Lison Schwartz
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Lison Schwartz – Jüdin, Israelin und «nostalgische Schweizerin»

Jerusalem, 1.3.15 (kath.ch) Die Abendsonne neigt sich über der kleinen Sackgasse. Ein Fussweg an ihrem Ende führt in Richtung St. Simon-Park und St. Simon-Kloster, das dem Viertel im Südwesten Jerusalems seinen Namen gab. Katamon, «unterhalb des Klosters», ist ein ruhiges Quartier. Viele Schweizer wohnen hier, sagt Lison Schwartz. Alle zwei bis drei Monate trifft man sich zum Bücherclub. Deutschsprachige Literatur ist nicht so leicht zu finden in Jerusalem, und auch nach 34 Jahren liest die gebürtige Baslerin am liebsten auf Deutsch. «Die Sprache», sagt sie, «ist wunderschön», und überhaupt «ist die eigene Muttersprache etwas sehr besonderes». «Die Mendelssohns. Bilder aus einer deutschen Familie» liegt zuoberst auf dem Bücherstapel neben ihr.

Andrea Krogmann

Lison Schwartz ist 19, als sie Basel verlässt, um nach «Eretz Israel» zu ziehen. Das war 1971. Zu denen, die ihren Entschluss nie infrage gestellt hätten, gehört die zierliche Jüdin in dem dicken Norwegerpulli nicht. Die «Überzeugung zu bleiben» war immer da, zurück in die Schweiz «nie wirklich ein spruchreifes Thema». Trotzdem denkt sie bis heute immer wieder mal über den Entscheid nach. «Vor allem, wenn es hier so gefährlich wird, fragt man sich schon. Die Gefahr ist hier in Israel immer präsent, und vieles hier ist kompliziert». Lison Schwartz hält inne. «In der Schweiz auch», sagt sie nachdenklich, und letztlich «ist der Alltag vermutlich überall ähnlich».

Viel hat sich seit 1971 verändert, in der Schweiz und auch in Israel. «Vielleicht haben sie sich ein bisschen angenähert», sagt Lison Schwartz, «oder habe ich meine Erwartungen verändert?» Ihre ruhige Stimme wird nur unwesentlich energischer, als sie auf Hebräisch ein Telefonat beantwortet. «Manchmal dauert es hundert Jahre, bis man weiss, ob eine Entscheidung richtig war», zitiert Lison Schwartz eine Berliner Zufallsbekanntschaft. «Quasi wie Nathan der Weise. Die richtige Religion ist diejenige, die noch in hundert Jahren vor Gott und den Menschen gut ist.»

«Nicht an die grosse Glocke»

Religiös sein, das war in Basel nie ein Problem, sagt Lison Schwartz. Dunkle Ponysträhnen rahmen das Gesicht, die restlichen Haare verdeckt eine verspielte Baskenkappe. «Aber das Jüdisch-Sein, das hat man nicht an die grosse Glocke gehängt, man musste immer ein bisschen vorsichtig sein. Man bemühte sich, um ja korrekt und in Ordnung zu sein.» Lison Schwartz spricht vom «Trauma der Schoah», in dem sie aufgewachsen ist, davon, dass man «ja nie wusste, ob so etwas nicht auch in der Schweiz passieren wird» und von «so etwas wie einem Modetrend» unter der Schweizer jüdischen Jugend, nach Israel auszuwandern.

Lison Schwartz wanderte mit. Machte in Jerusalem ihren ersten und zweiten Universitätsabschluss. Sonderpädagogik und Französisch. In den Sommerferien und an Pessach fährt die Studentin «wieder nach Hause», weiss, «man kann immer wieder zurückfahren, wenn man will». Mit der Zeit werden die Besuche in der Schweiz weniger, dafür kommen die Eltern häufiger nach Israel, «vor allem als die Kinder da sind, so wird man mit der Zeit fester hierher gebunden». Lison Schwartz ist angekommen in Israel. Unterrichtet als Sonderpädagogin an acht Schulen, schreibt Bücher über die von ihr entwickelte Methode des Lesenlernens.

