger Leute, so Moderator Alain Gloor, seien Mitglied einer Kirche. Dennoch gebe es viele Menschen, für die der Glaube ein grosses Bedürfnis sei. Dass der Glaube für viele nicht nur Bedürfnis, sondern geradezu Heimat sei, das bestätigten der Theologe und Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki und Sakib Halilovic, Imam der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies, in einer anregenden Diskussion.

Das Gefühl von Heimat treibt ganz unterschiedliche Menschen um.

Sakib Halilovic, der auch im Vorstand der Vereinigung islamischer Organisationen von Zürich (VioZ) tätig ist, sagte: «Für uns Muslime ist der Glaube ein Bedürfnis. Das entspricht dem Glauben des Islams, nach dem der Mensch mit dem Glauben auf die Welt kommt.» Nach der islamischen Lehre gebe der Glaube den Menschen den Sinn des Lebens. Das Bedürfnis nach Glaube und Sinn begegne ihm auch bei seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger, bei Menschen, die in ihrem Leben einen Fehler gemacht hätten. Aber auch dann, wenn etwas Schönes passiert. Sakib Halilovic: «Gläubige Menschen haben dann das Bedürfnis, sich bei Gott dafür zu bedanken.»

Wie ein verstimmtes Orchester

Doch Heimat ist nicht nur ein Gefühl, sondern hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Heimat kann auch durch Religion bedroht werden. Wenn Religion zur Bedrohung werde, so Thomas Wallimann-Sasaki, dann sei eine Beziehungsstörung vorhanden. Der Dialog komme nur schwer in Gang. Der Sozialethiker, der weiss, dass Religion wärmen, aber auch andere verbrennen kann, unterstrich: «Um das Spannungsverhältnis konstruktiv pflegen und gestalten zu können, muss der einzelne wie in einem Orchester sein Instrument vorher stimmen, um mit anderen zu musizieren.» Ohne genaues Hinsehen, differenzierte Argumentation und Offenheit gehe es nicht. Der einzelne lebe immer in der Spannung zwischen sich, der Religionsgemeinschaft und der Welt.

Religion kann wärmen, aber auch verbrennen.

Moderator Alain Gloor fragte in diesem Kontext: Ist der Islam für Christen eine Bedrohung? Sakib Halilovic verneinte entschieden. Er beklagte das in den Medien vermittelte negative Bild über den Islam. Muslime kämen nicht als Attentäter zur Welt. Von islamischen Terroristen, betonte Halilovic, «fühlen sich nicht nur Christen bedroht, sondern auch die Muslime selbst».

Doch auch innere Richtungskämpfe können für Gläubige Heimatverlust bedeuten. Als Beispiel wurde hierfür die Frage diskutiert, ob Frauen katholische Priesterinnen oder Imamin werden dürfen. Thomas Wallimann-Sasaki weiss: «Wenn wir über Heimat sprechen, spielen stets auch die Faktoren Macht und Einfluss hinein.»

Spiritualität, die handelt

Wie kann es sein, fragte der Moderator, dass die Gesellschaft immer säkularer wird, und dennoch Themen wie Spiritualität und Religion boomen? Wenn jemand die Kirche verlasse, antwortete Sakib Halilovi, dann bedeute dies oft nicht, dass diese Person seinen Glauben nicht mehr ausübe. Der Imam sagte: «Sie sind von Strukturen enttäuscht, nicht aber von Gott.» Sinnfragen seien für solche Menschen weiterhin wichtig.

Menschen sind von Strukturen enttäuscht, nicht von Gott.

Thomas Wallimann-Sasaki sieht dies genauso. Im Unterschied zu früheren Zeiten jedoch, als junge Menschen in ihrer Kindheit automatisch durch die kirchliche Sozialisation mit dem Thema Religion in Berührung gekommen seien, müssen sie sich, so der Sozialethiker, heute selber auf die Suche nach Sinn und Personen machen, die ihnen ihre Fragen beantworten. Daher sei das Thema Spiritualität für viele ein Grundbedürfnis. Im Idealfall hülle sie wie ein warmer Mantel ein und spende Heimat.

Spiritualität wird für Wallimann-Sasaki jedoch nur glaubwürdig, «wenn sich der einzelne darin nicht selbstbezogen verliert, sondern sie mit konkretem Handeln verbindet.»

Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg | © Vera Rüttimann
4. Dezember 2017 | 18:16
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