Zenagebriel Haile
Schweiz

Junger Eritreer in der Schweiz: «Ohne ihren Glauben wären viele eritreische Flüchtlinge psychisch krank»

Zürich, 7.9.15 (kath.ch) Zenagebriel Haile (27) ist Eritreer, gläubiger Katholik und in der Schweiz «vorläufig aufgenommen». Im Interview mit kath.ch erzählt er, wie sein Glaube ihm hilft, mit den schwierigen Erfahrungen auf der Flucht und als Heimatloser umzugehen.

Sylvia Stam

Warum sind Sie aus Eritrea geflohen?

Zenagebriel Haile: Die politische Situation in Eritrea ist schlecht. Es herrscht eine Diktatur, das Bildungssystem ist mangelhaft. Die Männer werden sozusagen zu einem lebenslangen Militärdienst gezwungen. Im Militär erhält man einen monatlichen Sold von etwa zehn Franken. Damit kann man keine Familie ernähren.

Sie sind mit einem Boot über das Mittelmeer gekommen. Was haben Sie unterwegs erlebt?

Haile: Wir sind von Libyen mit einem Schlauchboot übers Mittelmeer gefahren. In dem Boot, das für maximal zehn Personen berechnet war, sassen 27 Personen, 78 Stunden lang. Eines Abends ist der Motor kaputt gegangen. Die Wellen trieben uns zurück. Wir sahen nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder wir sterben oder wir werden vom libyschen Militär ins Gefängnis gebracht.

Wie haben Sie das ausgehalten?

Haile: In dieser Nacht haben wir gebetet. Am nächsten Morgen war ein kleines Wunder geschehen: Der Motor funktionierte wieder! Unser Käpt’n meinte, vielleicht sei am Vorabend Luft im Motor gewesen. Für mich persönlich war das ein Wunder. Wir hätten das Gleichgewicht verlieren und alle ertrinken können! Ich konnte damals noch nicht schwimmen, heute kann ich es. Kurz vor Lampedusa haben uns dann die italienischen Rettungskräfte aufgegriffen.

Waren Familienmitglieder bei Ihnen?

Haile: Meine Schwester war bis Italien mit mir unterwegs. Sie hatte ihre dreieinhalbjährige Tochter dabei. Nach der Überfahrt über das Mittelmeer habe ich mir gedacht: Jesus liebt Kinder. Weil das Kind mit uns war, hat Gott uns gerettet, sage ich mir.

Ein anderer Neffe, der Sohn meines Bruders, ist in Libyen gestorben. Sie waren sechs Tage und Nächte auf dem Meer und hatten nichts zu trinken. Das Kind hat Meerwasser getrunken und ist gestorben.

Dann liebt Jesus also nicht alle Kinder?

Haile: Doch! Ich kann nicht sagen, warum Gott das tut. Gott ist nie böse zu uns. Gott hat seine Gründe, warum er das Kind zu sich geholt hat. Ich kann das auch nicht vergleichen, weil sie viel länger auf dem Meer waren. Ich bin sicher, dass das Kind, das ohne Sünde ist, ins Paradies kommt. Für die Eltern ist es allerdings sehr traurig. Meinerseits bin ich Gott sehr dankbar dafür, dass ich gerettet wurde. Man muss dankbar sein, wie bei Hiob.

Inwiefern ist Hiob hier ein Vorbild?

Haile: Hiob ist ein Vorbild in schwierigen Situationen. Er hat gesagt: «Gott gibt und Gott nimmt.» Manchmal ist man traurig und vergisst, was Gott für Pläne hat, und fragt sich: «Warum gerade ich?» Aber das ist der Moment, in dem man wütend ist. Wenn man ein wenig überlegt, versteht und akzeptiert man das als Gläubiger.

Sie sind römisch-katholisch. Wie leben Sie Ihren Glauben in der Schweiz?

Haile: (lacht)Ich bin kein perfekter Mensch, auch ich mache Fehler. Aber ich tue, was ich kann. Im Moment bete ich zwar täglich kurz, aber ich lese selten in der Bibel. Sonntags besuche ich den Gottesdienst, wenn ich nicht arbeiten muss.