Postkartenschweiz

«Heute», sagt die Israelin, «bin ich eine nostalgische Schweizerin, die gerne zurück in die Ferien geht». Der Postkartenkalender vom verschneiten Engadin steht auf dem Klavier, «auch wenn es immer Sommer ist, wenn wir ins Engadin fahren». Zu viele schöne Erinnerungen verbindet sie mit dem Land, in dem «die Eltern und viele Menschen gelebt haben, die ich gern hatte». Naiv ist die Auswanderin bei aller Nostalgie für das Land ihrer Kindheit nicht: «Als ich ging, war alles Gold was glänzte. Die Probleme, die es ja auch in der Schweiz heute gibt, habe ich nicht erlebt, und im Rückblick glänzt alles nochmal mehr!» Dass sich die Lage hier in Israel einmal so verschärfen könnte, dass sie gehen müsste, «das ist meine einzige Sorge».

Manches vermisst die Baslerin in Israel. Das unbeschwerte Wandern zum Beispiel, «ohne Angst vor Terroristen». Regeln und Gesetze, die «allgemein anerkannt sind», und nicht «wie hier der Ausgangspunkt von Verhandlungen». Die Auswahl an Kinderbüchern. Das Gros der Kinderbücher in Lison Schwartz’ Wohnzimmer sind deutsch – auch wenn Enkel und Schwiegertöchter gar kein Deutsch sprechen. Das Basteln, «dafür gibt es in den anderen Sprachen nicht mal so recht ein Wort».

Lison Schwartz ist «sehr stolz auf die Juden im Ausland», die sich von Benjamin Netanjahus Auswanderungsaufrufen nicht beeindrucken lassen und «lieber selber entscheiden.» Auch Netanjahus Idee von einem «jüdischen Staat» steht sie kritisch gegenüber. Warum müsse das Judentum plötzlich herhalten für politische Aussagen, und was überhaupt versteht Netanjahu als jüdisch? «Bei uns», sagt sie, «war Religion etwas rein Theologisches. Hier hingegen findet man heute kaum jemanden religiöses, der nicht rechtspolitisch ist, auch die Verbindung zum Land und zum Zionismus ist sehr nahe, wenn nicht Teil der Religion. Wir sind nicht so aufgewachsen und ich bin mit dieser Art Religion hierhergekommen, die ich in der Schweiz bekommen habe.»

«Hätte ich lieber nichts gesagt»

Wenn heute einer ihrer Söhne vor der Frage steht, ob er zurück in seine israelische Heimat kehren soll oder doch lieber in Amerika eine Zukunft suchen soll, stellt das Lison Schwartz vor ein gewisses Dilemma. Dass sie ihn gern wieder bei sich hätte, das merkt man ihr an. Beeinflussen will sie ihn nicht, dafür ist die Lage in der Region zu unsicher. «Die Verantwortung will ich nicht übernehmen. Ich will nicht eines Tages denken müssen: ‘Hätte ich lieber nichts gesagt!’.» Lison Schwartz bedauert, dass die Sicherheitsfragen in Israel einen so prominenten Platz einnehmen. Für andere wichtige Fragen, wie etwa den Umweltschutz, bleibt da wenig Raum. Auch Erziehung oder Bildung schaffen es selten auf Platz 1, sagt sie und erinnert sich an ihre Schweizer Schulzeit, den guten Geschichtsunterricht, die Literatur.

Da sind sie wieder, die Bücher. Lison Schwartz nimmt einen gravierten Holzquader in die Hand, Andenken an eine Installation des Goethe-Instituts an der letzten Jerusalemer Buchmesse im Februar. Es trägt ein Zitat des österreichischen Schriftstellers Alfred Polgar, der als Jude nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten über Prag, Zürich, Paris, Spanien und Lissabon in die USA floh. Polgar starb 1955 in Zürich. Bis zu seinem Lebensende schrieb er in seiner Muttersprache. Lison Schwartz Finger streichen über die Buchstaben im Holz. «Je länger man in der Fremde lebt, desto fremder wird sie.» (ak)

 

Lison Schwartz | © 2015 Andrea Krogmann
1. März 2015 | 08:05
Lesezeit: ca. 4 Min.
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