Sie engagieren sich ausserdem in der eritreischen Guthirt-Gemeinde in Zürich.

Haile: Samstags haben wir in der Gemeinde jeweils drei Stunden Programm, vor allem für die Jugendlichen. Eine Stunde machen wir Bibelaustausch und zwei Stunden bereiten wir die Lieder für Sonntag vor. Einmal im Monat haben wir eine Messe mit dem eritreischen Priester Mussie Zerai. Sonst leiten wir den Wortgottesdienst selber, wir sind drei bis vier drei gläubige Laien, die die Predigt halten können oder ein Rosenkranzgebet anleiten.

Woher haben Sie dieses Wissen?

Haile: In Eritrea war ich sehr aktiv in der Kirche und habe viele Kurse bei Schwestern und Priestern besucht. Es gab Gebetstage, wo man auch lernte, Predigten zu halten. Ich lese aber auch die Bibel und interessiere mich für theologische Fragen. Ich möchte nächstes Jahr ein Online-Fernstudium in Theologie machen.

Sind die Erfahrungen auf der Flucht Thema im Gottesdienst?

Haile: Ja. Viele verarbeiten innerlich, direkt mit Gott. Im Gottesdienst gibt es Fürbitten. Wenn wieder ein Unglück in der Sahara oder im Mittelmeer passiert und ein Boot mit 250 Menschen sinkt, dann nehmen wir uns Zeit und beten für diese Menschen, zünden eine Kerze an.

Haben Sie manchmal Heimweh?

Haile: Ja. Ich habe noch Hoffnung für mein Land, ich gebe nie auf. Mein einziger Wunsch ist, dass es in Eritrea friedlich wird, damit ich zurück zu meiner Familie kann. Wenn das nicht möglich ist, will ich zumindest, dass meine Mutter mich hier einmal besuchen kann. Ich denke immer noch jeden Tag: «Meine Familie ist am Verhungern. Mein Bruder ist im Militär, er hat keine Ruhe, er hat nicht immer einen vollen Bauch.» Das denkt jeder Eritreer hier. Wenn sie nicht gläubig wären, wäre die Hälfte von ihnen psychisch krank. Darum hilft der Glaube sehr.

Trotz allen Problemen bin ich dankbar. Ich hatte Freunde und Angehörige, die das gleiche Ziel hatten wie ich, aber sie haben es nicht erreicht. Ihnen wurden Organe entnommen, die verkauft wurden, oder sie sind im Gefängnis, andere sind in der Sahara oder im Mittelmeer umgekommen. Darum bin ich sehr dankbar, dass ich noch am Leben bin und helfen kann, was ich helfen kann. Gott hat einen Plan mit mir, sage ich mir. (sys)

Separat:

Zenagebriel Haile (27) hat vor bald sieben Jahren in der Schweiz Asyl beantragt und ist «vorläufig aufgenommen». Er wohnt in Zürich, spricht fliessend Deutsch und arbeitet als Pfleger in einem Altersheim in Horgen ZH. Haile ist Präsident der eritreischen Guthirt-Gemeinde Zürich, zu der rund 350 Gläubige aus den Kantonen Zug und Zürich gehören. In dieser Funktion hält er Predigten, leitet den Chor und organisiert die Jahresplanung für die Gemeinde. Er möchte seine Ausbildung zum Fachmann Gesundheit abschliessen und später eine Familie gründen.

Hinweis für Redaktionen: Zu diesem Beitrag sind beim Katholischen Medienzentrum kostenpflichtige Bilder erhältlich. Bestellungen sind zu richten an redaktion@kath.ch. Kosten für einmaliges Nutzungsrecht: Erstes Bild CHF 80.-, ab zweitem Bild zum gleichen Anlass/Thema CHF 60.-.

Eritreischer Priester: «Wir beten auch für die, die uns helfen»

Flüchtlinge: Caritas vertraut auf staatliche Strukturen und plant langfristige Hilfe

 

 

 

Zenagebriel Haile | © 2015 Sylvia Stam
7. September 2015 | 16:02
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!